Hoffnungen im Herbst 1956: Ungarn hat über die sowjetischen Truppen und das eigene Terrorregime gesiegt.

Dem nachstehenden Text vom 30. Oktober 1956 begegne ich gleichsam mit doppeltem Blick, dem eigenen, denn ich bin der Verfasser, sowie dem des Historikers auf vergessene Notizen, die ich im vorigen Jahr wiederfand. Ich kenne die Personen, den Ort, die Verhältnisse, die in sie hineinspielenden sorbischen Umstände, aber aus dem Gedächtnis könnte ich das Geschehen, das diese Quelle festhält, seine Spezifik und die damit verbundenen Reflexionen nicht rekonstruieren. Das Eigene erscheint inzwischen als das fast völlig Fremde.[...]

Hoffnungen im Herbst 1956: Ungarn hat über die sowjetischen Truppen und das eigene Terrorregime gesiegt[1]

Von Hartmut Zwahr

Dem nachstehenden Text vom 30. Oktober 1956 begegne ich gleichsam mit doppeltem Blick, dem eigenen, denn ich bin der Verfasser, sowie dem des Historikers auf vergessene Notizen, die ich im vorigen Jahr wiederfand. Ich kenne die Personen, den Ort, die Verhältnisse, die in sie hineinspielenden sorbischen Umstände [2] , aber aus dem Gedächtnis könnte ich das Geschehen, das diese Quelle festhält, seine Spezifik und die damit verbundenen Reflexionen nicht rekonstruieren. Das Eigene erscheint inzwischen als das fast völlig Fremde. Ich habe Distanz und Tendenz mit den Mitteln der historischen Methode [3] zu überwinden.

Die Hartmut Kaelble gewidmete Festschrift fragt nach Europa, und im Lichte der seit dem 1. Mai 2004 um zehn neue Mitgliedsländer, Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Tschechische Republik, die Slowakei, Ungarn, Slowenien, Malta und Zypern, erweiterten Europäischen Union zeigt sich die Einzigartigkeit des europäischen Experiments. Ich erörtere es im Lichte jenes Geschehens, das im Text vom 30. Oktober 1956 reflektiert wird. Die wesentlichen Errungenschaften der europäischen Einigung sind: Frieden statt Krieg, Demokratie statt Diktatur und Unterdrückung, Wohlstand statt Armut. „Wir haben uns frei vereinigt. Wir handeln im Geist der Kooperation und der Solidarität. Wir arbeiten zusammen für gemeinsame Ziele in Institutionen, die es sonst nirgendwo gibt.“[4] Der Text aus dem Jahr 1956 zeigt einen Aspekt des weiten historischen Kräftefeldes der in der Ära des Kalten Krieges geteilten Welt, verbunden durch das Ereignis der ungarischen Revolution: die Sowjetunion (Moskau) als Besatzungsmacht, Polen (Warschau), Ungarn (Budapest), die DDR (Leipzig, Berlin (Ost), Potsdam), am Rande Rumänien, auf der anderen Seite Berlin (West), die Bundesrepublik Deutschland (Bonn), das neutralisierte Österreich. Die studentische Solidarität mit Ungarn, am Beispiel von Leipzig, steht für den langen Weg nach Westen.[5] Für Polen und Ungarn wurde das Jahr 1956 zu einer tiefen Zäsur.[6] In der DDR führte es zu innenpolitischen Spannungen und Erschütterungen besonders an Universitäten und Hochschulen. Genannt seien der sich am ungarischen Petöfi-Klub orientierende Ostberliner Jakobiner-Klub, Gruppen in Halle, Dresden und Jena, die zur politischen Aktion übergingen.[7] Drei Jahre nach dem 17. Juni 1953[8] war die Furcht vor Bespitzelung („Wir müssen sehr vorsichtig sein.“) und Repression („keiner wagt den Anfang“; die Furcht vor der Straße) allgegenwärtig. Doch wird das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) nicht erwähnt, woraus ich schließe, dass der Begriff Stasi damals noch nicht in die Alltagssprache eingedrungen war.

