Der preussische Verfassungskonflikt 1862–66 und die französische Krise von 1877 als Schlüsselperioden der Parlamentarismusgeschichte
Von Thomas Raithel
Der Beitrag vergleicht die beiden zwischen Staatsoberhaupt und Parlament durchgefochtenen Konflikte. Der preußische Verfassungskonflikt war im Wesentlichen ein Streit um die Reichweite der legislativen Funktion der Abgeordnetenkammer, die im Rahmen einer konstitutionellen Monarchie in Kooperation mit dem König auszuüben war. Nur kurzzeitig kam auch die Möglichkeit ins Spiel, dass die Kammer maßgeblichen Einfluss auf die Regierungsbildung und somit auch eine regierungstragende Funktion gewinnt. Letztlich erfolgte eine Befestigung der konstitutionellen Monarchie – mit weitreichenden Folgen für das spätere Deutsche Reich. In der Dritten Französischen Republik, die zunächst ein parlamentarisch-präsidentielles Mischsystem war, ging es 1877 um die Sicherung der bereits vorhandenen regierungstragenden Funktion der Abgeordnetenkammer. Der Versuch von Staatspräsident Mac Mahon, eine Verantwortlichkeit des Kabinetts auch ihm gegenüber zu etablieren, konnte unterbunden werden. Hierbei war die Budgetverweigerung ein wirkungsvolles Druckmittel, da das Parlament die alleinverantwortlich legislative Funktion besaß. Das parlamentarische System kam nun zum vollen Durchbruch. Prägend war allerdings auch, dass keine Berufung des parlamentarischen Mehrheitsführers zum Ministerpräsidenten erfolgte.
Le conflit constitutionnel prussien de 1862–1866 et la crise parlementaire française de 1877 font l’objet, à titre comparé, de cette contribution. Dans les deux cas il s’agit d’un conflit entre le chef de l’État et le Parlement. Dans le premier, le désaccord porte fondamentalement sur l’étendue des pouvoirs législatifs que la Chambre des députés partage avec le roi de Prusse (monarchie constitutionnelle). L’éventualité que la Chambre puisse également exercer une influence déterminante sur la formation du gouvernement ne paraît possible que pendant une période très courte. Au final, c’est le régime de la monarchie constitutionnelle qui sort renforcé du conflit – avec des conséquences très importantes pour le futur empire allemand. Dans le second cas, sous la Troisième République qui est au départ un système mixte, mi-parlementaire, mi-présidentiel, le conflit de 1877 porte sur la défense des pouvoirs que la Chambre des députés détient en propre sur la formation, le soutien et le cas échéant le renversement du gouvernement, issu normalement de la majorité parlementaire. Alors que les ministres sont solidairement responsables devant le Parlement, et devant lui seul, la tentative du président Mac Mahon pour soumettre la politique gouvernementale à l’approbation du président de la République est mise en échec. Le refus de voter le budget, matière pour laquelle le Parlement est seul compétent, sert de moyen de pression aux députés. À l’issue du conflit, c’est le système parlementaire qui triomphe. À une nuance près qui, cependant, devait s’avérer importante par la suite : le chef de la majorité parlementaire n’a pas été désigné président du Conseil.
***
Die sechziger und siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts bilden in der deutschen und der französischen Parlamentarismusgeschichte eine deutliche Zäsur. Während sich auf der einen Seite das Modell der konstitutionellen Monarchie verfestigte, erfolgte auf der anderen eine klare Wendung zum parlamentarischen System. Im Mittelpunkt dieser abweichenden Entwicklungen stand der deutsch-französische Krieg von 1870/71, der den entscheidenden Impuls für die Gründung des Deutschen Reiches und der Dritten Französischen Republik gab. Zuvor war im preußischen Verfassungskonflikt von 1862–66 bereits eine Vorentscheidung über die Verfassungsverhältnisse eines künftigen deutschen Nationalstaats gefallen, und erst einige Jahre nach der Republikgründung errang in Frankreich die parlamentarische Demokratie in der Krise von 1877 den entscheidenden innenpolitischen Sieg.[1]
Wenn nun im Folgenden versucht wird, diese beiden großen verfassungspolitischen Machtkämpfe einer vergleichenden Betrachtung zu unterziehen[2], so stellt sich zum einen die Frage nach der Vergleichbarkeit, zum anderen jene nach dem wissenschaftlichen Ertrag. Lassen sich der preußische Verfassungskonflikt und die französische Krise von 1877 angesichts der abweichenden Vorgeschichten und Kontexte überhaupt sinnvoll miteinander vergleichen? Und inwiefern lässt sich der parlamentarismusgeschichtliche Stellenwert dieser Krisen durch ein komparatistisches Überdenken in einem schärferen Licht erfassen? Bevor diesen Fragen nachzugehen sein wird, sollen zunächst Kontext und Verlauf beider Konflikte kurz rekapituliert werden.
Die beiden Krisen als nationalgeschichtliche Ereignisse
Bekanntlich nahm in Preußen, das erst im Gefolge von 1848 eine konstitutionelle Monarchie geworden war
[3], der Verfassungskonflikt seinen Ausgang in dem bereits 1860 einsetzenden Streit zwischen der Regierung und der liberalen Mehrheit des Abgeordnetenhauses über die Gestaltung einer Heeresreform. Im Prinzip war die Notwendigkeit einer Reform und auch einer Erhöhung der Friedensstärke nicht umstritten. Auf heftigen Widerstand stieß allerdings die innenpolitisch motivierte und vom Prinzregenten bzw. ab Januar 1861 von König Wilhelm I. mit Nachdruck vertretene Forderung, die Wehrdienstzeit auf drei Jahre zu verlängern. Nicht zuletzt, weil strittig war, ob in dieser Frage ein Gesetz notwendig sei, suchte die parlamentarische Mehrheit die Dienstzeitverlängerung über eine Verweigerung von Haushaltsmitteln zu Fall zu bringen. In den Jahren 1860 und 1861 waren zunächst noch provisorische Deckungen des Militäretats verabschiedet worden. Nach den Wahlen vom Dezember 1861, aus denen die Liberalen und vor allem die neugegründete Deutsche Fortschrittspartei als Sieger hervorgingen, schlug der Wehr- in einen Verfassungskonflikt um. Die Parlamentsauflösung vom März 1862 führte in den anschließenden Neuwahlen zu einem erneuten liberalen Erfolg. Wendepunkt war der September 1862, als ein ordnungsgemäßer Haushalt scheiterte und Wilhelm I. statt abzudanken den bereits in Wartestellung befindlichen Otto von Bismarck zum Ministerpräsidenten berief. Über Jahre hinweg regierte dieser nun im offenen Konflikt mit dem Abgeordnetenhaus ohne verfassungsmäßiges Budget. Erst 1866, unter dem Eindruck des preußischen Sieges gegen Österreich und des konservativen Erfolgs in den Wahlen zum Abgeordnetenhaus, kam der Kompromiss eines Indemnitätsgesetzes zustande, mit dem das Parlament die Staatsausgaben seit 1862 nachträglich billigte. Die – wie es Bismarck nach seinem Amtsantritt vorausgesagt hatte
[4] – „durch Eisen und Blut“ und nicht „durch Reden und Majoritätsbeschlüsse“ vollzogene Nationalpolitik hatte den Verfassungskonflikt gleichsam überwölbt.Die französische Krise von 1877 steht im Kontext einer diffusen verfassungspolitischen Situation und eines anhaltenden Konflikts um die Staatsform. Der allmähliche Aufbau einer parlamentarischen Republik hatte zwar durch die 1875 erfolgte Verabschiedung dreier großer Verfassungsgesetze erhebliche Fortschritte gemacht.
[5] Allerdings gab es auch auf dieser neuen Grundlage noch immer ein erhebliches Potential an präsidentiellen Gestaltungsmöglichkeiten. Seit 1873 amtierte als Präsident der Republik Marschall Mac Mahon, der aus Sicht der konservativen Kräfte ursprünglich Platzhalter für einen künftigen Monarchen sein sollte. In einer Art
cohabitation[6] standen ihm seit den Wahlen von 1876 eine republikanische Mehrheit in der Abgeordnetenkammer sowie gemäßigt republikanische Ministerpräsidenten gegenüber, sodass bereits mit einer Verfassungskrise gerechnet wurde. Die Gegensätze spitzten sich im Vorfeld des Konflikts dann besonders in religionspolitischen Fragen zu. Die akute Krise nahm ihren Anfang, als Mac Mahon am 16. Mai 1877 dem Ministerpräsidenten Jules Simon in einem Brief vorwarf, sich zu sehr der parlamentarischen Mehrheit unterzuordnen, und ihn dann zum Rücktritt bewog.
[7] Ausdrücklich betonte der Marschall dabei seine Verantwortlichkeit gegenüber Frankreich.
