Milan Kundera und die Renaissance Zentraleuropas.

Gelegentlich haben europäische Intellektuelle Visionen von Europa, die sich als prophetisch erweisen. So ist es im Falle Milan Kunderas, einem der großen tschechischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Er hatte 1983 Vorstellungen von Europa, die durch den EU-Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten 2004 zur Realität wurden. Sein Text zeigt das klare Bewusstsein, dass Tschechien, Ungarn, Polen und die Slowakei eigentlich zum westlichen Kulturkreis Europas gehören.[...]

Milan Kundera und die Renaissance Zentraleuropas [1]

Von Philipp Ther

Gelegentlich haben europäische Intellektuelle Visionen von Europa, die sich als prophetisch erweisen. So ist es im Falle Milan Kunderas, einem der großen tschechischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Er hatte 1983 Vorstellungen von Europa, die durch den EU-Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten 2004 zur Realität wurden. Sein Text zeigt das klare Bewusstsein, dass Tschechien, Ungarn, Polen und die Slowakei eigentlich zum westlichen Kulturkreis Europas gehören. Diese mentale Orientierung auf den Westen Europas war einer der Pfeiler des Widerstandes gegen die von Moskau gesteuerten Regimes. Daher bedeutete der Diskurs über Zentraleuropa keine Nostalgie zum Habsburgerreich, sondern war ein Versuch, über ein neues „Mental Mapping“ zur Veränderung der politischen Karte Europas beizutragen.[2]

Kundera trägt diese Vorstellungen vordergründig als Hilferuf und Anklage an das westliche Europa vor, das die zentraleuropäischen Gesellschaften in der sowjetischen Einflusssphäre vergessen habe. Für diese Anklage gab es Anfang der 1980er Jahre genügend Anlass. Die westeuropäischen Staaten hatten sich nach der Umsetzung des Nato-Doppelbeschlusses mit dem Status Quo der Teilung des Kontinents weitgehend abgefunden. Die Unterstützung für die Charta 77 in der Tschechoslowakei ging abgesehen von einigen Intellektuellen und kirchlichen Kreisen über ein Lippenbekenntnis kaum hinaus. Insbesondere in Polen wurde gerade durch die SPD die oppositionelle Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc als Unruheherd angesehen, während man sich mit dem Regime arrangierte. Und im innerdeutschen Verhältnis belegte der von Franz-Josef Strauß vermittelte Milliardenkredit an die DDR den Eindruck, dass sich auch die Konservativen mit dem Status quo zufrieden gaben. Zudem schien das politische System im „Ostblock“ gefestigt. Die jeweiligen Parteiführungen machten zwar den Eindruck einer absterbenden Gerontokratie, aber gerade für die Tschechen und Slowaken gab es nach 1968 keinerlei Hoffnung auf Reformen.

Kundera war von diesen Entwicklungen abgeschnitten, weil er 1975, wie zuvor zahlreiche weitere tschechische Intellektuelle, ins Exil gegangen war. Ihn verstörte vor allem, dass man auch im Westen Europas den Kommunismus inzwischen als normal und gegeben ansah. Daher die wütende Anklage am Ende seines Textes, dass der Westen die Länder Zentraleuropas vergessen habe. Kundera hielt den Europäern vor, dass sie dabei einen Teil von sich selbst, von ihrer eigenen Kultur verdrängt hätten. Dies zeigt sich bereits im Titel der französischen Originalversion des Essays, der „Un Occident kidnappé“ lautete und im November 1983 in der Zeitschrift Le débat erschienen war. Die Wirkung dieses Essays war enorm. Er wurde sofort ins Englische übersetzt und im April 1984 im New York Review of Times publiziert,[3]wenig später auch in der deutschen Zeitschrift Kommune. In den USA erschien der Text bereits unter einem anderen Titel, benannt als die „Tragödie Zentraleuropas“.