Der zur europäischen Vereinigung überleitende zentrale Sachverhalt besteht in der breiten grenzüberschreitenden Solidarität mit dem ungarischen Volksaufstand, aber auch in der Hinwendung zu Polen, sei es, dass die Akteure die sowjetische Besatzungsmacht einzuschränken (Polen) oder aufzuheben (Ungarn) suchten. Ungarn gab am 30. Oktober 1956 durch den vom Volk erzwungenen Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen ein Signal, das auch die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands ins Blickfeld rückte, unverhofft zwar, vage, Tage später schon wieder undenkbar, aber in deutlicher Kontinuität zu den politischen Zielen des 17. Juni 1953. Die Berichterstattung über die Ereignisse in Ungarn wieder zeigt den Informationsfluss über das Radio von Deutschland West nach Deutschland Ost und von Österreich in die DDR.

Die historische Quelle steht in einem weiten historischen Spannungsbogen. Er reicht von der beginnenden Entstalinisierung auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 zum „Gulaschkommunismus“ Kádárs, von Giereks moderater Führung zur Streikbewegung der Solidarnosc (1980), vom Kriegsrecht unter Marschall Jaruzelski in den 1980er Jahren zum parlamentarischen Machtwechsel in Polen. In Ungarn führte die anhaltende Liberalisierung im September 1989 zu der Entscheidung, den DDR-Flüchtlingen die Grenze nach Österreich zu öffnen.[9] Der Fall der Berliner Mauer war damit besiegelt. Er leitete zu einer demokratischen und nationalen Wiedervereinigungsrevolution über.[10] Zu diesem Gesamtgeschehen gehört die bis heute ungetrübte Ungarnfreundschaft der DDR-Deutschen, die viele Gründe hat, beginnend mit dem Fußball der frühen Jahre, den „Ballkünstler“ wie Puskás und Hildegkuti vorführten, im „Spiel des Jahrhunderts“ im Londoner Wembleystadion mit 6:3 gegen England, im Rückspiel am 23. Mai 1954 im Budapester Nepstadion sogar mit 7:1, zuletzt im Endspiel zur Fußballweltmeisterschaft gegen die deutsche Mannschaft, das die Ungarn verloren.[11] In einer Umfrage zur EU-Osterweiterung im Februar 2004 sprachen sich 84 Prozent der Ostdeutschen für die Aufnahme Ungarns aus.[12] Die Abwendung von der sowjetischen Hegemonialmacht verband die europäische reformkommunistische Bewegung in der Sache. Als die Warschauer Paktmächte 1968 in die Tschechoslowakei einmarschierten, [13] scheiterte sie endgültig. Mehr als zwei Jahrzehnte danach ging die Sowjetunion in einem Reformprozess unter, den Gorbatschows Glasnost und Perestroika eingeleitet hatten. Inzwischen veränderte sich das Trennende, aber es ist geblieben und dauert im Verhältnis zu Russland über den Tag der EU-Erweiterung hinaus an.


[1] Essay zur Quelle Nr. 5.6, Niederschrift des Leipziger Studenten Hartmut Zwahr vom 30. Oktober 1956.

[2] Die sorbischen Studierenden waren im Hochschulverband der Domowina zusammengefasst. Eine biographische Arbeit über Paul Nedo, den Volkskundler und Sorabisten am Sorbischen Institut der Karl-Marx-Universität Leipzig, gibt Einblick in sorbische Zusammenhänge. Vgl. Bresan, Annett, Pawol Nedo 1908-1984. Ein biographischer Beitrag zur sorbischen Geschichte, Bautzen 2002.

