Nationale Identität revisited – Die Tschechen und IHR Švejk im 20. Jahrhundert
Von Martina Winkler
Grotesk, absurd, in seiner Symbolhaftigkeit komisch und tragisch zugleich ist die eine Abbildung aus dem Buch „Der brave Soldat Švejk“, die wohl mehr als alle anderen Illustrationen die zentrale Aussage und Komplexität des Romans zeigt: Die Zeichnung Josef Ladas, die Švejk in einem Rollstuhl sitzend und mit den Krücken winkend zeigt, von einer alten Frau mühsam durch die Straßen geschoben und entschlossen – „Nach Belgrad, nach Belgrad!“ – Kriegsbegeisterung bekundend. Hier soll dieses Bild nicht interpretiert werden, die Bedeutung ist zu offensichtlich. Der Kontrast zwischen dem Heldenbild des Großen Krieges und einer abstrakten Kriegsvorstellung und der konkreten, lächerlichen Situation von in den Kampf ziehenden Menschen ist ebenso deutlich wie die symbolhafte Verkörperung des kranken Österreich, alt, lahm und krank und dennoch laut krakeelend. Interessant jedoch ist, dass dieses Bild, gemeinsam mit anderen Švejk-Zeichnungen Ladas, im Jahre 1997 auf eine Briefmarke der Tschechischen Republik gedruckt wurdeund damit, so kann man wohl behaupten, eine Art Ritterschlag nationaler Symbolhaftigkeit und Identität erhalten hat. Denn nicht immer war die Identifikation tschechischer Öffentlichkeiten mit der weltbekannten Figur des Josef Švejk so eindeutig – und ein genaueres Hinsehen zeigt, dass der brave Soldat für viele Tschechen auch heute nicht nur eine naiv-sympathische Symbolfigur für touristisch attraktive Bierlokale ist.
Auf den folgenden Seiten soll ein Blick auf die Entwicklung der tschechischen Perspektiven auf Švejk gewagt werden, ein Blick, der das tschechische Selbstverständnis und die tschechische Position in Europa zunächst nicht klären, sondern eher komplizieren wird, letztlich aber, so ist zu hoffen, neue Einsichten ermöglicht.
Jaroslav Hašek entwarf die Figur des Švejk in mehreren Anläufen skizzenhaft zwischen 1911 und 1917. Seine Karriere in der tschechischen Öffentlichkeit begann Švejk unter schlechten Vorzeichen und mit sehr ambivalentem Echo. Hašek war nach kurzer Soldatenkarriere, russischer Kriegsgefangenschaft und journalistischer Arbeit für die Bolševiki in Kiev Ende 1920 nach Prag zurückgekehrt. Die Tschechoslowakische Republik existierte seit zwei Jahren, und Hašek fiel es schwer, sich in dieser Gesellschaft zurechtzufinden. Angesichts seiner Vorkriegslaufbahn als Journalist, Humorist und
Anarchist war er in Intellektuellenkreisen kein Unbekannter. Hatten sein Alkoholkonsum und seine notorische Unfähigkeit, eine Arbeit über längere Zeit zu behalten, ihm bereits vor dem Krieg Feindschaften eingetragen, so war seine Lage nun, als Rückkehrer mit dem Ruf eines Kommunisten, Verräters und obendrein Bigamisten, doppelt belastet. Doch er brauchte Geld, und so begann er ernsthaft am Švejk zu arbeiten. Als kein Verleger das Werk drucken wollte, organisierte er selbst die Vervielfältigung in Heftform und verkaufte die Exemplare in Prager Kneipen. Das Kneipenpublikum war begeistert, und prompt reagierte auch ein Verleger auf den Erfolg. Anders die Literaturkritik: Hašeks Werk wurde lange Zeit hartnäckig ignoriert. Nur wenige, durchgehend linksorientierte Journalisten besprachen das Buch positiv.
Wie bekannt die Figur des Švejk dennoch auch in gebildeten Kreisen war, zeigt ein Blick auf Parlamentsdebatten der zwanziger Jahre. Švejk und insbesondere der Begriff der Švejkovina – letzteres annähernd zu übertragen mit der deutschen „Schildbürgerei“ – dienten auffällig häufig als Metaphern politischer Rhetorik. Die pejorative Konnotation war dabei eindeutig vorherrschend, Švejk stand für Dummheit und Chaos, Drückebergertum (ulejváctví) und kopflose Bürokratie.
