Im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Moltke und Yorck im Konflikt um die Grundlagen des Staates.

Über die Zielsetzung des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus wird nach wie vor gestritten – in der Regel aus der Perspektive der Nachlebenden, die angesichts der zuweilen tief im 19. Jahrhundert wurzelnden vorkonstitutionellen Grundvorstellungen des Widerstands bezweifeln, dass der Umbruch als Folge eines gelungenen Anschlags auf Hitler wirklich die viel beschworene Neuordnung aus dem Widerstand gebracht hätte.[...]

Im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Moltke und Yorck im Konflikt um die Grundlagen des Staates[1]

Von Peter Steinbach

Über die Zielsetzung des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus wird nach wie vor gestritten – in der Regel aus der Perspektive der Nachlebenden, die angesichts der zuweilen tief im 19. Jahrhundert wurzelnden vorkonstitutionellen Grundvorstellungen des Widerstands bezweifeln, dass der Umbruch als Folge eines gelungenen Anschlags auf Hitler wirklich die viel beschworene Neuordnung aus dem Widerstand gebracht hätte.[2]Dabei beziehen sich Kritiker in der Regel auf die außenpolitischen Vorstellungen der Regimegegner, die in den Strukturen des nationalstaatlichen Hegemonialdenkens verhaftet waren. Weniger fragten sie nach den theoretisch geklärten und akzeptierten Staatsvorstellungen einer neu geordneten Gesellschaft, die sich auf Prinzipien bezog, die sich in der Folgezeit als die Grundlage der Demokratie in Europa herausstellen sollten. Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Wahlrecht als Ausdruck der Volkssouveränität und Respekt vor der Vielfalt der europäischen Traditionen, Kulturen und Gesellschaften galten im bürgerlichen Widerstand ohne Zweifel als unverzichtbare Prinzipien, die im Zuge einer postdiktatorischen Neuordnung zu verwirklichen allerdings voraussetzte, die Staatsorientierung der deutschen Gesellschaft zu überwinden und einer politischen Theorie Raum zu geben, die in England mit Locke als Civil Society bezeichnet wurde.

Helmut James Graf von Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg orientierten sich beide, jeder für sich, an diesen Prinzipien. Moltke hatte die englische Theorie der Civil Society in seiner Oxforder Studienzeit kennen gelernt und später mit der Konzeption der „Kleinen Gemeinschaften“ verbunden, die auf den Gedanken der kommunalen Selbstverwaltung verwiesen. Yorck fußte geistig stattdessen im deutschen Staatsdenken und war geneigt, dem Staat selbst eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der deutschen Gesellschaft zuzusprechen. Der Konflikt zwischen beiden, die man als Herz und Kopf jener Widerstandsgruppe bezeichnet hatte, die von der Gestapo nach dem 20. Juli 1944 „Kreisauer Kreis“ genannt wurde, haben so früh wie kaum andere Angehörige des Widerstands die Auseinandersetzung um die prinzipielle Grundlegung einer neuen Ordnung begonnen.

Obwohl wegen der Verfolgung des Widerstands durch die Gestapo die überlieferten Quellen dürftig sind, ist der Beginn der Kontroverse gut nachvollziehbar. Denn es sind einige frühe Briefe dieser beiden Kreisauer im Besitz von Freya von Moltke erhalten geblieben. Sie spiegeln mehr als den Austausch kontroverser Meinungen. Diese Briefe stammen aus dem Sommer 1940 – damals waren die meisten Deutschen von Hitlers militärischen Erfolgen wie dem Sieg über Frankreich fasziniert. Moltke und Yorck glaubten nicht an den dauerhaften Sieg der „Macht des Bösen“. Sie waren nicht fasziniert, sondern waren überzeugt, dass das NS-Regime untergehen müsste. Dabei bezogen sie sich auf die Erneuerung des Rechts. Sie meinten damit mehr als die Rückkehr zur Verfassungsordnung der Weimarer Republik. Diese war ursprünglich ein großes Verfassungsangebot und orientierte sich an der Achtung vor Minderheiten, am Schutz sozialer Gruppen, an Rechtssicherheit in Staat und Gesellschaft, an der Überprüfbarkeit von Rechtssprüchen, der ordnungsgemäßen Gesetzgebung im Parlament, der Öffentlichkeit der Verhandlungen und der Rechtmäßigkeit der Strafverbüßung. Recht und Gerechtigkeit waren, das wussten Moltke und Yorck, zwar niemals in völlige Deckung zu bringen. Nach dem Willen der Weimarer Nationalversammlung sollten sie sich jedoch möglichst weit annähern.