[8] Anschließend berief der Staatspräsident gegen den Willen der Kammer das konservative Ministerium de Broglie. Für die labile parlamentarische Republik war der nun einsetzende Machtkampf eine gefährliche Herausforderung, aber auch eine Chance zur weiteren Fundierung. Als die von den vier republikanischen Fraktionen gebildete und unter der energischen Führung Léon Gambettas stehende Kammermehrheit
[9] die verkappte Entlassung einer Regierung und die eigenständige Kabinettsbildung durch den Präsidenten mit einem Misstrauensvotum gegen die Regierung de Broglie beantwortete, konterte Mac Mahon mit der Kammerauflösung. Wie von der Verfassung gefordert, gab der Senat hierfür seine Zustimmung.
[10] In dieser Situation kam dem Ausgang der Neuwahlen im Oktober 1877 entscheidende Bedeutung zu. Die Mehrheitsverhältnisse wurden jedoch trotz massiver Wahlbeeinflussung durch die konservative Staatsmacht kaum verändert, und die neue Kammer sanktionierte den Eingriff in das Prinzip der parlamentarischen Regierungsverantwortung mit einer konsequenten Verweigerung aller politischen Beziehungen zu der inzwischen vom Marschall eingesetzten „Geschäftsregierung“ Rochebouët. Hierzu gehörte insbesondere auch die Blockade der anstehenden Budgetbewilligung. Der Präsident gab schließlich im Dezember 1877 nach, indem er im Einklang mit der Kammermehrheit erneut, wie bereits im Februar 1876, den rechtsliberalen Armand Dufaure mit der Regierungsbildung betraute. Den Epilog bildete dann Anfang 1879 der Rücktritt des zunehmend isolierten Mac Mahon. Zum neuen Präsidenten der Republik wurde nun Jules Grévy gewählt, der dem Amt eine weitaus restriktivere Auslegung gab.
[11]Die beiden Krisen im Vergleich
Probleme, Kategorien und Zielsetzung des Vergleichs
Ein parlamentarismusgeschichtlicher Vergleich beider Krisen bietet einige grundsätzliche Probleme, die vor allem aus den sehr unterschiedlichen Verfassungsbedingungen Preußens und der frühen Dritten Republik resultieren. Orientierte man sich stärker an Analogien im verfassungsgeschichtlichen Entwicklungsstand, so läge ein Vergleich des preußischen Konflikts mit den französischen Vorgängen der Jahre 1829 und 1830 zweifellos näher.
[12] Zudem ist zu berücksichtigen, dass Vergleiche derart umfangreicher Ereigniskomplexe, die stark vom Handeln einzelner Persönlichkeiten geprägt sind, und die ein hohes Maß an nationalhistorischer Individualität aufweisen, besonders schwierig sind und in sich stets die Gefahr von Kurzschlüssen bergen. Diesen Einwänden lässt sich entgegenhalten, dass es im preußischen Verfassungskonflikt und in der französischen Krise von 1877 doch so etwas wie einen analogen Grundkonflikt zwischen Parlament und Staatsoberhaupt
[13] gegeben hat, der charakteristisch ist für den langwierigen Prozess der Parlamentarisierung in Europa. Ein Vergleich, der ausgehend von diesem elementaren
tertium comparationis auf die unterschiedliche Ausprägung der Konflikte in zeitlicher Nähe zielt, ist prinzipiell genauso legitim wie ein asynchroner Vergleich, der eher bestimmte Gemeinsamkeiten in den Blick nimmt.
Um die verschiedenen Konfliktfelder in einer gemeinsamen Sprache zu erfassen und somit vergleichbar zu machen, ist der Bezug auf relativ abstrakte Kategorien erforderlich. Die im Folgenden verwendeten Grundbegriffe stehen in der Tradition einer funktionalen Parlamentarismusanalyse. Dieser Ansatz, der in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts von Walter Bagehot durch die genaue Beobachtung des englischen Unterhauses begründet worden ist[14], hat vor allem den Vorzug, flexibel mit unterschiedlichen Ausprägungen des parlamentarischen Systems umgehen zu können. Der eigentliche Kern des preußischen Verfassungskonflikts und der französischen Krise von 1877 kann durch den Bezug auf zwei parlamentarische Hauptfunktionen erfasst werden: Dies ist zum einen die traditionelle legislative Funktion, die immer auch eng mit der Funktion der parlamentarischen Kontrolle verbunden ist und deren bedeutendsten Aspekt die gesetzmäßige Budgetbewilligung bildet. In der konstitutionellen Monarchie wird die legislative Funktion in Kooperation mit der Krone ausgeübt, während im parlamentarischen System die volle Gesetzgebungsgewalt im Prinzip beim Parlament liegt. Mindestens ebenso wichtig aber werden im parlamentarischen System die im Folgenden als regierungstragende Funktion bezeichnetenAufgaben, die sich aus der politischen Verantwortung der Regierung gegenüber dem Parlament ergeben: Erstens die parlamentarische Bildung der Regierung oder doch zumindest ein maßgeblicher Einfluss des Parlaments auf die Regierungsbildung, zweitens die Unterstützung der Regierungsarbeit durch eine parlamentarische Mehrheit[15], und drittens – gleichsam als negatives Potential – die Abberufung einer Regierung.[16] Mit Hilfe der genannten Kategorien soll nun versucht werden, die jeweilige funktionale Krisenkonstellation zu beschreiben und die langfristige parlamentarismusgeschichtliche Prägekraft beider Krisen zu bewerten. Dass dies hier nur in groben Strichen möglich ist, versteht sich von selbst.[17] Weitgehend ausgeklammert bleiben die Auswirkungen auf die jeweils konfliktauslösenden Themen der Militär- und Religionspolitik sowie auf die Parteienentwicklung.[18]
Krisenkonstellationen
Im Mittelpunkt des preußischen Verfassungsstreits stand der Geltungsbereich der legislativen Funktion des Parlaments innerhalb einer konstitutionellen Monarchie. Dabei verband sich das Problem der königlichen Kommandogewalt mit dem Streit um das Budgetrecht. Eine entscheidende Frage war, wie weit die in der Verfassung von 1850 verbürgte gleichberechtigte Gesetzgebungskompetenz des Abgeordnetenhauses
[19] reichte und ob sie sich auch auf den gesamten Bereich des Militärwesens erstreckte. Eine zweite Grundfrage lag darin, ob der Monarch bei einer parlamentarischen Ablehnung des Budgets eigenständig Staatsausgaben tätigen durfte. Die preußische Verfassung, wie überhaupt das System der konstitutionellen Monarchie, sah für einen derartigen Konflikt in der legislativen Kooperation bekanntlich keine klare Lösung vor. Hier setzte die schon seit längerem entwickelte „Lückentheorie“
[20] an, die von Bismarck aufgegriffen und als Grundlage für ein den Verfassungskonflikt in die Länge ziehendes Notrecht des Königs eingesetzt wurde. Im Gegensatz zu der von den konservativen Ultras vertretenen Konfliktlösung durch einen Staatsstreich war damit zumindest der Anschein der Legalität gewahrt.
Das Abgeordnetenhaus stand dieser Situation, an der auch ein erneuter liberaler Wahlerfolg im September 1863 nichts ändern konnte, relativ machtlos gegenüber. Bezeichnend ist die Klage des liberalen Historikers und Abgeordneten Heinrich von Sybel im Mai 1863, dem Abgeordnetenhaus fehlten wirkungsvolle Mittel, um „Bismarck zu werfen“.[21] Die Budgetverweigerung als wichtigste Waffe der Parlamentsmehrheit bildete im Rahmen der preußischen Verfassung und unter der Herrschaft des monarchischen Prinzips letztlich ein Kampfmittel mit beschränkter Wirksamkeit, welches nicht ausreichte, das Vorgehen von Monarch und Regierung als offenen Verfassungsbruch erscheinen zu lassen. Eine derartige Entwicklung wiederum hätte möglicherweise den öffentlichen Druck zugunsten des Parlaments weiter gesteigert, wobei allerdings fraglich ist, inwieweit dies wirklich politische Folgen gehabt hätte. Trotz aller öffentlichen Adressen des Abgeordnetenhauses und trotz aller zeitweise mit massiver Repression beantworteten Kritik liberaler Zeitungen an der Regierung gelang es nicht, zu einer wirklich breiten Mobilisierung der Öffentlichkeit zu kommen.[22] Auch die vereinzelt erwogene „Niederlegung des Mandats in Masse“ hätte hier vermutlich wenig bewirkt und wäre vielleicht sogar als Kapitulation aufgefasst worden.[23] Die einzige Möglichkeit, die blockierte Situation zu durchbrechen, hätte aber analog der französischen Julirevolution von 1830 vermutlich in einer das Parlament unterstützenden revolutionären Bewegung gelegen. Davon konnte freilich im Preußen der 1860er Jahre keine Rede sein, obgleich es manche liberale Spekulation[24] und zeitweise auch gewisse Befürchtungen Wilhelms I. gab.[25] Hinzu kam, dass seit Herbst 1863 die Zuspitzung der Schleswig-Holstein-Frage und dann die preußisch-österreichische Konfrontation aus nationalpolitischen Gründen einen scharfen Konfliktkurs der preußischen Liberalen kaum noch zuließen. Wenn das im Indemnitätsgesetz von 1866 niedergelegte Ergebnis des Budgetkonflikts schließlich nach außen hin eher ein Unentschieden als eine Niederlage der Parlamentsmehrheit brachte, so lag dies im Wesentlichen an der innenpolitischen Strategie Bismarcks. Aus nationalpolitischen Motiven wollte dieser, sehr zum Unwillen vieler Ultrakonservativer, keineswegs hinter die Bedingungen des Konstitutionalismus zurück. Die umfassende legislative Mitwirkungskompetenz des Abgeordnetenhauses wurde so durch die budgetrechtliche Indemnitätsvereinbarung im Prinzip bestätigt, ebenso aber auch ein Notrecht der Regierung sowie die Ausnahmestellung der königlichen Kommandogewalt.[26]
Bei aller Bedeutung des legislativen Streitfalls darf nicht übersehen werden, dass es im preußischen Verfassungskonflikt phasenweise auch um einen Einstieg des Parlaments in die regierungstragende Funktion ging. De facto hatte es einen derartigen Ansatz bereits in der Paulskirche und auch in verschiedenen Länderkammern der Revolutionszeit von 1848/49 gegeben
[27], ohne dass dies freilich in den liberalen Verfassungsvorstellungen markante Spuren hinterlassen hätte. Bemerkenswert an der Entwicklung während des preußischen Konflikts ist vor allem, dass sie sich zunächst in einer gewissen Eigendynamik und fast wider Willen der verfassungsrechtlich am Status quo orientierten Mehrheit des Abgeordnetenhauses eröffnete.