Dabei stand also eine räumliche Kategorie im Mittelpunkt, die vor allem in den USA eine große Karriere machte. Die amerikanische Perspektive auf den „Ostblock“ war ursprünglich durch den Blick auf Moskau geprägt. Man achtete auf jede kleine Veränderung innerhalb des Kremls, während die Staaten in Mittel- und Osteuropa als Satelliten angesehen wurden. Dieser Moskau-Zentrismus spiegelte sich in der akademischen Welt wider. Kremlologen dominierten die politische Befassung mit Osteuropa und die Russland-Spezialisten die Osteuropa-Geschichte. Letzteres ist im Grunde bis heute spürbar. Dieser Fokus auf Moskau geriet in den USA vor allem durch die Solidarnosc in Polen und Papst Johannes Paul II. ins Wanken, den man ebenfalls als einen Vordenker eines vereinten Europas ansehen kann. Kunderas Aufsatz brachte die westlichen Intellektuellen in Bewegung und zeigte, dass sich hinter dem „Eisernen Vorhang“ nicht nur homogene sozialistische Gesellschaften verbargen.

Mit Kunderas Aufsatz waren gleichzeitig die Eckpunkte des Mitteleuropa-Diskurses unter den europäischen Intellektuellen festgelegt.[4]Dazu gehörten vor allem die strikte Abgrenzung gegenüber der Sowjetunion und Russland. Kundera spricht in seinem Text von einer „russischen Zivilisation“, die er dem Westen und der Mitte Europas mit diversen historischen und kulturellen Argumenten gegenüberstellt. Der Essay gipfelt in der Feststellung, die „Zivilisation des russischen Totalitarismus“ sei die „radikale Negation des Westens“. Russland wird trotz aller Wertschätzung für bestimmte Schriftsteller als Gefahr und Bedrohung dargestellt. Demgegenüber sind die Gesellschaften Zentraleuropas nach Kundera ein Bollwerk des Westens, eine Rhetorik, die bereits den Mitteleuropa-Diskurs aus der Zwischenkriegszeit prägte. Schon zu Beginn des Textes grenzt sich Kundera nicht nur von den Russen, sondern generell von der „östlichen Zivilisation“ ab, die er durch Orthodoxie und Despotismus definiert sieht (in den Auszügen des Essays aus Platzgründen nicht enthalten). Kunderas Aufsatz erscheint darin wie ein Vorgriff auf Huntingtons Clash of Civilizations, in dem ebenfalls strikt zwischen einem lateinisch geprägten Westen und mittleren Europa und einem orthodox geprägten Osten Europas unterschieden wird. Kundera ist hier wiederum prophetisch – allerdings im Negativen, denn die EU-Erweiterung beruhte auf einer Vertiefung der Gräben zu den GUS-Staaten und einer Abgrenzung gegenüber Russland und der Ukraine, die jedoch auch von vielen westlichen Einflüssen geprägt ist. Ähnliche Klagen wie einst Kundera führen heute die westukrainischen Intellektuellen, die sich von der EU und ihren einstigen zentraleuropäischen Nachbarn vergessen und mutwillig dem russischen Orbit ausgeliefert sehen. Die Frage, ob der europäische Einigungsprozess an der polnischen Ostgrenze Halt machen soll, beeinflusst indirekt auch die Geschichtswissenschaft. In jüngeren Ansätzen zum Zivilisationsvergleich wurde die Ukraine ebenfalls dem Osten und einer östlichen Zivilisation zugeschlagen, obwohl gerade in der Westukraine mit der Griechisch-Katholischen Kirche eine Mischkultur existiert, die von westlichen Einflüssen, vor allem der Renaissance und der Aufklärung geprägt wurde.

Von großer Bedeutung ist auch, wie Kundera sein Zentraleuropa definiert. Er betont das Erbe des Habsburgerreiches, die Prägung durch „kleine“ Nationen und den starken jüdischen Einfluss. Kundera verortet den Widerstand gegen den Kommunismus vor allem in der Sphäre der Kultur. In dem Mangel an Kultur und kulturellen Bewusstsein sieht er schließlich den wichtigsten Grund, warum der Westen Europas, also die damalige EU, die Nachbarn in der Mitte vergessen konnte. Kundera betont die Bedeutung der Kultur für die Einigung Europas in mehreren Passagen, die auch heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben. In einer Zeit, in der Europa politisch uneinig erscheint und selbst das Projekt einer Verfassung umstritten bleibt, ist die Kultur vielleicht wirklich das wichtigste einigende Band.