Die Reflexion über die Prinzipien des Rechtsstaates konnte nur im kleinen Kreis angestellt werden. Dabei musste mit den überkommenen Vorstellungen gebrochen werden, die in der rückwärtsgewandten Wertschätzung des überkommenen monarchischen Obrigkeitsstaates zum Ausdruck kamen. Die nationalsozialistische Wirklichkeit erleichterte die Entwicklung einer neuen Sichtweise, die dann rasch in eine neue Wertschätzung der häufig als überholt eingeschätzten Institutionen und Normen des Rechtsstaates münden konnte.

Wiederherstellung des Rechts konnte angesichts der in Rechtsnorm gebrachten Unterdrückung im Innern, der Pervertierung des Rechts zum beliebigen Herrschaftsmittel einer weltanschaulich skrupellosen Führungsschicht, der Verbrechen an politischen Gegnern, an Juden, an den Einwohnern der besetzten Gebiete zunehmend weniger eine abstrakte Forderung sein; hinter dem Anspruch, die „vollkommene Majestät des Rechts“ zu sichern, waren die geschändeten Rechte der vom Tode bedrohten und extremer Willkür ausgelieferten Mitmenschen deutlich sichtbar. Jeder Eingeweihte begriff das Ziel, wenn der Verfall der Rechtsordnung und die Zerstörung der Rechtssicherheit konstatiert wurden. Erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb in allen Überlegungen des deutschen Widerstands, der sich seit 1938/39 zur Möglichkeit eines Anschlags auf die Führungsschicht des NS-Staates und damit auch Hitlers durchrang, die Frage der neuen Fundierung eines rechtlich eingehegten und klaren sittlich-moralischen Prinzipien verpflichteten Staates eine zentrale Rolle spielte.

Dies lässt sich für die Zusammenkünfte der Berliner Mittwochsgesellschaft vereinzelt, für den Kreisauer Kreis um Helmuth James Graf von Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg ganz deutlich greifen. Aus dem Jahre 1940 ist ein Brief Moltkes an Yorck überliefert, in dem die staatstragenden Prinzipien des Rechts deutlich ausgedrückt und als Auftrag für zukünftige Überlegungen formuliert werden.[3]

In der Erwartung eines „Triumphs des Bösen“, der auch durch den „schlimmen Sumpf von äußerem Glück, Wohlbehagen und Wohlstand“ nicht verdeckt werden konnte, will sich Moltke im Juni 1940, zum Zeitpunkt also des als Triumph der Machtpolitik empfundenen Siegs über Frankreich, mit Yorck über die Grundlagen einer „positiven Staatslehre“ auseinandersetzen. Moltke glaubte zu dieser Zeit in keiner Weise an die Möglichkeit eines Wandels des NS-Staates zum Guten und forderte seine Brief- und Gesprächspartner in einer Weise heraus, die an Platons Dialog Politeia erinnerte. Kriterium eines akzeptablen Staates sollte die Verwirklichung der Gerechtigkeit sein.

Im Unterschied zum antiken Dialog einigten sich die Kontrahenten rasch auf eine Definition. Gerechtigkeit bestünde darin, „dass im Rahmen des Staatsganzen ein jeder sich voll entfalten und entwickeln könnte“. Dabei ging es nicht um eine ungehinderte Selbstverwirklichung, denn jedem einzelnen sollte eine „schwere Hypothek“ auferlegt werden, die Einschränkungen „im Rahmen des Staatsganzen“ verlangen könnte.