[3] Vgl. Hüttenberger, Peter, Überlegungen zur Theorie der Quelle, in: Rusinek, Bernd A.; Ackermann, Volker; Engelbrecht, Jörg (Hg.): Einführung in die Interpretation historischer Quellen. Schwerpunkt: Neuzeit, Paderborn 1992, S. 253-265.

[4] Der irische Ministerpräsident und amtierende Ratsvorsitzende der EU, Bertie Ahern, zit. nach: Von Portugal bis Estland: Die EU feiert, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. Mai 2004.

[5] Vgl. für das Jahr 1956 Winkler, Heinrich August, Der lange Weg nach Westen. Bd. 2: Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung, München 2000, S. 187f.

[6] Siehe auch Klimó, Árpád von, Zeitgeschichte als moderne Revolutionsgeschichte. Von der Geschichte der eigenen Zeit zur Zeitgeschichte in der ungarischen Historiographie des 20. Jahrhunderts, in: Nützenadel, Alexander; Schieder, Wolfgang (Hg.), Zeitgeschichte als Problem, Göttingen 2004, S. 283-306, bes. 303-306.

[7] Dazu Neubert, Ehrhart, Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, 2. Aufl. Bonn 2000, S.129f. Die historische Forschung hat diesen Zeitabschnitt vernachlässigt; vgl. Heydemann, Günther, Die Innenpolitik der DDR, München 2003, S. 19f., S. 74f.

[8] Vgl. Roth, Heidi, Der 17. Juni 1953 in Sachsen, Köln 1999; Zwahr, Hartmut, Drei Geschichten in einer, in: 17. Juni 1953. Ein Lesebuch, hg. von der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, Dresden 2003, S. 77-82.

[9] Dazu Hertle, Hans-Hermann, Der Fall der Mauer. Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates, Opladen 1996, S. 91-109; Hefty, Georg Paul, Dann gingen sie durch. DDR-Flüchtlinge und die Malteser, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. August 2004.

[10] Dazu Zwahr, Hartmut, Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig und die Revolution in der DDR, Göttingen 1993, S. 136-164; Ders., Die 89er Revolution in der DDR, in: Wende, Peter (Hg.), Große Revolutionen der Geschichte. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart, München 2000, S. 366-373.

[11] Zum so genannten „Wunder von Bern“ vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. April 2004.

[12] Vier Jahre zuvor 74 Prozent. Umfrage des Leipziger Instituts für Marktforschung, in: Leipziger Volkszeitung, 9. März 2004 (Die meisten Deutschen in Ost und West begrüßen größere EU).

[13] Vgl. Zwahr, Hartmut, Rok šedesatý osmý. Das Jahr 1968. Zeitgenössische Texte und Kommentare, in: François, Etienne u.a. (Hg.), 1968 – ein europäisches Jahr?, Leipzig 1997, S. 111-123.

 


Literaturhinweise:
  • Borhi, László, Hungary in the Cold War: 1945-1956. Between the United States and the Soviet Union, Budapest 2004
  • Foitzik, Jan (Hg.), Entstalinisierungskrise in Ostmitteleuropa 1953-1956. Vom 17. Juni bis zum ungarischen Volksaufstand; politische, militärische, soziale und nationale Dimensionen, Paderborn 2001
  • Heydemann, Günther; Roth, Heide, Systembedingte Konfliktpotentiale in der DDR der fünfziger Jahre. Die Leipziger Universität in den Jahren 1953, 1956 und 1961, in: Hoffmann, Dierk; Schwartz, Michael; Wentker, Hermann (Hg.), Vor dem Mauerbau. Politik und Gesellschaft in der DDR der fünfziger Jahre, München 2003, S. 205-234
  • Klimó, Árpád von, Zeitgeschichte als moderne Revolutionsgeschichte. Von der Geschichte der eigenen Zeit zur Zeitgeschichte in der ungarischen Historiographie des 20. Jahrhunderts, in: Nützenadel, Alexander; Schieder, Wolfgang (Hg.), Zeitgeschichte als Problem, Göttingen 2004, S. 283-306
  • Zwahr, Hartmut, Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig und die Revolution in der DDR, Göttingen 1993