Beachtenswert ist auch der dramatische Aufbau des Essays. Er beruht auf einer Gegenüberstellung von Gut und Böse und vor allem von Kultur und Barbarei. Kundera betont neben der Heldenhaftigkeit die „Schönheit“ der Opposition, spricht von einer „glücklichen Vereinigung von Kultur und Leben“, die ihm im Exil offenbar fehlte, von „schöpferischem Elan“ und der „unnachahmlichen Aura“ der Aufstände gegen die Sowjetherrschaft. Heute mag diese Ästhetisierung des Widerstands als kitschig erscheinen, aber sie steht im Kontrast zur medialen Verarbeitung des Sozialismus, insbesondere im deutschen Kino. Dort herrscht seit einigen Jahren die Tendenz, die DDR in einem allzu milden Licht erscheinen zu lassen und ausgerechnet den einst als grau verrufenen Alltag im Sozialismus im Nachhinein zu ästhetisieren. Bei Kundera ist der Widerstand schön, und nicht der Sozialismus. Die jungen Demokratien in Zentraleuropa, zu denen auch die vereinigte Bundesrepublik zählt, brauchen angesichts der „Ostalgie“ und der verbreiteten Geschichtsklitterung in den Medien vielleicht gerade eine solche Sicht auf ihre eigenen Wurzeln vor 1989. Jedenfalls könnte dann die Tradition des Widerstands, der maßgeblich zum Zusammenbruch des Kommunismus und der Entstehung eines vereinigten Europas beitrug, leichter an die junge Generation vermittelt werden.

 



[1] Essay zur Quelle Nr. 3.8, Milan Kundera: Un occident kidnappé oder die Tragödie Zentraleuropas (1983).

[2] Vgl. zu diesem Thema den Band 3/2002 der Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft und dort vor allem den Aufsatz des dänischen Historikers Bugge, Peter, „Land und Volk“ – oder: Wo liegt Böhmen?, S. 404-434.

[3] Der Text, der sich von deutschen und französischen Version im Aufbau unterscheidet, ist nachgedruckt in: The tragedy of Central Europe. Milan Kundera (April 26, 1984), in: Stokes, Gale (Hg.), From Stalinism to pluralism. A documentary history of Eastern Europe since 1945, New York 1991, S. 217-223.

[4] Dazu gibt es inzwischen eine kaum überschaubare Literatur. Gut zusammengefasst wird der Mitteleuropa-Diskurs u.a. in: Judt, Tony, The rediscovery of Central Europe, in: Daedalus 119/1 (1990), S. 23-54.

 


Literaturhinweise:
  • Stokes, Gale (Hg.), From Stalinism to pluralism. A documentary history of Eastern Europe since 1945, New York 1991
  • Judt, Tony, The rediscovery of Central Europe, in: Daedalus 119/1 (1990), S. 23-54
  • Lemberg, Hans, Zur Entstehung des Osteuropabegriffs im 19. Jahrhundert. Vom „Norden“ zum „Osten“ Europas, in: Jahrbücher für die Geschichte Osteuropas 33 (1985), S. 48-91
  • Schenk, Frithjof Benjamin, Mental Maps. Die Konstruktion von geographischen Räumen in Europa seit der Aufklärung, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 493-514
  • Szücs, Jenö, Die drei historischen Regionen Europas, Frankfurt am Main 1994

Kundera, Milan: Un occident kidnappé oder die Tragödie Zentraleuropas (1983) [1]

[…] Was bedeutet nun tatsächlich Europa für einen Ungarn, einen Tschechen, einen Polen? Von Anbeginn an gehörten diese Nationen zu jenem Teil Europas, dessen Wurzeln im römisch-katholischen Christentum liegen. An allen Phasen seiner Geschichte waren sie beteiligt. Das Wort „Europa“ bezeichnet für sie kein geographisches Phänomen, sondern einen geistigen Wert, ist ein Synonym für „Okzident“, den „Westen“. In dem Moment, wo Ungarn nicht mehr Europa, das heißt Westen ist, wird es aus seiner Bahn, aus seiner Geschichte geworfen; ja, es verliert die Substanz seiner Identität.

Geographisch war Europa (das vom Atlantik bis zum Ural reicht) immer in zwei Hälften geteilt, die sich getrennt voneinander entwickelten: War die eine mit dem alten Rom und der katholischen Kirche verbunden (mit dem Kennzeichen des lateinischen Alphabets), so war die andere in Byzanz und der orthodoxen Kirche verankert (mitsamt dem kyrillischen Alphabet). Nach 1945 verschob sich die Grenze zwischen diesen beiden Teilen Europas um einige hundert Kilometer nach Westen, und einige Nationen, die sich immer als westlich verstanden hatten, erwachten eines schönen Tages und stellten fest, daß sie sich im Osten befanden. Folglich bildeten sich nach dem Krieg in Europa drei grundlegend verschiedene Zustände heraus: der von West- und der von Osteuropa und, am kompliziertesten von allen, der jenes Teils, der geographisch im Zentrum, kulturell im Westen und politisch im Osten liegt.