[28] Indem diese in der Budgetfrage hart blieb, spitzte sich im Herbst 1862 die Lage derart zu, dass Wilhelm I. angesichts der wehrpolitischen Kompromissbereitschaft im bisherigen Ministerium Hohenlohe massiv mit der Abdankung drohte.
[29] Der dann anstehende Thronwechsel zu dem mit der liberalen Opposition sympathisierenden Kronprinzen Friedrich Wilhelm (dem späteren Friedrich III.) hätte aller Voraussicht nach auch die Einsetzung einer liberalen Regierung zur Folge gehabt. Unabhängig von der Frage, wie ernst Wilhelm I. Mitte September 1862 seine Drohung wirklich meinte
[30] – entscheidend war in dieser Situation, dass mit Bismarck ein überaus energischer Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten und für die Verteidigung der königlichen Prärogative bereitstand. Erst der Amtsantritt Bismarcks und der Übergang zur unnachgiebigen Politik der Lückentheorie verhinderten eine mögliche Abdankung samt Regierungswechsel. „Der schärfste und letzte Bolzen der Reaktion von Gottes Gnaden“ – so zeitgenössisch August Ludwig von Rochau zur Berufung Bismarcks
[31] – erwies sich als äußerst wirkungsvoll.
Sicher hätte eine Thronbesteigung Friedrich Wilhelms noch nicht die volle Parlamentarisierung Preußens bedeutet. Aber mit einem vom Abgeordnetenhaus ausgelösten Thronwechsel wäre ein spektakulärer Präzedenzfall für die parlamentarische Abberufung einer Regierung geschaffen worden. Darüber hinaus wäre die Installierung eines liberalen Ministeriums auch ein Vorbild für eine an den Mehrheitsverhältnissen orientierte Regierungsbildung gewesen. Auch wenn die Mehrheit der Abgeordneten vermutlich noch keineswegs derart weitreichende Intentionen hatte[32], ging es hier letztlich um die von Bismarck gegenüber dem König beschworene Alternative „königliches Regiment oder Parlamentsherrschaft“.[33] Die in der Literatur verbreitete, oft jedoch sehr allgemein begründete These einer möglichen Parlamentarisierung Preußens kann sich ernsthaft nur auf diesen kurzen historischen Augenblick im Herbst 1862 beziehen. Auch ein Erfolg des Abgeordnetenhauses im legislativen und wehrpolitischen Konfliktfall wäre demgegenüber nur ein Schritt zur parlamentarischen Stärkung innerhalb der dualistischen Gesetzgebung einer konstitutionellen Monarchie gewesen.
Seit dem Amtsantritt Bismarcks war wohl keine reelle Chance mehr für einen parlamentarisch beeinflussten Regierungswechsel gegeben. Dennoch konkretisierte sich angesichts des provokativen Bismarckschen Krisenkurses diese Option nun mit einer gewissen Verspätung im politischen Bewusstsein, wie bereits in der eben zitierten Äußerung Sybels anklang. So erhob die von einer breiten Mehrheit des Abgeordnetenhauses verabschiedete Adresse vom 22. Mai 1863 mit Blick auf die königliche Regierung die Forderung, „durch einen Wechsel der Personen, und mehr noch, durch einen Wechsel des Systems“ zu einer Krisenlösung zu gelangen.[34] Dieser im Frühjahr 1863 rhetorisch auf die Spitze getriebene Konflikt, in dem auch der Kronprinz vorsichtig Partei für die liberale Opposition ergriff[35], war freilich kaum mehr als ein Strohfeuer, zumal – wie eben bereits skizziert – das Abgeordnetenhaus über kein effektives Kampfmittel verfügte und auch jede revolutionäre Hilfestellung ausblieb. Im Laufe der weiteren Krise trat die Frage eines erzwungenen Regierungs- oder gar „System“-wechsels dann wieder in den Hintergrund. Der entscheidende Konfliktstoff für den preußischen Liberalismus blieb das legislative Problem, und da der König jetzt weder an Abdankung noch an eine Entlassung Bismarcks dachte, war jeder Ansatz zu einer Parlamentarisierung der Regierungsverantwortung in weite Ferne gerückt.
Auch in der französischen Krise von 1877 lag ein struktureller Grundkonflikt zwischen Staatsoberhaupt und Parlament vor. Sehr ähnlich war teilweise auch das eingesetzte Konfliktinstrumentarium: Parlamentsvertagung und -auflösung, präsidentielle Kabinettsbildung und Staatsstreichdrohung auf der einen Seite, parlamentarische Proteste und Verweigerung sowie Mobilisierung der Öffentlichkeit auf der anderen. Ganz anders gestaltete sich in Frankreich freilich die funktionale Konstellation der Verfassungskrise. Den Kern der Auseinandersetzung bildeten 1877 Sicherung und Ausbau der regierungstragenden Funktionder Abgeordnetenkammer. Die Verfassungsgesetze von 1875 hatten zwar die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung vorgesehen und knüpften somit an eine Tradition der Verfassungspraxis an, die sich mit Unterbrechungen bis in die ersten Jahre der großen Revolution zurückverfolgen lässt und die ansatzweise die Restaurationszeit und dann vor allem die Julimonarchie geprägt hatte.[36] Durch das Recht des Präsidenten zur Ministerernennung und durch die mögliche Auflösung der Abgeordnetenkammer unter Mithilfe des Senats waren aber Gegengewichte eingebaut worden. Diese hätten – analog zu den Verhältnissen unter Ludwig XVIII. und vor allem unter Louis-Philippe – auch einer stärker präsidentiell geprägten Republik den Weg ebnen können, in der die Regierung in einer doppelten politischen Verantwortung gestanden hätte. Die regierungstragende Funktion der Abgeordnetenkammer wäre dabei in der Tradition des „orleanistischen“ Parlamentarismus durch den pouvoir personnel des Staatspräsidenten eingeschränkt worden.
In dieser offenen Situation kam es 1877 zur entscheidenden Kraftprobe: Im Mittelpunkt stand zunächst das Problem, inwiefern der Präsident der Republik eine Regierung zum Rücktritt veranlassen konnte, die das Vertrauen der Abgeordnetenkammer besaß. Darüber hinaus ging es aber auch um grundsätzlichere Fragen. Mac Mahon hatte die Regierung Simon wegen ihrer Orientierung an der Kammermehrheit attackiert und damit seinen Willen zur Einflussnahme auf die Regierungspolitik unter Beweis gestellt. Indem er sofort ein der Parlamentsmehrheit missliebiges Kabinett einsetzte, negierte er – wie es im Votum der Kammer vom 18. Juni gegen die Regierung de Broglie hieß – die „loi des majorités, qui est le principe des gouvernements parlementaires“.[37] Und indem er das Misstrauensvotum mit der Kammerauflösung sanktionierte, wandte er sich offen gegen das parlamentarische Recht zum Regierungssturz. Ähnlich wie in Preußen gewann der Konflikt so eine Eigendynamik, die rasch über die ursprüngliche Bedeutung hinausging. Während sich in Preußen eine unverhoffte parlamentarismusgeschichtliche Entwicklungschance bot, standen in Frankreich plötzlich alle wesentlichen Aspekte der regierungstragenden parlamentarischen Funktion erneut zur Disposition.