Zwahr, Hartmut: Eindrücke eines Leipziger Studenten (30. Oktober 1956) [1]

Ereignisreiche Tage liegen hinter und noch vor uns. Für viele waren sie Tage des politischen Lernens und der Neuorientierung. Man kann sagen, die studentische Jugend beginnt zu erwachen. Mehr und mehr zeigt sich, welche Bedeutung im eigenen Denken vieler liegt. Diskussionen, Diskussionen. Selbsterkenntnis folgt auf Selbsterkenntnis. „Die Theorie wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift.“[2]So deutlich ist mir der Ausspruch von Karl Marx noch nie geworden, wie gerade in diesen Tagen. Jeder Student hört den Westfunk, österreichische Sendung und auch Polen.[3]Ob Genossen oder Parteilose, einerlei. „Es geht uns um Klarheit!“ Und trotzdem darf nicht vergessen werden, daß man bei uns jeden der Wortführer beobachten wird. Für die Erben des Stalinismus gibt es nur noch eine Parole – wo sich etwas Aufrührerisches zeigt, greifen wir zu.

Was keiner von uns für möglich hielt, ist eingetreten. Ungarn hat über die sowjetischen Truppen und das eigene Terrorregime gesiegt.[4]Nagy[5]erklärte heut[6]die Abschaffung des Einparteiensystems und die Säuberung des Rundfunks von den Elementen, die der Wahrheit noch nicht den Vorzug geben wollten. NW-Rundfunk meldete 5.000 Tote in Budapest und 30.000 Verletzte.[7]Hilfsaktionen sind im Gange. Die Bewegung nimmt zu den antisowjetischen Formen jetzt scheinbar antikommunistische an.

Die Nachricht vom Einfall Israels in Ägypten[8]wird wahrscheinlich die Situation bei uns etwas erleichtern.[9]

Unsere Presseorgane setzen sich offen in Widerspruch zu Polen, Ungarn, Rumänien und auch zur SU. Aus Protest ist von vielen das ND[10]abbestellt worden. Die Bevölkerung ist in Unruhe. Eine kaum wiederkehrende Chance für die Einheit Deutschlands ist gegeben. Ich bin gespannt, wie die Bonner Regierung handeln wird. Man munkelte, Verlegung der Regierung nach Berlin, Abzug der amerikanischen Truppen.

Die Bevölkerung der DDR orientiert sich eindeutig westlich. Sämtliche Abendnachrichten werden von uns Studenten abgehört. Bei Max[11]waren heut an die zehn Mann im Zimmer.[12]Unter ihnen auch F. Michalk,[13]der aus polnischen Zeitungen – Trybuna Ludu[14]– übersetzte. „My dyrbimy jara skedzbliwi byc.“[15]Auch Frank Förster[16]äußerte sein Erstaunen über unseren offenen Ton. Er kommt von der „roten Hochburg“ Potsdam, an deren Pädagogisch-Historischer Fakultät[17]notorische Nichtskönner sitzen. Ihre Stütze ist die Partei[18], ist der Apparat. Wirklich tief erschüttert erzählte mir[19]Frank, er habe dort nicht einmal seinem besten Freunde etwas berichten können, jeder dachte das Gleiche, aber die Furcht hielt alle nieder.[20]In jedem Studienjahr wurde ein Präzedenzfall statuiert, der die anderen abschrecken sollte. „Nach 14 Tagen hatte man mich fertig gemacht, dann wagte ich nichts mehr zu sagen, und langsam verlernte man das Denken. Hier in Leipzig bin ich mir der Lage erst wieder einmal bewußt geworden. Ihr könnt euch ja gar nicht vorstellen, wie das ist. Meinst du nicht, daß es in eurem Studienjahr, in eurer Seminargruppe einen gibt, der die Äußerungen schön säuberlich in ein Notizbuch einträgt? Ich habe Damm[21]gesagt, du verbrennst dir auch noch einmal die Schnauze. Sagt mir, wem nützt ihr, behaltet die Sache für euch. Der XX. Parteitag hat nichts geändert,[22]der neue Kurs[23]ist der alte geblieben.“[24]