Im literarisch-intellektuellen Diskurs wurde die fast einhellige Ablehnung des Švejk durch den internationalen Ruhm des Buches gestört. Dieser war spätestens dann nicht mehr zu ignorieren, als Erwin Piscator den Švejk in Berlin auf die Bühne brachte. Der große Erfolg der Inszenierung ging einher mit einer breiten, fast weltweiten literarischen Anerkennung Hašeks. Švejk wurde als neuer Typus verstanden, und Hašek zählte nun zu den anerkannten Autoren der europäischen Literatur.
Das Dilemma, in dem sich die tschechische Literaturkritik nun befand, war nicht allein durch divergierende Meinungen über die literarische Qualität des Švejk bedingt. Viel dramatischer erschien ein politisch-gesellschaftliches Problem: Švejk wurde von deutschen, österreichischen und amerikanischen Kritikern nicht nur als literarisches Meisterwerk gefeiert, sondern auch und vor allem als eine Verkörperung des typisch Tschechischen verstanden.
Diese Identifikation wurde von bekannten Kritikern des liberalen Lagers und vor allem von rechtsgerichteten Journalistenals hochproblematisch empfunden. Die Situation war entsprechend paradox, denn endlich einmal wurde ein tschechischer Autor weltweit gelesen, übersetzt und bewundert, endlich schien das Ziel der Anerkennung der tschechischen Nation und der tschechischen Sprache erreicht. Doch der Anlass dieser Anerkennung war ein Text, der nicht in der engagiert entwickelten tschechischen Literatursprache verfasst war, sondern im als ordinär eingestuften Prager Dialekt. Und die Geschichte, mit der die tschechische Nation nun europaweit nicht nur bekannt, sondern auch identifiziert wurde, war keine Schilderung von Helden und nationalem Leiden, sondern eine Anekdotensammlung über Dummheit und Drückebergertum. Der Antiheld Švejk und vor allem natürlich auch der als Säufer und Anarchist bekannte Autor des Buches konnten in der Nachkriegsgesellschaft nicht als typisch für die tschechische Nation akzeptiert werden. Linke Journalisten interpretierten Švejk zwar als charaktervolle Figur, die hinter ihrer vorgeblichen Dummheit das unterdrückte, mit eigenen Mitteln gegen die Herrschenden kämpfende Volk in cleverer Weise verkörperte. Doch dieser mögliche Weg aus dem Interpretations- und vor allem Akzeptanzproblem um Švejk wurde nur von wenigen Angehörigen des liberalen Lagers eingeschlagen.
Neben dem noch jungen und deshalb besonders empfindlichen Selbstbild der tschechischen Nation spielt hier auch eine andere Differenz zu den westlichen Nationen, die Švejk so liebten, eine Rolle: das Verhältnis zum noch kaum verarbeiteten Weltkrieg. Die heutige Sicht auf die tschechische Haltung im Ersten Weltkrieg ist weitgehend von einer Betonung der Kriegsablehnung bestimmt.Den Tschechen von 1914, so der weit verbreitete Tenor, war die Kriegsbegeisterung anderer europäischer Nationen fremd. Als Begründung wird in erster Linie die Situation der zum Kampf für den fremden Staat Österreich gezwungenen jungen Nation angeführt; und auch der traditionelle Topos von den friedlichen Slaven schwingt in der Argumentation mit. Doch auch wenn der tschechische nationale Diskurs dem Krieg nicht den Rang beimaß, den dieser bei anderen – west- wie osteuropäischen – Nationen erhielt, war doch die Kriegserinnerung während der Ersten Republik nicht ganz ohne Bedeutung. In den auflageschwachen Medien der Rechten ist durchaus eine an deutsche Debatten erinnernde existentialistische Überhöhung der Kriegserfahrung zu erkennen. Und auch im liberalen Kontext spielte der Kriegsmythos durchaus eine Rolle. Der junge tschechoslowakische Staat war aus dem Krieg hervorgegangen, und um die Gefahren zu umgehen, die dem Topos des „geschenkten Staates“ anhafteten, wurden die in Zahl und militärischem Einfluss eher schwachen tschechoslowakischen Legionen in Russland, Frankreich und Italien gern überschätzt. Kriegsheldenmythen waren also für die tschechoslowakische Staatsidee doch nicht ganz unbedeutend – und stets latent gefährdet. Ein Buch, das den Krieg und seine Mythen entlarvte, war somit problematisch und machte die Bedrohung des heroischen Anteils der Staatsidee virulent. Auf der anderen Seite hatten nur relativ wenige Tschechen erlebt, was heute als typische Erfahrung des Ersten Weltkrieges begriffen wird. Das Entsetzen des Grabenkrieges war den meisten erspart geblieben, und der Krieg hatte, weil weit entfernt und sehr abstrakt, Pathos und Erhabenheit nicht eingebüßt. Hašeks Arbeiten erinnern in mancherlei Hinsicht an die Texte eines Leonhard Frank oder Wolfgang Borchardt und zuweilen an Bilder von Otto Dix. Im europäischen Kontext ist der Beifall für die Verbindung von Witz und Grauen verständlich. Ebenso verständlich aber ist das Fehlen einer solchen Begeisterung im Rahmen der tschechischen Nachkriegsgesellschaft.