Nachdem die Wahlen vom Oktober 1877 nicht zu der von Mac Mahon und seinem konservativen Umfeld angestrebten Wende geführt hatten, wurde die Krise nun insofern auch zum legislativen Konflikt, als die Kammermehrheit gegenüber der präsidentiellen Regierung Rochebouët jede Budgetbewilligung verweigerte. Da in der frühen Dritten Republik die volle und alleinige legislative Funktiondes Parlaments nicht mehr zur Debatte stand, und da die Verfassungsgesetze von 1875 keinerlei Spielraum für ein Notrecht der Regierung ließen, bildete die Budgetverweigerung ein weitaus wirksameres Kampfmittel als in Preußen.[38] Ein Regieren ohne einen ordnungsgemäß verabschiedeten Haushalt wäre unter den gegebenen Verfassungsbedingungen und angesichts eines bereits hoch entwickelten parlamentarischen Selbstbewusstseins nur nach einem offenen Staatsstreich und nach Ausrufung des Belagerungszustandes möglich gewesen. Nicht zuletzt auch dank der lebendigen Erinnerungen an den Konflikt von 1830[39] hätte dies den entschlossenen Widerstand der republikanischen Kräfte und damit vermutlich eine bürgerkriegsähnliche Situation hervorgerufen.[40] Das Anknüpfen an frühere verfassungspolitische Kämpfe und damit auch die implizite Drohung mit einer Wiederholung der Julirevolution erwiesen sich somit als wertvolle Hilfe für die Kammermehrheit.
Unter diesen Umständen und infolge der ablehnenden Haltung des Senats gegenüber einer erneuten Kammerauflösung war Mac Mahon in der schwächeren Position. Dem Marschall blieb in der Tat nur die von Gambetta vor den Wahlen verkündete Alternative der Unterwerfung oder des Rücktritts
[41] – es sei denn, er hätte sich auf eine höchst risikoreiche Eskalation eingelassen. Mit der Berufung der Regierung Dufaure schien Mac Mahon den praktischen Teil der Unterwerfung zu vollziehen, zumal sich das relativ bescheidene Bemühen, bei der Kabinettsbildung zumindest die präsidentiellen Reservatrechte der Besetzung des Kriegs-, Marine- und Außenministeriums zu wahren, als chancenlos erwies. Gleichzeitig gab der Präsident noch eine Garantieerklärung zur künftigen Beachtung der „parlamentarischen Regeln“ ab und versicherte, das Instrument der Kammerauflösung solle kein „Regierungssystem“ begründen.
[42] Der Versuch, der regierungstragenden Funktion der Abgeordnetenkammer analoge präsidentielle Kompetenzen gegenüberzustellen, war gescheitert.
Bei genauerer Betrachtung weist der Ausgang der Krise von 1877 allerdings auch eine gewisse Ambivalenz auf. Dass Mac Mahon immer noch Präsident der Republik war, erscheint nach den heftigen Angriffen, die in den zurückliegenden Monaten gegen ihn gerichtet worden waren, schon etwas überraschend. Des Weiteren stellt sich die bislang nur unzureichend geklärte Frage, warum im Dezember 1877 nicht Gambetta, die dominante Gestalt innerhalb der parlamentarischen Mehrheit, zum président du Conseil berufen wurde. Eine derartige, für moderne parlamentarische Systeme charakteristische Verbindung von Mehrheitsführer und Ministerpräsident hatte sich während der Krisenmonate angebahnt. Adolphe Thiers, der erste Staatspräsident der Dritten Republik, galt trotz seines hohen Alters im republikanischen Lager als Favorit für die Nachfolge Mac Mahons. Als Kandidaten für das Amt des président du Conseil aber hatte der liberal-konservative Patriarch Gambetta vorgesehen, der angesichts seiner radikalen Vergangenheit selbst kaum eine Chance auf das Amt des Staatspräsidenten besaß.[43]
Drei Erklärungsansätze für die relative Schonung Mac Mahons und für die Wende in Sachen Ministerpräsidentschaft seien hier kurz angeführt. Zweifellos verschlechterte sich mit dem überraschenden Tod von Thiers im September 1877 auch die Aussicht auf eine Regierung Gambetta, und möglicherweise suchte der Sieger von 1877 diese mittelfristig dadurch wieder zu verbessern, indem er im Erfolg Mäßigung zeigte.[44] Zum Zweiten ist zu beachten, dass der Ausgang der Wahlen im Oktober 1877 keineswegs den von Gambetta vorausgesagten republikanischen Triumph bedeutet hatte. Zeitgenössisch wurde das Wahlergebnis, das im Vergleich zu 1876 sogar leichte republikanische Verluste brachte, eher als Signal zu einer Kompromisslösung im Konflikt zwischen Präsident und Kammermehrheit gedeutet.[45] Und zum Dritten sprachen auch die bevorstehende Weltausstellung 1878 in Paris und die gespannte internationale Lage während des russisch-türkischen Krieges für einen „politischen Waffenstillstand“.[46] Auch in Frankreich scheint daher, wenn auch in geringerem Maße als in Preußen, ein gewisser nationaler Konsensdruck den Ausgang des Verfassungskonflikts beeinflusst zu haben.
Dass Gambetta die Ministerpräsidentschaft des 79jährigen, politisch auf der Rechten des republikanischen Spektrums beheimateten Dufaure sowie den in der politischen Mitte liegenden Schwerpunkt des Kabinetts[47] akzeptierte und damit auch ein vorläufiges Verweilen Mac Mahons im Amt begünstigte, lässt sich demnach als Zeichen des Entgegenkommens gegenüber dem Präsidenten und den hinter ihm stehenden konservativen Kräften interpretieren.[48] Statt auf einer vollständigen Unterwerfung des geschlagenen und durchaus rücktrittswilligen Marschalls zu bestehen, leistete die republikanische Führungsfigur damit einen entscheidenden Beitrag zur Bewahrung einer gewissen präsidentiellen Machtstellung.[49] Der große Konflikt um die regierungstragende Funktion der Abgeordnetenkammer hatte zwar zu einem deutlichen, allerdings nicht ganz vollständigen parlamentarischen Sieg geführt.
Prägekraft
Der preußische Verfassungskonflikt und die französische Krise von 1877 konnten nicht zuletzt deshalb erhebliche Wirksamkeit entfalten, weil sie in nationalgeschichtlichen Übergangsphasen lagen und somit auf leicht formbare Verfassungsverhältnisse trafen. Dies gilt zum einen für die staatsrechtliche Ebene. Die Verfassungskonstruktionen des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reichs waren maßgeblich vom Ergebnis des preußischen Konflikts mitbestimmt.
[50] In Frankreich lagen die Verfassungsgesetze der Dritten Republik zwar bereits vor, doch setzte sich infolge der Krise von 1877 und der nachfolgenden Präsidentschaft Grévys eine spezifische und weitgehend verbindliche staatsrechtliche Interpretation der teilweise ambivalenten Bestimmungen von 1875 durch. Indem beide Krisen in einem weiten Sinne zur Gründungsgeschichte des Deutschen Reiches und der französischen Dritten Republik gehörten und sich zudem mit den mythisch überhöhten Gründungsvätern Bismarck und Gambetta verbanden, kann man ihnen aber auch eine formative Bedeutung für das breite Feld der politischen Kultur und der politischen Mentalitäten zuschreiben. Einige wesentliche Perspektiven der vielfältigen Wirkungsgeschichte seien im Folgenden kurz umrissen.
Statt eines möglichen Einstiegs in die Parlamentarisierung brachte der preußische Verfassungskonflikt letztlich eine Befestigung des Status quo der konstitutionellen preußischen Monarchie, die wenig später in einer föderalen und bonapartistischen Variante auf den neugegründeten Nationalstaat übertragen wurde.[51] An der unklaren legislativen Kompetenzabgrenzung änderte sich dabei wenig. In der Verfassung des Deutschen Reiches war die Frage, was im Falle eines Konflikts zwischen den an der Gesetzgebung beteiligten Instanzen Reichstag und Bundesrat zu tun wäre, keineswegs gelöst. Zudem bestanden das Prinzip der monarchischen Kommandogewalt sowie verschiedene militärpolitische Vorrechte der Krone im Bereich des Budgetrechts fort, wodurch die parlamentarischen Gesetzgebungs- und Kontrollrechte eingeschränkt wurden.[52]
Mindestens ebenso schwerwiegend aber waren in Deutschland die Auswirkungen auf die Entwicklung parlamentarischer Mentalitäten, jene politischen Dispositionen und Deutungsmuster innerhalb der Abgeordnetenschaft, deren Einfluss auf die parlamentarische Praxis kaum zu überschätzen ist. Die Erinnerung an den preußischen Verfassungskonflikt hat, dies sei hier als These formuliert, eine Tradition der Zurückhaltung und Selbstbescheidung gefördert.[53] Diese Tradition hat wesentlich dazu beigetragen, dass es im Kaiserreich zu keiner – nach der Verfassungslage jederzeit möglichen – Wiederholung eines Budgetkonflikts kam. Eine ernsthafte Entwicklung hin zur parlamentarischen Abberufbarkeit der Regierung wurde so bis 1918 blockiert, und die Ausbildung eines parlamentarischen Regierungslagers, die sich im Zuge der legislativen Kooperation ansatzweise ergab, blieb weit unter dem Niveau einer tatsächlich regierungstragenden Funktion im parlamentarischen System.[54] Die breite Bereitschaft zu einer gewissen Unterordnung unter die Regierung überdauerte schließlich auch den Systemwechsel von 1918/19 und war mitverantwortlich für den in der Weimarer Republik schon früh einsetzenden funktionalen Rückzug des Reichstags.[55] Diese im bürgerlichen Parteienspektrum verbreitete Mentalität, die sich zudem mit einer gewissen Diskreditierung parlamentarischer Opposition verband[56], war Teil jenes Sonderbewusstseins, das im Festhalten an der konstitutionellen Monarchie eine spezifisch deutsche Tugend zu erkennen meinte und das dann ab 1918 kaum Verständnis für die Spielregeln eines vom pluralistischen Wettbewerb lebenden Systems aufbringen konnte.