Im Grunde genommen, hat er Recht. Vorsicht tut not. Wenn wir nicht solche Professoren wie Sproemberg,[25]Morenz,[26]Bardtke,[27]Mayer,[28]Bloch,[29]Schulz[30]hätten, die das politische Klima und die Personalpolitik mitbestimmen, hätte man uns schon längst das Fell über die Ohren gezogen.

Die Bewegungen an der Humboldt-Universität sind unterdrückt worden[31], der Berliner Oberbürgermeister Suhr[32]forderte die Studenten auf, sich nicht herausfordern zu lassen, um Blutvergießen zu vermeiden. Um Berlin sind russische Truppen zusammengezogen worden. „Erst muß der Deckel runter.“ (Damit ist U.[lbricht] gemeint, auf den sich der Haß der Bevölkerung konzentriert; es soll überkochen). Die Massen strömen nur so am Sonnabend und Sonntag in das Leipziger Kabarett „Pfeffermühle“[33], um sich einmal Luft zu machen. Einen Monat vorher waren die Kabarettisten nahe am Bankrott. Es liegt etwas in der Luft, aber keiner wagt den Anfang. Die Zeitungen schreiben von Vertrauensbeweisen, neu gebildeten GST-Einheiten[34]und Normerfüllung aus Protest[35]gegen die „Konterrevolution“ in Ungarn.

Besonnene Leute bei uns fürchten eine Bewegung auf der Straße. Die antikommunistischen Bevölkerungsteile sind so stark, ich denke an die prowestliche Kundgebung (Kaiserslautern[36]gegen Aue[37]), daß bei uns linksradikaler stalinistischer Flügel mit den Nationalkommunisten[38]zusammengeht. Einen deutschen Gomulka[39]würde die Bewegung einfach beiseite schieben. Daher schweigen die Zeitungen und versuchen, die öffentliche Meinung zu beruhigen. Aber dennoch. Von Mund zu Mund gehen die Nachrichten über die neuen Ereignisse (Puskás sollte schon gefallen sein,[40]Czermak,[41]ebenfalls, auch Kocsis kämpfen auf der Gegenseite) und über die Geheimdokumente des XX. Parteitages.[42]In Polen[43]und Ungarn[44]waren die Studenten Führer der Bewegung.

Bild einer Originalquellenseite:

 



[1] Auszug (nach Dudennorm) aus dem handschriftlichen Original. Transkription durch Hartmut Zwahr.

[2] In Anlehnung an Marx, Karl, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEW, Bd. 1, S. 385. „Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.“

[3] Sorbische Studierende bezogen Informationen auch aus dem polnischen Rundfunk.

[4] Geschrieben unter dem Eindruck des von Ministerpräsident Imre Nagy ausgehandelten Abzugs der sowjetischen Truppen, der am 30. Oktober, dem Tag der Regierungsumbildung zu einer Koalitionsregierung, erfolgte. Der Angriff sowjetischer Truppen auf Budapest und die Bildung einer prosowjetischen Regierung durch Kádár führten seit dem 4. November 1956 zum Scheitern der ungarischen Revolution; diese umfasst die Ereignisse vom 23. Oktober bis etwa 15. November 1956.