Diese widersprüchliche Situation jenes Europas, das ich zentral nenne, kann uns begreiflich machen, warum sich dort seit 35 Jahren das Drama Europas konzentriert: der großartige Ungarnaufstand von 1956 mit dem darauffolgenden blutigen Massaker; der Prager Frühling und die Besetzung der Tschechoslowakei 1968; die polnischen Revolten von 1956, 1968, 1970 und die Bewegung der letzten Jahre. Jeder dieser Aufstände wurde nahezu vom ganzen Volk getragen. Wären die Regime nicht von Russland unterstützt worden, hätten sie sich dort keine drei Stunden halten könnten. So gesehen sind die Ereignisse von Prag oder Warschau in ihrem Wesen nicht als Drama Osteuropas, des sowjetischen Blocks, des Kommunismus zu verstehen, sondern vielmehr als das Zentraleuropas. […]

Die Identität eines Volkes oder einer Zivilisation spiegelt sich wider und lässt sich zusammenfassen in der Gesamtheit der Geistesfrüchte, die gemeinhin „Kultur“ genannt werden. Wenn diese Identität tödlich bedroht ist, dann wird das kulturelle Leben intensiver, dehnt sich aus, und die Kultur wird zum lebendigen Wert, um den sich die Bevölkerung zusammenschließt. Deshalb haben in all den mitteleuropäischen Aufständen das kulturelle Erbe wie zeitgenössische Werke eine so große und entscheidende Rolle gespielt wie nirgends sonst und je in irgendeinem europäischen Volksaufstand. […]

Und in der Tat konnte für Mitteleuropa und seine Leidenschaft für Vielfältigkeit nichts fremder sein als das einförmige, auf Verbreitung dieser Einförmigkeit bedachte zentralistische Russland […]. Ist nun nach alledem der Kommunismus die Negation der russischen Geschichte oder eher ihre Vollendung? Er ist sicher ebenso ihre Aufhebung (beispielsweise in Gestalt der Verleugnung ihrer Religiosität) wie ihre Vollendung (im Sinne der Verwirklichung ihrer zentralistischen Tendenzen und imperialistischen Träume). Man macht sich längst keine Illusionen mehr über das Herrschaftssystem der russischen Satellitenstaaten. Aber man vergisst, was ihre Tragödie hauptsächlich ausmacht: Sie sind von der Karte des Westens verschwunden. […]

Die Polen, die Tschechen, die Ungarn blicken auf eine sehr bewegte, von Brüchen gekennzeichnete Geschichte zurück sowie auf eine Tradition schwächerer und unbeständigerer Staatswesen als die großen europäischen Völker. Eingezwängt zwischen den Deutschen auf der einen und den Russen auf der anderen Seite erschöpften sich die Kräfte dieser Nationen im Kampf um ihr Überleben und um ihre Sprache zu sehr. Nicht imstande, sich ausreichend ein europäisches Bewusstsein nahezubringen, blieben sie der am wenigsten bekannte und zerbrechlichste Teil des Westens, verborgen zudem hinter dem Vorhang von seltsamen und schwer zugänglichen Sprachen.

Österreich besaß einmal eine gute Chance, in Zentraleuropa einen starken Staat zu errichten. Aber die Österreicher waren hin und hergerissen zwischen dem arroganten Nationalismus des großen Deutschland und ihrer eigenen zentraleuropäischen Mission. So gelang es ihnen nicht, einen föderativen Staat gleichberechtigter Nationen aufzubauen, und ihr Scheitern wurde zum Unglück für ganz Europa. Unbefriedigt ließen die anderen zentraleuropäischen Nationen das Imperium 1918 auseinander bersten, ohne sich klarzumachen, daß es trotz aller Unzulänglichkeiten unersetzbar war. Somit verwandelte sich Zentraleuropa nach dem 1. Weltkrieg in eine Region kleiner, anfälliger Staaten, deren Schwächen einem Hitler seine ersten Eroberungen und Stalin schließlich den Triumph erlaubten. Vielleicht verkörpern diese Länder im kollektiven europäischen Unterbewusstsein immer noch einen gefährlichen Unruheherd. […]