Dass die Krise von 1877 einen entscheidenden Schritt zur langfristigen Durchsetzung der parlamentarischen Republik in Frankreich bedeutet hat, steht außer Zweifel. Nach dem Rücktritt Mac Mahons Anfang 1879 und mit Beginn der Präsidentschaft Grévys fand dann die Übergangsphase der siebziger Jahre auch im Bereich der politischen Symbolik – Rückkehr der Kammern nach Paris, Anerkennung der Marseillaise als Nationalhymne, Feier des 14. Juli – ihren Abschluss. In der Verfassungspraxis blieb die Stellung des Präsidenten der Republik fortan hinter den Möglichkeiten von 1875 zurück. Insbesondere die in den staatsrechtlichen Kanon eingehende Tabuisierung der – theoretisch weiterhin möglichen – Kammerauflösung hat eine nachhaltige Schwächung des Staatspräsidenten bewirkt, der einer drohenden parlamentarischen Abberufung einer Regierung nichts mehr entgegensetzen konnte.[57] Gescheitert war aber vor allem auch der Versuch des Präsidenten, unmittelbaren Einfluss auf die Regierungspolitik zu nehmen und im Zusammenwirken mit dem Senat selbst für den Rückzug eines Kabinetts zu sorgen. Die regierungstragende Funktion der Abgeordnetenkammer war damit, insbesondere was Stützung und Abberufung einer Regierung anbelangt, weitgehend vor präsidentiellen Interventionen abgeschirmt. Gleichzeitig befestigte sich die politische Vorrangstellung gegenüber dem Senat.[58]
Die übliche historische Interpretation sieht in diesem Erfolg der Abgeordnetenkammer die Wendung zu einem „absoluten“ Parlamentarismus, was aus Perspektive der Fünften Republik nicht selten als Zerstörung eines parlamentarisch-präsidentiellen Gleichgewichts gedeutet wird.
[59] Unabhängig von den damit verbundenen Problemen der Bewertung bedarf diese Sicht jedoch der Relativierung. Wie bereits dargelegt, kann die Berufung Dufaures zum
président du Conseil als gewisser Kompromiss in der Regierungsbildung verstanden werden. In der Folge war zwar ein politisch quer zu den Mehrheitsverhältnissen in der Kammer stehendes Kabinett ohne jede Überlebenschance. Der Einfluss des Staatspräsidenten auf die Regierungsbildung ging allerdings über eine sinnvolle Vermittlerrolle hinaus und blieb stark genug, bestimmte Personen von der Funktion des Ministerpräsidenten fernzuhalten. Dies zeigte sich bereits 1879, als auch Mac Mahons Nachfolger Grévy eine Ministerpräsidentschaft Gambettas blockierte und den eher farblosen William Henri Waddington mit der Kabinettsbildung beauftragte. Und eine Reduzierung der verbleibenden verfassungsrechtlichen – insbesondere außenpolitischen – Kompetenzen des Staatspräsidenten stand nach der Krise von 1877 ohnehin nicht zur Diskussion. So ist der vereinzelt in der Literatur zu findende Einwand durchaus berechtigt, wonach die Niederlage des Präsidenten 1877 keineswegs so vollständig war, wie dies auf den ersten Blick erscheint.
[60] Im Rahmen der verbliebenen Möglichkeiten kam es dann im Laufe der weiteren Geschichte der Dritten Republik unter den Präsidenten Poincaré (1913–1920) und vor allem Millerand (1920–1924) auch zu zwei ernstzunehmenden Versuchen, die präsidentielle Rolle wieder deutlich aufzuwerten.
[61]Eine auf die parlamentarisch-präsidentiellen Kräfteverhältnisse fixierte Interpretation übersieht zudem, dass die Disziplinierung des Regierungslagers eine wesentliche Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit eines modernen parlamentarischen Systems bildet. Bekanntlich hielt sich in Frankreich, gefördert durch die mangelhafte Verfestigung politischer Parteien, bis in die Zeit zwischen den Weltkriegen ein relativ starker Dualismus von Parlament und Regierung, der immer wieder zum Sturz von Kabinetten führte. Möglicherweise hätte die rechtzeitige Bildung eines alle republikanischen Nuancen einbeziehenden Ministeriums Gambetta eine Aufwertung des Amtes des Ministerpräsidenten bedeutet, diesem die Funktion eines parlamentarischen Mehrheitsführers zugeschrieben und so zu einer engeren Verklammerung von Regierung und Regierungsmehrheit beigetragen. Dies wiederum hätte auch einen Anstoß zur Straffung des republikanischen Spektrums bilden können.
[62] Ob ein derartiges Vorbild tatsächlich langfristige Veränderungen nach sich gezogen hätte, lässt sich schwer abschätzen. Zweifellos aber wäre nun ein gewichtiger Präzedenzfall gegeben gewesen. In der Literatur wird in diesem Zusammenhang üblicherweise auf die versäumte Gelegenheit des Jahres 1879 verwiesen, als Grévy nicht Gambetta, sondern Waddington zum Ministerpräsidenten berief.
[63] Dagegen sei hier betont, dass die Chance wohl bereits 1877 verstrichen ist, als Gambettas Popularität noch die Konkurrenz innerhalb des republikanischen Lagers überstrahlte. Statt seine politische Führungskraft als
président du Conseil zur Geltung zu bringen, spielte Gambetta nun an der Spitze der Budgetkommission die seltsame Rolle einer grauen Eminenz neben der Regierung Dufaure.
[64]Insofern bot die Krise von 1877 für einen wesentlichen Teilaspekt der regierungstragenden Funktion, nämlich die Kooperation der Regierung mit einem festen parlamentarischen Regierungslager, keinen zukunftsweisenden Impuls. Während so 1877 das präsidentielle Disziplinierungsmittel der Kammerauflösung politisch diskreditiert wurde, blieb der Einstieg in einen gleichsam endogen disziplinierten Parlamentarismus aus. Letzteres war für die erstaunliche Langlebigkeit, mit der sich in der Dritten Republik das für den klassischen Parlamentarismus charakteristische Spiel fluktuierender Regierungsmehrheiten und häufig wechselnder Kabinette halten konnte, wohl mindestens ebenso bedeutsam wie die in der Literatur stets angeführte politische Ächtung der Kammerauflösung.
Auf einer elementaren mentalitätsgeschichtlichen Ebene hat das als Sieg der Abgeordnetenkammer empfundene Krisenergebnis zweifellos zur weiteren Festigung des Selbstbewusstseins insbesondere im linksrepublikanischen Lager beigetragen. Wie stark der mentale Bezug zum Verfassungskampf von 1877 noch in der Zeit zwischen den Weltkriegen war, zeigt der Konflikt zwischen der linken Kammermehrheit von 1924 und Staatspräsident Millerand.[65] Dessen Versuche, gleichsam hinter das Jahr 1877 zurückzugehen, sich als aktiven Teil des Regierungslagers zu begreifen und die Kabinette in eine politische Verantwortung gegenüber dem Präsidenten zu zwingen, wurde von den Parteien des Cartel des Gauches nach ihrem Wahlerfolg unerbittlich sanktioniert. In Anlehnung an den Konfliktkurs Gambettas verweigerte sich die neue Mehrheit jeder politischen Kooperation, bis Millerand schließlich zurücktrat. Erst jetzt war die verfassungspolitische Ambivalenz, die 1877 noch geblieben war, beseitigt und das Machtpotential des Staatspräsidenten nahezu vollständig entleert.