Angesichts der nationalsozialistischen Wirklichkeit kam es darauf an, die „Hypothek“ präzise zu bestimmen und damit auch die Opfer und Leiden zu begrenzen, die der einzelne im Rahmen der bestehenden politischen Ordnung für seinen Staat auf sich zu nehmen hätte, ohne dass es sich um die Verwirklichung und Praktizierung des Unrechts handelte. Moltke reflektierte über die klassische Frage der Staatsgrenzen und Staatsziele, die in jeder Widerstandsdiskussion verborgen ist. Das Fazit lautete: „Die letzte Bestimmung des Staates ist es daher, der Hüter der Freiheit des Einzelmenschen zu sein. Dann ist es ein gerechter Staat.“

Die hier formulierten Grundsätze mussten sich an der staatlichen Wirklichkeit des totalen NS-Staates stoßen und sich letztlich gegen dessen Grundlagen richten. Konsequent zielte Moltke deshalb auf einen Kern seiner Motivation, die sich seitdem verfestigte und bis zur Stunde seines Todes nicht erschüttert wurde: Mit „Furcht, Macht und Glaube, soweit sie nicht von den einzelnen Staatsbürgern abgeleitet sind“ – also individualistisch geprägt sind –, will er Grundanschauungen des „heutigen Staates beseitigen“.

Dabei war er sich bewusst, dass Furcht, Macht und Glaube auch im wünschenswerten Staat Grundlagen menschlichen Zusammenlebens seien. Entscheidend war jedoch, dass im neuen Staat die „Hypothek“ zugunsten des Staates präzisiert werden sollte. Sie musste aus einem Kompromiss verschiedener Möglichkeiten und Wirklichkeiten hervorgehen und sollte durch eine Minimierung ihrer realen Last charakterisiert sein.

Die Hypothek als Kompromiss – die positive Verwendung eines aus der Weimarer Zeit belasteten Begriffs signalisiert einen Wandel politischer Grundanschauungen. Es ging nicht mehr um das Absolute, welches das Recht außer Kraft setzte und den einzelnen beliebigen Zukunftszielen verfügbar machte, die sich als schwere Belastung entlarven mussten, sondern es ging um ein bewusstes „Zugeständnis an die Wirklichkeit, welches man so klein halten muss wie eben möglich“.

Hypotheken, die aufgenommen worden waren, mussten abgetragen werden. Es ging also keineswegs um die Chance des NS-Staates, sich zur Gerechtigkeit zu wandeln, als vielmehr um die Übernahme der historischen Hypothek als schwere Last für die Zukunft, die im Zuge einer Überwindung dieses Staates getragen werden musste: Deshalb resümierte Moltke in seinem Brief an Yorck: „Der Staat, den wir bestenfalls erwarten können, wird mit einer sehr schweren Hypothek auf den Einzelnen anfangen, und es wird die Aufgabe sein müssen, diese Hypothek so schnell wie möglich abzutragen.“

In seiner Antwort auf Moltkes Schreiben bezweifelte Yorck die Möglichkeit, den Freiheitsbegriff präzise bestimmen zu können und die Aufgabe des Staates, Hüter der Freiheit zu sein, verbindlich festzulegen.[4]Für Yorck kam der „Rückbezogenheit“ des Einzelmenschen auf die Gemeinschaft eine große Bedeutung zu, denn der Einzelmensch solle „voller Sicherheit“ leben können und seinem „Nächsten“ keinen Schaden zufügen, ja sogar für ihn leben und handeln. Freiheit war nicht individualistisch definiert, sondern ethisch durch Mitmenschlichkeit geprägt. Recht und Pflicht verbanden sich und machten den Kern der Hypothek aus, um die die Gedanken kreisten.

Freiheit war für Yorck durch ihren Fremdbezug geprägt, der Konsequenzen für das Rechtsverständnis, aber auch die Praxis des Widerstands als stellvertretendes mitmenschliches Handeln zeitigte. Angesichts des Missbrauchs des Begriffs und der Praxis des Dienens war sich Yorck dessen bewusst, dass er es bei der bloßen Verwendung dieses Schlagwortes nicht belassen konnte. Deshalb präzisierte er die Verpflichtung des Dienens durch den signifikanten Bezug der Tat auf das Recht und die Rechtmäßigkeit. Recht wurde dabei nicht als Schutz der Schwachen verstanden, sondern als Verpflichtung und qualifizierte Normierung des individuellen Verhaltens in Staat und Gesellschaft. Allein durch diese Bindung an das Recht ließ sich auch das Risiko der „Hypothek“ mindern, welches ursprünglich den Ausgangspunkt der Staats- und Rechtsdiskussion zwischen den führenden Vertretern des späteren Kreisauer Kreises gebildet hatte.