Dies umso mehr, als neben diesem militärischen Kontext auch ein explizit ziviler Zusammenhang von der internationalen Švejk-Begeisterung betroffen war. Die Tschechoslowakei als aus dem „Völkergefängnis Österreich“ hervorgegangener „National“-staat verlangte nach Legitimation. Einen Ansatz bildete die ausgesprochen starke Betonung dessen, was heute häufig als Zivilgesellschaft bezeichnet wird. Die Person Thomas G. Masaryks war hier von großer Bedeutung, und so hat auch seine Betonung von Bildung und „kleiner Arbeit“ (drobná práce) das Bild – und bis zu einem gewissen Grad auch die Realität – der Ersten Tschechoslowakischen Republik als unprätentiöser, explizit unideologischer und an den kleinen Schritten gesellschaftlicher Entwicklung orientierter Staat geprägt.
Švejk nun verkörperte das genaue Gegenteil eines solchen Ideals: als dummer, ungebildeter Kneipengänger, der sich seinen Lebensunterhalt durch einen kleinkriminellen Handel mit als reinrassig verkauften Promenadenmischungen verdiente, war er keine ideale Verkörperung des tschechischen Wesens. Dass er dieses Leben im alten Österreich geführt hatte, konnte nur die Wenigen trösten, die nicht erkannten, dass Hašeks Buch keinesfalls politisch genug war, um als Anklage der k.u.k.-Monarchie zu gelten: Švejk bildete, diese Interpretation hatte sich bald durchgesetzt, die Verkörperung der bequemen Faulheit, des alkoholvernebelten Genusses und des alle Werte ablehnenden ideologiefreien Anarchismus schlechthin. Die Ablehnung einer solchen Figur erscheint durchaus nachvollziehbar: Weshalb also, diese Frage liegt nahe, ist es möglich, dass Švejks Position heute eine so ganz andere ist?
Wie ambivalent Švejk von Anfang an war, ist nicht nur an den unterschiedlichen Reaktionen seiner Leser, je nach nationaler oder sozialer Zugehörigkeit, zu erkennen. Bereits die Darstellung im Roman selbst ist zwiespältig. Die von vielen beklagte vulgäre Sprache und das oft als egoistisch, ja asozial beklagte Verhalten der Figur steht neben der Beschreibung durch Hašek als naiv und liebenswürdig. Švejk schaut mit großen, blauen Augen offen und nichts Böses ahnend in die Welt. Insbesondere aber die erst nach dem Tode Hašeks in der heute bekannten Form entstandenen Illustrationen durch Josef Lada zeigen einen Švejk, der ganz anders ist als derjenige, der zwischen Polizeispitzeln und Prostituierten sein Bier trinkt. Die Bilder zeigen nicht Schmutz und Vulgarität, sondern Gemütlichkeit und einfache Zufriedenheit. Angesichts ihrer unterschiedlichen Rezeption ist es kaum zu glauben, dass Hašek und Lada Freunde waren: das Bild Hašeks bewegt sich zwischen Genialität und Versagen. Ein unglücklicher Mensch, bestimmt vom Alkohol sowie der Treulosigkeit gegenüber Frau, Kind und Nation, erschien nicht geeignet als öffentliche Identifikationsfigur. Die Bilder Josef Ladas dagegen, der nie als hervorragender Künstler galt, sind berühmt und verkörpern die schöne und märchenhafte Seite tschechischer nationaler Identität. Als Postkarten, Buchillustrationen und Kalender sind sie jedem Kind bekannt; Ladas Kunst ist leicht zu konsumieren und lädt zur Identifikation ein. Die Einladung Hašeks an seinen Freund Lada zur Zusammenarbeit am Švejk macht deutlich, wie einseitig die Wahrnehmung des renommierten Literaturkritikers Arne Novák war, der Švejk als nationale Identifikationsfigur ablehnte und ihm als Antitypus die „typisch tschechische“ babicka gegenüberstellte: Die Großmutterfigur aus dem gleichnamigen Roman von Božena Nemcová von 1855 als Personifikation des ländlichen, idyllischen und traditionsbewussten Tschechentums. Weder babicka noch Švejk sind als Typen so eindeutig, wie Novák es gern gehabt hätte. Nicht literarische, sondern national-politische Motive spielten hier die entscheidende Rolle.