Resümee
Der preußische Konflikt von 1862–66 und die französische Krise von 1877 lassen sich als Ausprägungen eines langwierigen und in seinen Grundzügen in weiten Teilen Europas erkennbaren Verfassungskonflikts begreifen: Auf der einen Seite stand die Staatsform der konstitutionellen Monarchie bzw. das mit ihr verwandte republikanische Präsidialsystem, auf der anderen das aufkommende parlamentarische Regierungssystem. Trotz mancher äußerlichen Ähnlichkeit trugen beide Krisen im Kern aber eine sehr unterschiedliche funktionale Konfliktverteilung in sich, die von den jeweiligen nationalen Verfassungsbedingungen und damit auch von den bisherigen parlamentarischen Entwicklungen und Erfahrungen abhängig war.
In der konstitutionellen Monarchie Preußens stand die kooperative legislative Funktion des Abgeordnetenhauses im Mittelpunkt des Verfassungsstreits. Nur ansatzweise kam auch die Möglichkeit eines politisch erzwungenen Thronwechsels sowie einer Regierungsbildung im Sinne der Parlamentsmehrheit mit ins Spiel, was einen Einstieg in die regierungstragende Funktion des Parlaments bedeutet hätte. Diese eventuelle Entwicklung zu einem Präzedenzfall ist aber durchaus ernst zu nehmen, auch wenn die verfassungspolitischen Vorstellungen der Liberalen meist hinter einer derartigen Wendung zurückblieben. Entscheidend für das Scheitern der unverhofften Parlamentarisierungschance wurde das entschlossene Auftreten Bismarcks. Weniger eindeutig war das Ergebnis im legislativen Konflikt, der eine Bestätigung des konstitutionellen Gesetzgebungsdualismus einschließlich der bestehenden monarchischen Prärogative brachte. Alles in allem kam es so in Preußen und infolge des preußisch dominierten nationalen Einigungsprozesses auch in ganz Deutschland zu einer Befestigung der konstitutionellen Monarchie.
In Frankreich, das sich seit 1870/71 in Wiederaufnahme eigener Traditionen bereits stark dem System einer parlamentarischen Demokratie angenähert hatte, ging es primär um Sicherung und Ausbau der regierungstragenden Funktion der Abgeordnetenkammer. Da die volle parlamentarische Gesetzgebungskompetenz unbestritten war, bildete die – in Preußen relativ stumpfe – Waffe der Budgetverweigerung ein wirkungsvolles Druckmittel. Der legislative Konflikt stand hier gleichsam im Dienste der Kammermehrheit. Zudem gab die lebendige Erinnerung an den Verfassungskonflikt von 1829/30 dem republikanischen Lager ein Beispiel parlamentarischer Durchsetzungsfähigkeit. Der Versuch Mac Mahons, nach dem Muster des orleanistischen Parlamentarismus eine doppelte Verantwortlichkeit des Kabinetts zu etablieren, konnte so unter der tatkräftigen Führung Gambettas unterbunden werden.
Nach dem Maßstab einer vollen regierungstragenden Funktion des Parlaments, wie sie in England bereits entwickelt war, blieb freilich in Frankreich ein nicht unbedeutender Rest an präsidentiellem Einfluss auf die Regierungsbildung. Dies trug mit dazu bei, dass 1877 und 1879 eine Ministerpräsidentschaft des parlamentarischen Mehrheitsführers Gambetta verhindert wurde. Damit aber verstrich die Chance für einen Präzedenzfall zur Stärkung des président du Conseil und für eine engere Verbindung von Kabinett und Kammermehrheit. Von einer konstanten Stützung der Regierung durch ein parlamentarisches Regierungslager konnte weiterhin keine Rede sein. Statt dessen blieb der Parlamentarismus der Dritten Republik, wie bereits jener der Julimonarchie, von schwankenden Mehrheiten und von einem relativ starken Dualismus zwischen Regierung und Parlament geprägt, wobei sich das funktionale Selbstverständnis der Abgeordnetenkammer weitgehend auf Gesetzgebung und Kontrolle beschränkte. Auch die französische Parlamentarismusgeschichte zeigt daher, trotz des insgesamt klaren parlamentarischen Erfolgs von 1877, welch hohes Maß an Beharrungskraft einzelne Elemente des monarchischen Konstitutionalismus noch besaßen.[66] Hier von einem „absoluten Parlamentarismus“ zu sprechen, wie im Hinblick auf den geschwächten Präsidenten in der französischen Literatur weithin üblich, ist irreführend. Letztlich bleibt eine derartige Vorstellung einem Modell strikter Gewaltenteilung sowie einem vermeintlich notwendigen Gleichgewicht von Parlament und Präsident verhaftet und verkennt, dass ein modernes parlamentarisches System im Normalfall über ein diszipliniertes Regierungslager zu einem wirkungsvollen Mechanismus der internen Stabilisierung findet.
An der Schwelle zur industriegesellschaftlichen Moderne erfolgten in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Deutschland und Frankreich konträre parlamentarismusgeschichtliche Weichenstellungen, die in Fortführung nationaler Traditionen auf eine Vergrößerung und auf eine Verfestigung der deutsch-französischen Differenz im politischen System hinausliefen. Weitet man hier den Blick auf den europäischen Kontext, dann erscheint die parlamentarische Entwicklung Frankreichs als markanter und windungsreicher „Eigenweg“. Dieser Weg verlief mühseliger als beim englischen Vorbild, blieb im Hinblick auf die allmähliche Parlamentarisierung der Regierungsverantwortung allerdings im westeuropäischen Rahmen.[67] Die 1877 in Frankreich stabilisierte Spielart des parlamentarischen Systems erwies sich dann über Jahrzehnte hinweg als durchaus erfolgreich, und auch in der krisenhaften Zwischenkriegszeit war sie noch relativ tragfähig. Erst die Erfahrung des Zusammenbruchs von 1940 und die Probleme der Vierten Republik erschütterten die seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts nicht entscheidend modernisierte parlamentarische Praxis Frankreichs so nachhaltig, dass schließlich 1958 ein – bereits zu Beginn der Dritten Republik mögliches – parlamentarisch-präsidentielles Mischsystem Verfassungsrealität wurde.
Für die preußisch-deutsche Parlamentarismusgeschichte hingegen lässt sich spätestens ab dem preußischen Verfassungskonflikt von einem Sonderweg sprechen.
[68] Legt man den von der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung her naheliegenden westlichen Maßstab an, dann bildeten das lange Ausbleiben einer Parlamentarisierung und das lange Festhalten an der konstitutionellen Monarchie eine sehr deutliche Differenz zu England, Frankreich sowie zu den anderen west- und auch nordeuropäischen Staaten.
[69] Als 1918 das Ende dieses Weges erreicht war, musste sich die in theoretischer Auseinandersetzung mit den westlichen Parlamentarismusmodellen begründete
[70] und nur schwach in nationalen Traditionen verankerte Weimarer Republik gegen die Prägekraft einer langlebigen und vielfach als nationales Charakteristikum verstandenen konstitutionellen Monarchie behaupten. Gerade im vergleichenden Blick auf die mühevollen Kämpfe, die das parlamentarische System in Frankreich zu bestehen hatte, erscheint diese verfassungspolitische Ausgangslage – unabhängig von allen sonstigen Belastungsfaktoren – als extrem schwierig.
[1] Eine parlamentarismusgeschichtliche Darstellung des preußischen Verfassungskonflikts steht immer noch aus, der entsprechende Band des „Handbuchs der Geschichte des deutschen Parlamentarismus“ liegt noch nicht vor. Vgl. allgemein vor allem Anderson, Eugene N., The Social and Political Conflict in Prussia 1858–1864 (University of Nebraska Studies, N.F., Bd. 12), Lincoln 1954; Hess, Adalbert, Das Parlament, das Bismarck widerstrebte. Zur Politik und sozialen Zusammensetzung des preußischen Abgeordnetenhauses der Konfliktszeit (1862–1866) (Politische Forschungen, Bd. 6), Köln 1964; aus den zahlreichen Handbuchdarstellungen vgl. vor allem Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 749–768, 795-797; Huber, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3: Bismarck und das Reich, 3. Aufl., Stuttgart 1988 (verb.), S. 275–369; Schulze, Hagen, Preußen von 1850 bis 1871. Verfassungsstaat und Reichsgründung, in: Büsch, Otto (Hg.), Handbuch der preußischen Geschichte, Bd. 2: Das 19. Jahrhundert und große Themen der Geschichte Preußens, Berlin 1992, S. 293–372; Wehler, Hans-Ulrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. 1849–1914, München 1995, S. 251–301; aus der Bismarck-Literatur vgl. vor allem Gall, Lothar, Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt am Main 1980, S. 199–380; Pflanze, Otto, Bismarck. Der Reichsgründer, München 1997 (zuerst englisch 1990), S. 171–340. Zur Krise von 1877 vgl. vor allem Pisani-Ferry, Fresnette, Le coup d’État manqué du 16 mai 1877, Paris 1965; Broglie, Gabriel de, Mac Mahon, [Paris] 2000, S. 309–416; aus den Überblicksdarstellungen zur frühen Dritten Republik vgl. vor allem Mayeur, Jean-Marie, Les débuts de la Troisième République. 1871–1898 (Nouvelle histoire de la France contemporaine, Bd. 10), Paris 1973, S. 26–54; Rudelle, Odile, La République absolue. Aux origines de l’instabilité constitutionnelle de la France républicaine. 1870–1889 (Publications de la Sorbonne, Série France XIXe–XXe siècles, Bd. 14), Paris 1982, S. 47–64; Grévy, Jérôme, La République des opportunistes. 1870–1885, [Paris] 1998, S. 239–263; detailliert und immer noch hilfreich: Hanotaux, Gabriel, Histoire de la France contemporaine (1871–1900), Bd. 4: La République parlementaire, Paris [1908]; zum Verlauf auch L’Année politique 4 (1877), Paris 1878.