Aus dieser Überzeugung musste unvermeidlich eine fundamentale Kritik der nationalsozialistischen Herrschaftspraxis resultieren, denn die Inpflichtnahme des Staates für das Recht band den Staat selbst an die Grundlagen einer rechtlich bestimmten Sittlichkeit: „Der wahre Inhalt des Staates ergibt sich mir nun dort, wo er als Trieb göttlicher Ordnung den Menschen erscheint und von ihnen empfunden wird.“[5]

In den Diskussionen des Kreisauer Kreises verbanden sich verschiedene Traditionen und Entwicklungsmöglichkeiten politischen Denkens in den Auseinandersetzungen mit den konkreten und philosophisch zunächst nicht zu bewältigenden Erscheinungen der Gegenwart, die dem Staatsbürger nicht eine „Hypothek“ aus „Pflicht und Recht“ bedeutete, sondern ihn durch staatlich gewollte und sanktionierte, politisch und ideologisch motivierte und nur aus der Lösung an das Recht denkbare Verbrechen belastete. Die Erörterungen zwischen Moltke und Yorck zeitigten insofern Folgen, als sie weit davon entfernt waren, „Pflicht und Recht“ pauschal zu diskreditieren. Alle neue Ordnung musste sich vielmehr durch die Wiederherstellung des Rechts und die rechtmäßige Bestrafung der „Rechtsschänder“ legitimieren.

So wurde der wünschenswerte Zustand auf den verabscheuten Stand politischer Ordnungen bezogen, sosehr sich die beiden Kreisauer auch bemühten, die „Bestimmung des Staates“ positiv zu betrachten und nicht aus den Erscheinungen der Tyrannis heraus negativ zu begründen. Dennoch bedurften sie gerade dieses Bezugs ihrer Überlegungen auf die Realität, um die bestehenden Differenzen bei der Begründung der „letzten Rechtfertigung“ staatlichen Handelns zu überwinden.

Moltke konnte den Zweck des Staates nämlich nicht aus seiner Sittlichkeit ableiten. Ethik band seiner Überzeugung nach den einzelnen, nicht aber das Staatsganze. So akzeptierte er lediglich den kategorischen Imperativ Kants, der einer langen Reihe von Verwaltungsbeamten Richtschnur ihres Handelns war und – wie etwa im Schlusswort des Mitglieds der Weißen Rose, Professor Kurt Huber, sichtbar wird – auch viele Widerstandskämpfer zu einer Radikalität ihres Denkens führte, die dann auch die letzten Konsequenzen bewusst ins Kalkül zog. Auch die göttliche Ordnung akzeptierte Moltke nicht als Grundlage staatsphilosophischer Erörterungen, denn „die Staatslehre“ dürfe „einer staatlichen Ordnung“ keine „religiöse Erklärung und einen religiösen Unterbau [...] geben“.

Bezugspunkt des Staates und seines Rechts habe der einzelne Mensch zu sein. Sinn des Staates sei es, „Menschen die Freiheit zu verschaffen, die es ihnen ermöglicht, die natürliche Ordnung zu erkennen und zu ihrer Verwirklichung beizutragen“. Ordnungsgemäße Zustände wurden vielfach durch den Begriff des Rechts charakterisiert. Recht war das Gegenteil von „Willkür“, die als „polizeiliche Willkür“ in das Leben vieler Menschen und Völker eingegriffen hatte. So stand die Proklamation, das Recht wiederherzustellen, für den Anspruch, die Ordnung des nationalsozialistischen Unrechtsstaates zu überwinden – und zwar auf eine denkbar rasche Weise.

Aus diesem Prinzip entwickelte sich das weitere Programm der Kreisauer bis zur Konturierung einer außenpolitischen Nachkriegsordnung auf föderaler Grundlage. Wesentlich wurde überdies die Überzeugung, dass der Staat wie die Wirtschaft der Menschen wegen existierte. Damit hatte die englische Vorstellung von der Civil Society, die eine Regierung einsetzt, um sich selbst zu lenken, ohne auf Teilhabe an der politischen Macht zu verzichten, über den deutschen Staatsgedanken gesiegt.

 


[1] Essay zur Quelle Nr. 5.3a, Brief von Helmuth James Graf von Moltke an Peter Graf Yorck von Wartenburg vom 17. Juni 1940, und Quelle Nr. 5.3b, Brief von Peter Graf Yorck von Wartenburg an Helmuth James Graf von Moltke vom 7. Juli 1940.