Was also Zentraleuropa ausmacht und bestimmt, können nicht die politischen Grenzen sein, sondern die großen gemeinsamen Erfahrungen, die die Völker wieder zusammenführen und sie immer wieder neu und anders gruppieren innerhalb nur imaginärer und stets wechselnder Grenzen, wo die gleiche Erinnerung, die gleiche Erfahrung, die Gemeinsamkeit einer gleichen Tradition fortlebt. […]

Tatsächlich ist kein anderer Teil der Welt so tiefgreifend vom jüdischen Genie geprägt worden. Überall fremd und überall zu Hause, aufgewachsen in einem quasi über den nationalen Streitigkeiten stehenden Geiste, waren die Juden im 20. Jahrhundert das wesentliche kosmopolitische und integrative Element Zentraleuropas, sein intellektueller Kitt, die Verdichtung seines Esprits, die Schöpfer seiner geistigen Einheit. Deshalb liebe ich sie und fühle mich ihrem Erbe so leidenschaftlich und nostalgisch nahe, als handelte es sich um meine eigene Geschichte. Etwas anderes macht mir die jüdische Nation so lieb und teuer: In ihrem Schicksal scheint sich mir das Los Zentraleuropas zu konzentrieren, widerzuspiegeln, einen symbolischen Ausdruck zu finden. Was ist das, Zentraleuropa? Die unsichere Zone kleiner Nationen zwischen Russland und Deutschland. Ich möchte das unterstreichen: kleine Nation. Denn was sind die Juden andres als eine kleine Nation, die kleine Nation par excellence? Die einzige von all den kleinen Nationen aller Zeiten, die die Reiche und den verheerenden Gang der Geschichte überlebt hat. Aber was nun ist eine kleine Nation? Ich schlage folgende Definition vor: Eine kleine Nation ist jene, deren Existenz in jedem beliebigen Moment in Frage gestellt werden kann, die untergehen und verschwinden kann – und die darum weiß. Ein Franzose, ein Russe, ein Engländer beschäftigt sich gewöhnlich nicht mit Fragen, die das Überleben seiner Nation betreffen. Ihre Nationalhymnen besingen nichts als Größe und Ewigkeit. Die polnische Hymne dagegen beginnt mit der Zeile: „Noch ist Polen nicht verloren …“. Insofern ist Zentraleuropa seinem Selbstverständnis nach ein Hort kleiner Nationen, und diese Sicht der Dinge basiert auf einem tiefen Misstrauen gegenüber der Geschichte. Die Geschichte, diese Göttin von Hegel und Marx, diese Inkarnation der Vernunft und des Geistes, die uns richtet und uns unseren Platz zuweist, ist die Geschichte der Sieger. Doch die mitteleuropäischen Völker sind keine Sieger. Zwar sind sie untrennbar mit der europäischen Geschichte verbunden, existierten nicht ohne sie, doch sie stellen nur die Kehrseite dieser Geschichte dar, ihre Opfer und ihre Außenseiter. In dieser ernüchternden historischen Erfahrung liegt die Quelle der Eigentümlichkeit ihrer Kultur, ihrer Weisheit, ihres „Sinns für's Unernsthafte“, der sich über Glanz und Gloria lustig macht. „Vergessen wir nicht, daß wir uns der heutigen Geschichte nur entgegenstellen können, indem wir uns der Geschichte überhaupt entgegenstellen.“ Diesen Satz von Witold Gombrowicz würde ich gerne über dem Eingang Zentraleuropas einmeißeln. […]

Heute lebt Mitteleuropa unter dem russischem Joch, mit Ausnahme des kleinen Österreich, das eher durch Zufall denn historische Notwendigkeit seine Unabhängigkeit gewahrt hat, aber, der zentraleuropäischen Umgebung entrissen, seinen besonderen Charakter und seine Bedeutung größtenteils verloren hat. Der Verlust des kulturellen Mittelpunkts in Zentraleuropa war gewiss eines der größten Ereignisse des Jahrhunderts für die westliche Zivilisation. Ich wiederhole also meine Frage: Wie ist es möglich, daß dies nicht wahrgenommen und nicht benannt wird? Meine Antwort ist schlicht: Europa hat den Verlust seines wichtigen kulturellen Zentrums nicht bemerkt, weil es seine Einheit nicht mehr als kulturelle begreift.