[5] Imre Nagy (1896-16.6.1958, Reformkommunist, hingerichtet): seit der Nacht vom 23. zum 24. Oktober 1956 wieder Ministerpräsident. János Kádár (ungarischer Ministerpräsident seit 4.11.1956 und Erster Sekretär des ZK der neu gegründeten kommunistischen Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei seit 25. Oktober 1956) leitete nach der Besetzung durch sowjetische Truppen die Verfolgung der am Aufstand Beteiligten ein. 1958 wurde Nagy in einem geheimen Gerichtsverfahren zum Tode verurteilt und hingerichtet; rehabilitiert am 16. Juni 1989 in einem Staatsakt.

[6] Nach Wiederzulassung der Parteien am 30. Oktober versprach Nagy Freie Wahlen, kündigte am 1. November die Mitgliedschaft im Warschauer Pakt und proklamierte die Neutralität Ungarns.

[7] Die Zahlen sind überhöht; der Aufstand forderte 2.652 Todesopfer, 239 Aufständische wurden hingerichtet.

[8] Der Krieg, den England und Frankreich auf dem Höhepunkt der Ungarnkrise, zusammen mit Israel, seit dem 29. Oktober 1956 gegen Ägypten führten, um die Verstaatlichung der Suezkanalgesellschaft rückgängig zu machen. Am 6. November willigten die Beteiligten in einen Waffenstillstand ein.

[9] Im Sinne von: entspannen.

[10] Die Tageszeitung Neues Deutschland. Abk. ND. Organ des Zentralkomitees der SED.

[11] Max Schurmann (geb. 1934 in Seidewinkel bei Hoyerswerda); Besuch der Sorbischen Oberschule in Bautzen; studierte an der Karl-Marx-Universität im 7. Semester Geschichte.

[12] Im „Handrij-Zejler-Heim“, dem Wohnheim für sorbische Studierende, Leipzig C 1, Johann-Sebastian-Bach-Str. 44.

[13] Dr. habil. Siegfried Michalk (Frido Michalk, geb. 1927 in Rachlau bei Bautzen, gest. 1992), Slawist und Sorabist, damals Assistent am Sorbischen Institut der KMU, später wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für sorbische Volksforschung der Akademie der Wissenschaften der DDR in Bautzen. Vgl. Michalk, Frido, Studia o jezyku luzyckim. Studije k serbskej reci, Warschau 1994; Ders., Studien zur sorbischen Sprache, Bautzen 1995; ferner: Faßke, Helmut; Jentsch, Helmut; Michalk, Siegfried, Sorbischer Sprachatlas – Serbski recny atlas, Bde. 1-15, Bautzen 1965-1996.

[14] Trybuna Ludu (poln. Tribüne des Volkes). Zentralorgan der Polnischen Kommunisten.

[15] „Wir müssen sehr vorsichtig sein.“ Die Gespräche wurden vorwiegend auf Sorbisch geführt.

[16] Frank Förster (geb. 1937 in Bad Muskau), studierte nach dem Besuch der Oberschule in Weißwasser an der Karl-Marx-Universität Leipzig im 3. Semester Geschichte und im ersten Semester Sorabistik (einschließlich Volkskunde). Vgl. Musiat, Siegmund, Prof. Dr. Frank Förster 65 Jahre, in: Letopis. Zeitschrift für sorbische Geschichte, Sprache und Kultur 49 (2002) 1, S. 148f.

[17] Die Pädagogische Hochschule Potsdam, von der Förster nach zwei Semestern an die KMU Leipzig wechselte.

[18] Die SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands).

[19] Hartmut Zwahr (geb. 1936 in Bautzen), Student der Geschichte im 3. und der Germanistik im ersten Semester; vgl. Figuren und Strukturen in der Geschichte. Ehrenkolloquium für Hartmut Zwahr zum 65. Geburtstag, hg. vom Rektor der Universität Leipzig, Leipzig 2002.

[20] Autobiographische Einblicke in vergleichbaren Lebens- und Arbeitsbedingungen an der SED-Parteihochschule während der Aufbauphase liefert Weber, Hermann (in Zusammenarbeit mit Gerda Weber), Damals, als ich Wunderlich hieß. Vom Parteihochschüler zum kritischen Sozialisten. Die SED-Parteihochschule „Karl Marx“ bis 1949, Berlin 2002.