[2] Vgl. allgemein etwa die Spiegel-Berichterstattung zum Widerstand vom Sommer 1984 und vom Sommer 1994, letztere ist in der von Christiane Richter und Torsten Kupfer zusammengestellten „Auswahlbibliographie der 1994 zum 50. Jahrestag des 20. Juli 1944 erschienenen Zeitungs- und Zeitschriftenartikel“, dokumentiert die Quelle:                
<http://www.zeitgeschichte-online.de/zol/_rainbow/documents/pdf/94biblio.pdf> (25.01.2005), sowie speziell im Sommer 2004 die Diskussion über die Thesen des Historikers Christian Gerlach bei den Aschaffenburger Gesprächen unter Leitung von Guido Knopp, vgl. dazu      
<http://www.zdf.de/ZDFde/inhalt/24/0,1872,2145656,00.html> (25.01.2005). Beiträge und Materialien zum 60. Jahrestag des Umsturzversuches vom 20. Juli 1944 werden im von Zeitgeschichte-online in Kooperation mit der Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin geschaffenen Themenschwerpunkt gebündelt: <http://www.zeitgeschichte-online.de/md=20Juli1944-Inhalt> (25.01.2005).

[3] Vgl. Quelle Nr. 5.3a.

[4] Vgl. Quelle Nr. 5.3b.

[5] Vgl. Quelle Nr. 5.3b.

 


Literaturhinweise:
  • Bleistein, Roman (Hg.), Dossier: Kreisauer Kreis – Dokumente aus dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1987
  • Brakelmann, Günter, Der Kreisauer Kreis, in: Steinbach, Peter; Tuchel, Johannes (Hg.), Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur 1933-1945, Bonn 2004, S. 358-374
  • Oppen, Beate Ruhm von (Hg.), Helmuth James von Moltke, Briefe an Freya 1939-1945, München 1995
  • Roon, Ger van, Neuordnung im Widerstand. Der Kreisauer Kreis innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung, München 1967
  • Winterhager, Wilhelm Ernst, Der Kreisauer Kreis – Porträt einer Widerstandsgruppe, Berlin 1985

Briefwechsel zwischen Helmuth James Graf von Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg (Juni/Juli 1940)

Brief von Helmuth James Graf von Moltke an Peter Graf Yorck von Wartenburg vom 17. Juni 1940 [1]

[…] Die Grundlage aller Staatslehre besteht für mich etwa in folgenden Grundsätzen:

1. Es ist nicht die Bestimmung des Staates Menschen zu beherrschen und durch Gewalt oder durch Furcht vor Gewaltanwendung zu zügeln, vielmehr ist es die Bestimmung des Staates, die Menschen in eine solche Beziehung zueinander zu bringen und sie darin zu erhalten, daß der Einzelmensch von jeder Furcht befreit in voller Sicherheit und doch ohne Schaden für seinen Nächsten zu leben und zu handeln vermag.

2. Es ist nicht die Bestimmung des Staates, Menschen zu wilden Tieren oder zu Maschinen zu machen, vielmehr ist es die Bestimmung des Staates, dem Einzelmenschen denjenigen Rückhalt zu geben, der es ihm ermöglicht, Körper, Geist und Verstand ungehindert zu betätigen und zu entwickeln.

3. Es ist nicht Aufgabe des Staates, unbedingten Gehorsam und blinden Glauben an sich oder an etwas Anderes vom Menschen zu fordern, vielmehr ist es die Bestimmung des Staates, den Einzelmenschen dahin zu führen, daß er nach den Geboten der Vernunft lebt, die Vernunft bei allen Dingen betätigt und ihn sogleich dahin zu leiten, dass er seine Kraft nicht in Haß, Ärger, Neid verschwendet oder sonst unrecht handelt.

Die letzte Bestimmung des Staates ist es daher, der Hüter der Freiheit des Einzelmenschen zu sein. Dann ist es ein gerechter Staat.