Worauf beruht die Einheit Europas denn nun? Im Mittelalter war es die allen gemeinsame Religion. In der Neuzeit, wo der Gott des Mittelalters seine Verwandlung in den Deus absconditus, in den verborgenen, transzendenten Gott erfuhr, räumte die Religion der Kultur das Feld, in der sich nun die höheren Werte vereinten, in denen sich die Europäer wiederfanden, durch die sie sich definierten und identifizierten. In unserem Jahrhundert nun scheint sich mir ein weiterer Wechsel anzukündigen, ebenso bedeutsam wie jener, der das Mittelalter von der Neuzeit scheidet. Wie Gott einst der Kultur wich, so büßt die Kultur ihrerseits heute ihre Rolle ein.

Aber zu wessen Gunsten? In welchem Bereich werden sich die höheren Werte zusammenfassen, die imstande sind, eine einigende Kraft in Europa zu entfalten? Sind es die technischen Errungenschaften? Der Markt? Die Medien? (Wird der große Dichterfürst durch den großen Journalisten ersetzt werden?) Oder gar die Politik? Aber welche? Die rechte oder die linke? Gibt es jenseits dieses ebenso dummen wie unüberwindlich schroffen Gegensatzes noch ein allgemein akzeptiertes Ideal? Könnten das Prinzip der Toleranz, der Respekt vor dem Glauben, den Überzeugungen und Gedanken des anderen dies leisten? Falls nun aber diese Sorte von Toleranz nicht länger auch große Werke und starke Gedanken schützt, wird sie dann nicht leer und nutzlos? Und wie sieht es mit der Dichtkunst, der Musik, der Architektur, der Philosophie aus? Auch sie haben die Fähigkeit, ein einheitliches Europa zu schmieden und dessen Basis abzugeben, eingebüßt. […]

Die letzte, auf eigener Erfahrung beruhende Erinnerung der zentraleuropäischen Länder an den Westen bezieht sich auf die Zeit zwischen 1918 und 1938. Sie ist ihnen näher als irgendeine andere Epoche ihrer Geschichte (wie heimliche Umfragen beweisen). Ihre Vorstellung vom Westen indes ist ein Bild von gestern; es spiegelt sich darin eine westliche Welt, wo das kulturelle Band noch nicht völlig verschwunden war. […]

Ich möchte noch einmal folgendes unterstreichen: Gerade am östlichsten Punkt des Westens wird Russland viel mehr als anderswo als Gegensatz zum Westen, als antiwestlich wahrgenommen; es erscheint eben nicht nur als eine europäische Macht unter anderen, sondern als eine ganz besondere, eine andere Zivilisation. Denn in der Tat verkörpert die Zivilisation des russischen Totalitarismus die radikale Negation des Westens, so wie er sich mit dem Beginn der Neuzeit herausbildete, sich auf das denkende und zweifelnde Ich gründete und durch kulturelles Schaffen charakterisiert war, das sich als Ausdruck dieses einzigartigen und unnachahmlichen Ich verstand. Der Einmarsch der Russen hat die Tschechoslowakei in die „nachkulturelle“ Epoche geworfen und somit entwaffnet und nackt der russischen Armee und dem allgegenwärtigen Staatsfernsehen ausgeliefert.

[…]

Mit der Zerschlagung des Habsburgerreiches hat Zentraleuropa seine Bollwerke verloren. Hat es nicht nach Auschwitz, das die jüdische Nation in diesem Raum vernichtete, seine Seele verloren? Und 1945 von Europa losgerissen, existiert es überhaupt noch? Gewiss, seine Werke und seine Revolten zeigen, daß es „noch nicht verloren ist“. Aber wenn leben heißt, in den Augen derer, die man liebt, da zu sein, dann gibt es dieses Zentraleuropa nicht mehr. Genauer: In den Augen seines geliebten Europa ist es nichts als ein Teil des sowjetischen Imperiums, nichts als das und nicht mehr als das. […]



[1] Kundera, Milan, Un occident kidnappé oder die Tragödie Zentraleuropas, in: Kommune. Forum für Politik und Ökonomie 2 (1984), Nr. 7, S. 43-52. Der Text wurde aus dem Französischen übersetzt von Cornelia Falter.

 


Die Druckversion des Essays findet sich in Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005.
Für das Themenportal verfasst von

Philipp Ther

( 2007 )
Zitation
Philipp Ther, Milan Kundera und die Renaissance Zentraleuropas, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2007, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1362>.
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