Nicht sehr viel anders verhält es sich, wenn gegen Ende des 20. Jahrhunderts Švejk wahrgenommen wird als populäre und zur Identifikation einladende Figur. Švejk ist überall: Als Metapher wird er in politischen Debatten genutzt – nicht unbedingt viel häufiger als in den zwanziger Jahren, aber mit eindeutig anderer Konnotation. So steht Švejk, dessen heutige Bedeutung in gewisser Weise mit der Funktion Loriots im deutschen Kontext vergleichbar ist, für ironischen, versteckt intelligenten Witz, für eine distanzierte Betrachtung absurder Realitäten im politischen Alltag, und in vielen Situationen passt der Ausruf „so eine Švejkovina“. Einerseits ist es dabei Ladas gemütlicher Švejk, der diese Popularität genießt, andererseits aber scheint auch heute, wie schon in der Zwischenkriegszeit, Švejk mit dem unbequemen Hašek verwechselt zu werden. Damals als unverantwortlicher Säufer verschrien, steht er nun für den Witz, mit dem sich Jaroslav Hašek über die politische Öffentlichkeit und die Oberflächlichkeit und Verlogenheit der Parteien lustig machte.
Daneben personifiziert Švejk in einem kommerziell durchaus lohnenden Zusammenhang natürlich die tschechische Bierkultur, das Ursprünglich-Rustikale der tschechischen Gastronomie. Das Selbstbild wird hier ebenso bedient wie die touristische Suche nach dem wahren Prag. Ein Besuch in Švejks Kneipe „U kalicha“ gehört zum Pflichtprogramm jedes Pragbesuchs, und neuerdings verlässt sich eine ganze Restaurantkette mit dem Namen „Švejk“ auf die Wirkung des populären braven Soldaten – „In einer von Informationen übersättigten Welt funktionieren heute alte und noch immer neue Symbole“ – und verbindet ein hochmodernes Franchisingsystem mit den Effekten traditioneller Rezepte „aus Großmutters Kästchen“ und folkloristischer Lada-Dekoration.Der seit 1989 insbesondere in Prag überbordende Tourismus verändert die identifikationsstiftenden Elemente der Stadt, Europäisierung und Nationalisierung oder auch Globalisierung und (der Schein der) Individualisierung bilden eine paradoxe Mischung. Neben Švejk hat hier in ähnlicher Weise übrigens auch Franz Kafka, der als deutsch schreibender Jude mit seinen hochkomplexen und kaum zur populären Lektüre taugenden Texten keinesfalls als klassische Identifikationsfigur der tschechischen Nation gelten kann, in den letzten Jahren zunehmend als Ausstellungsobjekt und T-Shirt-Motiv Beliebtheit erlangt. Der düstere Charakter seines Lebens wie Werkes wirkt einfach zu faszinierend auf ausländische Besucher der Stadt und passt allzu gut zum neuen wohlkonstruierten dämmerigen gothic-novel-Postkarten-Image Prags, als dass die Tourismusindustrie ihn sich als Motiv entgehen lassen könnte. Aus der Hauptstadt der „kleinen“, aber fortschrittsorientierten tschechischen Nation wird so im Zuge der Europäisierung ein romantisch-rückständiger Ort voll mittelalterlicher Topoi.