[21] Peter Damm, Geschichtsstudent im 3. Semester, verließ noch als Student die DDR.

[22] Der XX. Parteitag der KPdSU vom 14. bis 25. Februar in Moskau mit seinen Entstalinisierungsfolgen vor allem in Ungarn (u.a. die Ablösung Rakosis als Erster Sekretär der Partei der Ungarischen Werktätigen) sowie Polen.

[23] Der vom SED-Politbüro am 9. Juni 1953 verkündete Neue Kurs, in den der Ausbruch des Aufstandes vom 17. Juni 1953 hineinwirkte.

[24] Ulbricht beendete den neuen Kurs, indem er die Auswirkungen des XX. Parteitages auf die DDR blockierte und die Entstalinisierung der SED und damit der DDR verhinderte. Dazu Mitter, Achim; Wolle, Stefan, Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte, München 1993, S. 163-366.

[25] Der Mediävist Heinrich Sproemberg (1889-1966), seit 1950 Direktor der Mittelalter-Abteilung des Instituts für Allgemeine Geschichte und des Landesgeschichtlichen Instituts, seit 1951 Leiter der Fachrichtung Geschichte, 1958 im politischen Konflikt durch Emeritierung ausgeschieden; zur Biographie Unger, Manfred, Heinrich Sproemberg †. 1889-1966, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 3 (1968), S. 276-279.

[26] Der Ägyptologe Siegfried Morenz (1914-1970), Direktor des Instituts für Ägyptologie sowie Vizepräsident der Sächsischen Akademie der Wissenschaften.

[27] Der Theologe Hans Bardtke (1906-1975), Professor für alttestamentliche Wissenschaft.

[28] Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer (1907-2001), lehrte von 1948 bis 1963 am Germanistischen Institut. Vgl. Mayer, Hans, Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen, Bd. 2, Frankfurt am Main 1984, S. 94-260.

[29] Der Philosoph Ernst Bloch (1885-1977), vom Ministerium für Volksbildung per Dekret am 25. Mai 1948 als Professor und Direktor des Instituts für Philosophie der Universität Leipzig eingesetzt. Am 1. September 1957 mit seinem Einverständnis, aber wohl gegen seinen Willen emeritiert, kehrte er nach dem Bau der Mauer nicht in die DDR zurück. Blochs Lehrtätigkeit endete schon im Januar 1957. Vgl. Denken ist Überschreiten. Ernst Bloch in Leipzig. Ausstellung der Kustodie der Universität Leipzig, 13. Mai bis 17. Juli 2004; Mayer, Thomas, Erkundungstour in schwieriges Gelände. Uni-Ausstellung über Ernst Bloch und Leipzig, in: Leipziger Volkszeitung, 8./9. Mai 2004.

[30] Robert Schulz (1914-2000), als Kriegsgefangener in der Sowjetunion im Nationalkomitee Freies Deutschland als Lehrer tätig; von 1951 bis 1959 an der KMU Professor für Dialektischen und Historischen Materialismus.

[31] Am 5. November 1956 demonstrierten die Studenten aus Protest gegen die Niederschlagung der Ungarischen Revolution noch einmal am nahe der Universität gelegenen Brandenburger Tor. Zur „Unruhe an allen Universitäten der DDR, hauptsächlich aber in Berlin“ vgl. Neubert (wie Anm. 7), S. 129f.

[32] Otto Suhr (1894-1957), SPD, von 1955 bis zu seinem Tode Regierender Bürgermeister von Berlin (West).

[33] Gegründet 1954. Dazu Hoerning, Hanskarl, Die Leipziger Pfeffermühle. Geschichten und Bilder aus fünf Jahrzehnten, Leipzig 2004.