[2] In der Forschung findet sich ein derartiger Vergleich bislang nur punktuell; so bei Kirsch, Martin, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp – Frankreich im Vergleich (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 150), Göttingen 1999, S. 382.
[3] Zu den parlamentarismusgeschichtlichen Grundlagen vgl. Grünthal, Günther, Parlamentarismus in Preußen 1848/49–1857/58. Preußischer Konstitutionalismus – Parlament und Regierung in der Reaktionsära (Handbuch der Geschichte des deutschen Parlamentarismus), Düsseldorf 1982.
[4] Am 30.09.1862 vor der Budgetkommission des Abgeordnetenhauses: „[...] nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden – das ist der große Fehler von 1848 und 1849 gewesen – sondern durch Eisen und Blut.“ Zit. n. Schlumbohm, Jürgen (Hg.), Der Verfassungskonflikt in Preußen 1862–1866 (Historische Texte, Neuzeit, Bd. 10) Göttingen 1970, Nr. 5, S. 25.
[5] Gesetze vom 24.02., 25.02. und 16.07.1875. Abdruck z.B. in: Duverger, Maurice (Hg.), Constitutions et documents politiques, 12. Aufl., Paris 1989, S. 170–174.
[6] Der moderne Begriff der cohabitation wird von Broglie (Anm. 1) verwendet, wobei der Autor zwischen einer cohabitation douce (1876–77) und einer cohabitation dure (1877–79) unterscheidet.
[7] Abdruck des Briefes z.B. in Année politique (Anm. 1), S. 146f. Der Rücktritt wurde Simon in einer nachfolgenden Unterredung nahegelegt. Zur Vorgeschichte vgl. auch Bertocci, Philip A., Jules Simon. Republican Anticlericalism and Cultural Politics in France, 1848–1886, Columbia 1978, S. 189f.
[8] So heißt es in dem Brief an Simon: „Une explication à cet égard est indispensable ; car si je ne suis pas responsable, comme vous, envers le parlement, j’ai une responsabilité envers la France dont, aujourd’hui plus que jamais, je dois me préoccuper.“ Zit. n. Année politique (Anm. 1), S. 147. Art. 6 des Gesetzes vom 25.02.1875 legte fest: „Le président de la République n’est responsable que dans le cas de haute trahison.“
[9] Zur republikanischen Kooperation sowie zur Rolle Gambettas vgl. vor allem Grévy (Anm. 1), S. 248–255, sowie Mollenhauer, Daniel, Auf der Suche nach der „wahren Republik“. Die französischen radicaux in der frühen Dritten Republik (1870–1890) (Pariser Historische Studien, Bd. 46), Bonn 1997, S.111–114. Grundlegend zum Fraktionswesen: Hudemann, Rainer, Fraktionsbildung im französischen Parlament. Zur Entwicklung des Parteiensystems in der frühen Dritten Republik (1871–1875) (Beihefte der Francia, Bd. 8), München 1979.
[10] Art. 5 des Gesetzes vom 25.02.1875. Zum Instrument der Kammerauflösung 1877 vgl. auch Albertini, Pierre, Le droit de dissolution et les systèmes constitutionnels français (Publications de l’Université de Rouen, Bd. 43), Paris 1977, S. 285–291.
[11] Insofern kann auch von der Constitution Grévy gesprochen werden; so Prélot, Marcel; Boulouis, Jean, Institutions politiques et droit constitutionnel, 11ème éd., Paris 1990, S. 493–495. 1848 hatte sich Grévy vehement gegen ein Präsidentenamt eingesetzt.
[12] Vgl. Kirsch (Anm. 2), S. 349–363. Allerdings zeigen sich auch bei diesem Vergleich erhebliche funktionale Differenzen.
[13] Die Unterscheidung zwischen Monarch einer konstitutionellen Monarchie und Präsident einer Republik ist hier eher sekundär; vgl. allgemein zur Analogie von konstitutioneller Monarchie und präsidentiellem Regierungssystem Steffani, Winfried, Parlamentarische und präsidentielle Demokratie. Strukturelle Aspekte westlicher Demokratien, Opladen 1979, S. 42–44.
[14] Bagehot, Walter, The English Constitution, in: St. John-Stevas, Norman (Hg.), The Collected Works of Walter Bagehot, Bd. 5, London 1974, S. 203–409 (zuerst 1867), deutsch: Ders., Die englische Verfassung, hg. von Klaus Streifthau, Neuwied 1971. Neben den für den parlamentarischen Betrieb essentiellen Funktionen hat Bagehot diverse kommunikative Funktionen im Hinblick auf die Beziehungen zwischen Parlament und Gesellschaft definiert. Bislang liegt in der Politikwissenschaft keine anerkannte funktionale Terminologie vor, vielmehr finden sich zahlreiche Varianten. Zu einer funktionalen Parlamentarismusanalyse vgl. auch Raithel, Thomas, Parlamentarisches System in der Weimarer Republik und in der Dritten Französischen Republik, 1919–1933/40. Ein funktionaler Vergleich, in: Möller, Horst; Kittel, Manfred (Hg.), Demokratie in Deutschland und Frankreich 1918–1933/40. Beiträge zu einem historischen Vergleich, München 2002, S. 283–314.
[15] Bagehot (Anm. 14) fasst diese beiden Aufgaben unter dem Begriff elective function.
[16] In Anlehnung an Steffani (Anm. 13), vor allem S. 39f., sehe ich in der parlamentarischen Abberufbarkeit der Regierung das entscheidende Merkmal zur Definition des parlamentarischen Systems.
[17] Dies gilt auch für die Literaturhinweise.
[18] Zur vielbeachteten preußisch-deutschen Parteiengeschichte vgl. vor allem Winkler, Heinrich August, Preußischer Liberalismus und deutscher Nationalstaat. Studien zur Geschichte der Deutschen Fortschrittspartei 1861–1866 (Tübinger Studien zur Geschichte und Politik, Bd. 17), Tübingen 1964; Stalmann, Volker, Die Partei Bismarcks. Die Deutsche Reichs- und Freikonservative Partei 1866–1890 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 121), Düsseldorf 2000, besonders S. 27–69. Zur Rückwirkung auf die großen politischen Tendenzen Frankreichs – von Parteien im deutschen Sinne kann noch nicht die Rede sein – vgl. vor allem Winock, Michel, La fièvre hexagonale. Les grandes crises politiques de 1871 à 1968, Paris 1986, S. 82–88, ferner Anm. 62 unten sowie zum Einfluss auf die Radicaux Mollenhauer (Anm. 9).
[19] Art. 62 der Verfassung vom 31.01.1850: „Die gesetzgebende Gewalt wird gemeinschaftlich durch den König und durch zwei Kammern ausgeübt. Die Uebereinstimmung des Königs und beider Kammern ist zu jedem Gesetze erforderlich. [...]“ Zit. n. Huber, Ernst Rudolf (Hg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1: Deutsche Verfassungsdokumente 1803–1850, 3. Aufl., Stuttgart 1978, Nr. 194, S. 507.
[20] Zur Herkunft vgl. Kraus, Hans-Christof, Ursprung und Genese der „Lückentheorie“ im preußischen Verfassungskonflikt, in: Der Staat 29 (1990), S. 209–234; mit anderen Akzenten der Bewertung: Becker, Winfried, Die angebliche Lücke der Gesetzgebung im preußischen Verfassungskonflikt, in: Historisches Jahrbuch 100 (1980), S. 257–285.
[21] Brief an Hermann Baumgarten vom 09.05.1863, in: Schlumbohm (Anm. 4), Nr. 10, S. 36. Sybel gehörte der Fraktion des „linken Zentrums“ an. Allgemein zur Haltung Sybels und Baumgartens vgl. Iggers, Georg G., Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, 3. Aufl., München 1976, S. 152–162.
[22] Zu den diesbezüglichen Problemen vgl. auch Parent, Thomas, ‚Passiver Widerstand‘ im preußischen Verfassungskonflikt. Die Kölner Abgeordnetenfeste (Kölner Schriften zu Geschichte und Kultur, Bd. 1), Köln 1982.