Švejk dagegen wird auf sein Lächeln reduziert, auf das naive Gesicht der Zeichnungen Ladas. Und dies ist nicht nur eine Frage des Kommerzes: Während in der Zwischenkriegszeit das Konzept der Zivilgesellschaft die Rezeption des Švejk ausgesprochen negativ beeinflusst hat, so bildet heute ein anderes Gesellschaftskonzept günstigere Voraussetzungen. Aus der kommunistischen Erfahrung hat die tschechische Gesellschaft eine in vieler Hinsicht sehr pragmatische, gegen das Pathos gewandte, zuweilen antipolitische Haltung mitgebracht. Auch die Europabegeisterung zeigt sich brüchig, gestört von unverständlich erscheinender Bürokratie und der Angst vor wirtschaftlicher und kultureller Beherrschung. Neben dem relativen ökonomischen Erfolg der letzten 15 Jahre mag hier durchaus die traditionelle bzw. traditionell beschworene tschechische „Nüchternheit“ (ceská strízlivost)eine Rolle spielen. Die Betonung des Praktischen und Nicht-Ideologischen erinnert in mancherlei Aspekten an die „kleine Arbeit“ der Masarykschen Zeit. Und doch sind entscheidende Unterschiede zu erkennen: So zeigt sich im Umgang mit der eigenen Geschichte ein offen pragmatischer und zuweilen bewusst schnodderig-ironischer Zug. Die Verknüpfung von Geschäft und Geschichte bildet hier ein Beispiel, ein anderes war bereits bei der ersten Präsidentenwahl nach 1989 an jeder Straßenecke zu bewundern: Plakate, auf denen für die Wahl Havels geworben wurde mit dem an den idealisierten mittelalterlichen König gemahnenden Slogan: „Wählt ihn! Er ist doch schließlich ein Wenzel!“ (Volte ho, vždyt je to Václav). In einer Internetdebatte über die Probleme des tschechischen Gesundheitssystems nahm ein Teilnehmer mit dem Satz „Švejk wach auf! Den Blaníker Rittern sind wir doch egal.“Bezug auf die bekannte Legende von den ruhenden Rittern, die nur auf die Gelegenheit warten, das tschechische Volk von seinem Leid zu erretten, und setzt gegen das Pathos von Legende und Geschichte den respektlosen Humor Hašeks bzw. Švejks. Und auch die offizielle Anwesenheit des Senatsvorsitzenden Petr Pithart bei einer Tagung über Hašek und Švejk verhindert keinesfalls den Witz, die Entspanntheit und letztlich wohl auch Bierseligkeit, die mit dem Namen Švejk verknüpft sind.
Švejk wird nur mehr selten als ein gefährliches Identifikationsmoment für die Nation gesehen, der andere, heroischere oder idyllischere Figuren wie Hus oder Žižkaentgegengestellt werden müssen.Die Zivilgesellschaft, ein zumindest in deutscher Wahrnehmung so eng mit Ostmitteleuropa verbundenes Konzept, hat offenbar andere Implikationen erworben als in der Ersten Republik. Waren es dort Arbeit und Bildung in Verbindung mit einem hohen moralischen Anspruch sowie besonders seit den späteren zwanziger Jahren mit dem Gefühl politischer und militärischer Bedrohung, so weist zumindest der Umgang mit dem Švejk-Topos heute auf eine viel laxere Atmosphäre hin. So sehr die Masaryk-Tradition auch gefeiert wird, so wird doch die Allgegenwärtigkeit des Politischen und Gesellschaftlichen, die Einbeziehung des Einzelnen in ein gemeinsames Projekt offenbar auch mit Misstrauen betrachtet. Eines der Leitwerke des ostmitteleuropäischen Zivilgesellschaftskonzeptes der achtziger Jahre trug den Titel „Antipolitik“.Die gern als betont europäisch verstandene Stoßrichtung der damaligen Intellektuellenbewegung kann jedoch auch mit deutlich anti-europäischen und anti-politischen Tendenzen verknüpft werden. Denn bei allem Erfolg, den die tschechische Demokratie relativ gesehen zu verzeichnen hat, ist doch neben der Betonung der Politik auch ein starker Akzent auf dem Präfix des „Anti-“ zu erkennen. Ein Hauch des Postnationalen und Postpolitischen ist zu spüren, Švejk ist Kult und vermittelt damit Identität ohne Pathos, aber mit Ironie.Er ist eine hybride Figur, die im politischen Kontext
ebenso nutzbar ist wie als Namensgeber für ein Lokal, mit der nationale Identität konstruiert und gleichzeitig den europäischen Erwartungen entsprochen werden kann. Und so wird Švejk nicht mehr – nur – als subversiver Säufer verstanden. Vielmehr ist der heute aus dem Buch gezogene Kern deutlicher an den charmanten Zeichnungen Ladas und weniger an der drastischen Sprache Hašeks orientiert und lautet im Werbetext der bereits erwähnten Restaurantkette folgendermaßen: „Der Geist des Buches und Švejks Figur tragen eine Botschaft, die stets aktuell ist: Mit der Ruhe und einem Lächeln kann man auch in der stürmischen Welt an jedem Ort seine Ruhe finden. An jedem solchen Ort ist mit uns ... Švejk.“
[1] Essay zur Quelle Nr. 3.9, Der von den Tschechen rehabilitierte Švejk (Briefmarke, 1997).