[34] Gesellschaft für Sport und Technik, im Sommer 1952 in zeitlicher Nähe zur Kasernierten Volkspolizei (KVP) gegründet; die GST diente der vormilitärischen Ausbildung und Erziehung.

[35] Missverständlich. Aus Protest gegen das Ereignis, das die SED die ungarische „Konterrevolution“ nannte.

[36] Der 1. FC Kaiserslautern gewann im Leipziger Zentralstadion am 6. Oktober 1956 (!) das Fußballspiel gegen Aue mit 5:3 vor 110.000 Zuschauern, die überwiegend der westdeutschen Mannschaft zujubelten. So viele Besucher gab es danach nie wieder. Meine Eintrittskarte hat die Nr. 70.789. Vgl. auch Leipziger Volkszeitung, 1. April 2004 (Willy Tröger gestorben).

[37] Die Betriebssportgemeinschaft Wismut Aue: 1954 vom Deutschen Fußball-Verband (DDR) umbenannt in Sportclub SC Wismut Karl-Marx-Stadt (bis 1963). Die Umbenennung wurde nie wirklich angenommen.

[38] Für die nationalkommunistische Oppositionsgruppe stand innerhalb der SED Wolfgang Harich (1921-1995), schon am 29. November 1956 verhaftet. Vgl. Janka, Walter, Schwierigkeiten mit der Wahrheit, Reinbek 1990; Harich, Wolfgang, Keine Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Zur nationalkommunistischen Opposition 1956 in der DDR, Berlin 1993.

[39] Wladyslaw Gomulka (1905-1982). Der nach Inhaftierung (1951/54) und Posener Aufstand (Juni 1956) im „Polnischen Oktober“ rehabilitierte Gomulka versprach bei Respektierung der sowjetischen Vorherrschaft, einen polnischen Weg zum Sozialismus einzuschlagen. Seine Popularität schwand, je stärker die Parteiführung die 1956 gewährten Freiheiten abbaute. 1968 gehörten er und Ulbricht zu den entschiedensten Befürwortern einer militärischen Intervention gegen den „Prager Frühling“; dazu Selvage, Douglas, The Treaty of Warsaw: The Warsaw Pact context, in: Bulletin of the German Historical Institute, Supplement 1, Washington 2004, S. 67-79.

[40] Ein Gerücht. Ferenc Puskás (später bei Real Madrid) und Sandor Koczis (später beim FC Barcelona) standen 1954 im Berner Endspiel um die Fußballweltmeisterschaft. Die Enttäuschung vieler Ungarn
über die Niederlage führte erstmals zu Demonstrationen gegen das politische System. Bei Ausbruch des Aufstands gingen Kispest Honved FC und MTK Hungaria FC, die führenden Budapester Klubs, auf Europatournee. Unter den Bedingungen des Ausnahmezustands kehrte eine Reihe von Spielern nicht zurück.

[41] Vermutlich Hörfehler.

[42] Die so genannte Geheimrede Chruschtschows zu Stalin und dessen Herrschaftspraxis.

[43] Die studentischen Demonstrationen im „Polnischen Oktober“ brachten Gomulka am 19.10.1956 an die Spitze der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR).

[44] Beginnend in Budapest, wo Studenten am 23. Oktober 1956 auf einer Kundgebung eine unabhängige nationale Politik forderten, beruhend auf den Prinzipien des Sozialismus, demokratischen Reformen und geheimen Wahlen sowie der Gleichheit gegenüber allen Staaten (also auch gegenüber der Sowjetunion).

 



Die Druckversion des Essays findet sich in Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005.
Für das Themenportal verfasst von

Hartmut Zwahr

( 2007 )
Zitation
Hartmut Zwahr, Hoffnungen im Herbst 1956: Ungarn hat über die sowjetischen Truppen und das eigene Terrorregime gesiegt, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2007, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1367>.
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