Ich bin weit davon entfernt zu glauben, daß diese Sätze sich voll verwirklichen lassen. Aber ich betrachte sie als das Ziel an dem wir alle staatsrechtliche Gestaltung messen müssen. Grob ausgedrückt kann man sagen, dass ich drei Ansichten des heutigen Staates beseitigen will: Furcht, Macht und Glaube, soweit sie nicht von den einzelnen Staatsbürgern abgeleitet sind. Nichts davon lässt sich voll verwirklichen: die Furcht ist notwendig, um den inneren Frieden zu wahren, die Macht, um den äußeren Frieden zu wahren, der Glaube, um das Herz des Staatsdieners zu beteiligen und ihm die nötige Antriebskraft zu geben, die nur wenige Menschen aus der Vernunft schöpfen können. Trotzdem sind das Kompromisse, die im Interesse der praktischen Wirksamkeit gemacht werden müssen, aber nicht Dauererscheinungen, die eine innere Berechtigung haben.

Damit komme ich zu dem Kernpunkt, den ich daraufhin klären möchte, ob zwischen uns eine Meinungsverschiedenheit in der Grundlage besteht oder nicht: Ihre ‚Hypothek’ ist ein solcher Kompromiß, ein Zugeständnis an die Wirklichkeit, welche man so klein halten muß wie eben möglich und an dessen Verringerung durch geeignete Erziehung – der Kinder wieder Erwachsenen – man arbeiten muß. Der Staat, den wir bestenfalls erwarten können, wird mit einer sehr schweren Hypothek auf den Einzelnen anfangen, und es wird die Aufgabe sein müssen, diese Hypothek so schnell wie möglich abzutragen. […]

Brief von Peter Graf Yorck von Wartenburg an Helmuth James Graf von Moltke vom 7. Juli 1940 [2]

[…] Aus den drei negativen Bestimmungen der Aufgabe des Staates resumieren (sic!) Sie seine positiven Aufgaben dahin, Hüter der Freiheit des Einzelmenschen zu sein. Der Freiheitsbegriff ist nun soviel Wandlungen unterworfen gewesen, daß es der Klarstellung bedarf, in welchem Sinne er an dieser Stelle gebraucht wird. Mir scheint, dass ich ihn in ihren Worten finden soll, der Einzelmensch solle voller Sicherheit und ohne Schaden für seine Nächsten leben und handeln können. Damit wird diese Freiheit einem ethischen Postulat unterstellt, das auf die Gemeinschaft und wieder auf den Staat hinweist. Diese Rückbezogenheit von Einzelmensch und Gemeinschaft scheint mir bei der Erörterung das Wesentliche und in ihr liegt die Kumulation von Recht und Pflicht, die ich in dem Gespräch als Hypothek auf dem Einzelmenschen bezeichnete. Ich wollte damit die Freiheit für sich selbst umwerten zu der Freiheit für die Anderen, die nach meinem Dafürhalten nur die Grundlage staatlichen Lebens sein kann. Ich wollte zum Ausdruck bringen, daß die Zeit der Bedrängnis, die trotz der äußeren Erfolge kommen wird, die Pflicht zum gemeinnützigen Handeln, zum „Dienen“ besonders hervortreten lassen wird. Doch das geschieht im Rahmen der Reichsidee, wonach die objektive staatliche und rechtliche Ordnung zugleich ein persönliches Rechtsgut des Einzelnen ist, der nicht der politischen Willkür des allgewaltigen Staates ausgeliefert sein darf, demgegenüber sich der Staat vielmehr auch in dem Verhältnis von Pflicht und Recht befindet.

Ein Zweites Wesentliches gilt es noch zu beachten, daß nämlich Recht und Sittlichkeit untrennbar zusammengehören und auch der Staatswille sich der Sittlichkeit beugen muß. Der Wahre Inhalt des Staates ergibt sich mir nur dort, wo er als Trieb göttlicher Ordnung den Menschen erscheint und von ihnen empfunden wird.

Deshalb liegt es mir näher, seine Bestimmung positiv zu betrachten und nicht aus der Tyrannis heraus negativ zu entwickeln. […]



[1] Roon, Ger van, Neuordnung im Widerstand. Der Kreisauer Kreis innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung, München 1967, S. 480ff.

[2] Roon, Ger van, Neuordnung im Widerstand. Der Kreisauer Kreis innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung, München 1967, S. 480ff.



Für das Themenportal verfasst von

Peter Steinbach

( 2007 )
Zitation
Peter Steinbach, Im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Moltke und Yorck im Konflikt um die Grundlagen des Staates, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2007, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1359>.
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