[2] Ich bedanke mich für die freundliche Unterstützung durch Herrn Gerhard Batz, der die Briefmarke für diese Publikation zur Verfügung stellte.
[3] So vor allem Olbracht, Ivan, Osudy dobrého vojáka Švejka za svetové války, in: Rudé právo 15.11.1921 und Fuchs, Alfred, Nekolik vážných poznámek k humoru Jaroslava Haška, in: Socialistická budoucnost 14.1.1923; später auch Fucík, Julius, Cehona a Švejk. Dva typy z ceské literatury i života, geschrieben 1939, Neudruck in: Ders., Milujeme svuj národ III, Prag 1951, S. 108-112.
[4] Viktor Dyk kritisierte Hašeks Werk 1928 als insbesondere in der aktuellen politischen und vor allem militärischen Situation gefährlich in: Hrdina Švejk, in: Národní listy, 15.4.1928.
[5] So die Autoren der unter der Schirmherrschaft der Masaryk-Akademie der Arbeit herausgegebenen Ceskoslovenská vlastiveda VII, Písemnictví, Prag 1933, S. 192.
[6] Z.B. Galandauer, Jan, Vznik Ceskoslovenské republiky, Prag 1988, S. 20; Ders., Wacht am Rhein a Kde domov muj. Válecné nadšení v Cechách v léte 1914, in: Historie a vojenství 5 (1996), S. 22–43.
[7] Vgl. zu Tradition und Topos hier: Hospody a pivo v ceské spolecnosti, Prag 1997.
[9] Vgl. z.B. Gabriel, Jirí, Pozitivismus, in: Ceská filozofie ve 20. století. Smery, osobnosti, problémy. Band 1, Brünn 1995, S. 22-39.
[11] Ich bedanke mich für die Unterstützung durch Frau Marcela Lanková vom Büro des Senators, die mir den Text der launigen Rede zur Verfügung gestellt hat.
[12] Parlamentsdebatte CSR, 40. Sitzung, 29. April 1936.
[14] Konrád, György, Antipolitik. Mitteleuropäische Meditationen, Frankfurt am Main 1985.
[15] So erschien 1998 und 1999 eine zweibändige Enzyklopädie für Švejk-Liebhaber. In einer ironischen Švejkologie werden militärische und andere heute unverständliche Begriffe enzyklopädisch zusammengestellt und erläutert. Hodík, Milan, Encyklopedie pro milovníky Švejka s mnoha vyobrazeními, Prag 1998 und 1999.
[16] <www.svejk.cz/main_restaurace.html> (15.11.2004)
Literaturhinweise:
Stritecký, Jan, Die tschechische nationale Wiedergeburt, in: Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 31 (1990), S. 38-54
Schulze Wessel, Martin, Die Mitte liegt westwärts. Mitteleuropa in tschechischer Diskussion, in: Bohemia 29 (1988), S. 325-344
Raßloff, Ute, Gründungsmythen in der tschechischen Literatur, in: Behring, Eva; Richter, Ludwig; Schwarz, Wolfgang F. (Hg.), Geschichtliche Mythen in den Literaturen und Kulturen Ostmittel- und Südosteuropas, Stuttgart 1999, S. 233-260
Holý, Ladislav, The little Czech and the great Czech Nation: National identity and the post-communist transformation of society, Cambridge 1996Hahn, Eva, Masaryks Konzept eines „Neuen Europa“: ein alter Hut oder Rezept für heute?, in: Kipke, Rüdiger (Hg.), Identität, Integrität, Integration. Beiträge zur politischen Ideengeschichte Tschechiens, Münster 1997, S. 17-54