[23] Die zitierte Forderung stammt von dem Abgeordneten Heinrich Beitzke am 12.05.1863 in einem Brief an seine Frau, in: Conrad, Horst (Hg.), Ein Gegner Bismarcks. Dokumente zur Neuen Ära und zum preußischen Verfassungskonflikt aus dem Nachlaß des Abgeordneten Heinrich Beitzke (1798–1867) (Westfälische Quellen und Archivpublikationen, Bd. 18), Münster 1994, S. 283. Ähnlich fragwürdig erscheint Lassalles Eintreten für eine totale parlamentarische Obstruktion. Vgl. Oncken, Hermann, Lassalle. Zwischen Marx und Bismarck, 5. neubearb. Aufl., Stuttgart 1966, S. 216–219. Gegen einen Steuerstreik sprachen die negativen Erfahrungen aus dem Jahr 1848. Vgl. Schwabe, Klaus, Das Indemnitätsgesetz vom 3. September 1866 – eine Niederlage des deutschen Liberalismus?, in: Bodensieck, Heinrich (Hg.), Preußen, Deutschland und der Westen. Auseinandersetzungen und Beziehungen seit 1789. Zum 70. Geburtstag von Prof. Dr. Oswald Hauser, Göttingen 1980, S. 83–102, hier S. 96f. Der Versuch der Parlamentsmehrheit, sich 1863 über ein Gesetz zur juristischen Ministerverantwortlichkeit ein weiteres Kampfmittel zuzulegen, hatte wegen der unerreichbaren Zustimmung von Krone und Herrenhaus nur symbolische Bedeutung. Vgl. Huber (Anm. 1), S. 312f.
[24] So meinte Baumgarten im Herbst 1862 gegenüber Sybel, Menschen wie Bismarck müsse „man zittern machen. Man muß ihm die lebendige Besorgnis erregen, daß sie eines Tages wie tolle Hunde totgeschlagen werden.“ Zit. n. Wehler (Anm. 1), S. 273. Nach einer von Treue, Wilhelm, Wollte König Wilhelm I. zurücktreten?, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 51 (1939), S. 275–310, hier S. 308, wiedergegebenen Äußerung Wilhelms vom 12.05.1862 hatten es „unzählige Wahlreden [...] nicht verschmäht, auf Carl I. und Louis XIV. hinzuweisen, die es nicht vermocht hätten, dem Willen des Parlaments nachzugeben.“ Eine ernsthafte revolutionäre Agitation fand jedoch nicht statt, wobei sich die Einsicht in die mangelnde Erfolgschance mit einer Legalitätstaktik, aber auch mit der Furcht vor einer bonapartistischen Strategie Bismarcks verbanden, vgl. Schwabe (Anm. 23), S. 96f.
[25] Etwa im Gespräch mit Bismarck, nachdem Wilhelm I. Ende September 1862 „in gedrückter Stimmung“ aus Baden-Baden zurückgekehrt war: „Ich sehe ganz genau voraus, wie das Alles endigen wird. Da vor dem Opernplatz unter meinen Fenstern, wird man Ihnen den Kopf abschlagen und etwas später mir.“ Dazu Bismarck: „Ich errieth, und es ist mir später von Zeugen bestätigt worden, daß er während des achttägigen Aufenthalts in Baden mit Variationen über das Thema Polignac, Strafford, Ludwig XVI. bearbeitet worden war.“ Bismarck, Otto von, Erinnerung und Gedanke, kritische Neuausgabe auf Grund des gesamten schriftlichen Nachlasses von Gerhard Ritter und Rudolf Stadelmann (Otto von Bismarck, Die gesammelten Werke, Bd. 15), Berlin 1932, S. 194. Weitere Belege für derartige Gedanken bei Wilhelm I. liefert Treue (Anm. 24), S. 308.
[26] Indem das Indemnitätsgesetz lediglich eine budget- und keine wehrrechtliche Indemnität gewährte, blieb die Kommandogewalt unangetastet. Vgl. Huber (Anm. 1), S. 363–365.
[27] Vgl. vor allem Botzenhart, Manfred, Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848–1850 (Handbuch der Geschichte des deutschen Parlamentarismus), Düsseldorf 1977; Siemann, Wolfram, Die deutsche Revolution von 1848/49, Frankfurt am Main 1985, S. 135.
[28] Zu den verfassungspolitischen Vorstellungen der Liberalen vgl. insbesondere Hess (Anm. 1), S. 36–50; Schwabe (Anm. 23), S. 86–90; sowie Helfert, Rolf, Die Taktik preußischer Liberaler von 1858 bis 1862, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 53 (1994), S. 33–47.
[29] Text der bereits aufgesetzten Abdankungsurkunde in Huber, Ernst Rudolf (Hg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2: Deutsche Verfassungsdokumente 1851–1918, Stuttgart 1964, Nr. 43, S. 40f.
[30] Treue (Anm. 24) geht für September 1862 nicht von einer wirklichen Rücktrittsabsicht aus. Allerdings wird gerade bei Treue sehr deutlich, dass der entscheidende Ausweg für den König die Berufung Bismarcks war.
[31] In der Wochenschrift des Nationalvereins, zit. n. Rürup, Reinhard, Deutschland im 19. Jahrhundert. 1815–1871 (Deutsche Geschichte, hg. von Joachim Leuschner, Bd. 8), Göttingen 1984, S. 219f.
[32] Vgl. Anm. 28.
[33] So in Erinnerung und Gedanke (Anm. 25), S. 179, bezogen auf das Gespräch mit Wilhelm I. am 18.09.1862: „Es gelang mir, ihn zu überzeugen, daß es sich für ihn nicht um Conservativ oder Liberal in dieser oder jener Schattirung, sondern um ein Königliches Regiment oder Parlamentsherrschaft handle und daß die letztere notwendig und auch durch eine Periode der Dictatur abzuwenden sei.“ Im Gegensatz zu den Liberalen wurde diese Alternative bei den Verteidigern der königlichen Vorrechte scharf kontrastiert.
[34] Zit. n. Huber, Dokumente 2 (Anm. 29), Nr. 58, S. 62. Weiterer Beleg für die auch in der Öffentlichkeit verbreitete Forderung nach Abberufung der Regierung z.B. in Biefang, Andreas (Bearb.), Der Deutsche Nationalverein 1859–1867. Vorstands- und Ausschußprotokolle, Düsseldorf 1995, Nr. 44: Ausschußsitzung vom 17.05.1863, S. 239.
[35] Friedrich trat für die Entlassung Bismarcks und für ein altliberales Ministerium ein. Hierzu im Detail: Meisner, Heinrich Otto, Der preußische Kronprinz im Verfassungskampf 1863, Berlin 1931.
[36] Vgl. Barthélemy, Joseph, L’introduction du régime parlementaire en France sous Louis XVIII et Charles X, Paris 1904 (Nachdruck Genf 1977); Beyme, Klaus von, Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa, 2. Aufl., München 1973, S. 75–121; Rosanvallon, Pierre, La monarchie impossible. Les Chartes de 1814 et de 1830, [Paris] 1994, S. 65–181.
[37] Zit. n. Année politique (Anm. 1), S. 210.
[38] Zur Bedeutung vgl. auch Le Temps, 16.12.1877, S. 1, zum „triomphe de la majorité républicaine“: „Ce qui en accroît singulièrement la signification, c’est qu’il a été obtenu sans aucune tentative ni manifestation extralégale d’aucune sorte; [...]. La Chambre s’est contentée de tenir en réserve l’arme suprême que la Constitution lui fournit – par cela seul qu’elle a attendu, pour vôter le budget, la résipiscence du pouvoir exécutif, elle a désarmé peu à peu toutes les résistances, découragé tous les mauvais desseins.“
[39] So zog Gambetta am 16.06. in der Kammer mit Blick auf die zu erwartende Auflösung den Vergleich mit der Situation von 1830, als 221 Abgeordnete dem König das Recht bestritten hatten, Minister zu ernennen: „En 1830 on est parti 221 et on est revenu 270. J’affirme que, partant 363, nous reviendrons 400.“ Zit. n. Année politique (Anm. 1), S. 195. Die „Wiederwahl der 363“ wurde zur Parole des republikanischen Wahlkampfes. Zum Wahlergebnis vgl. unten Anm. 45. Zur Krisenwahrnehmung gehörte auch eine Gleichsetzung von Mac Mahon mit Karl X. und der Regierung de Broglie mit der Regierung Polignac.
[40] Zu den Kontakten Gambettas mit Teilen der Generalität und zu militärischen Vorbereitungen vgl. Grévy (Anm. 1), S. 251, sowie Bury, John P. T., Gambetta and the Making of the Third Republic, London 1973, S. 456–458.
[41] Gambetta am 15.08.1877 in Lille: „Quand la France aura fait entendre sa voix souveraine, croyez-le bien, Messieurs, il faudra se soumettre ou se démettre.“ Zit. n. Duverger (Anm. 5), S. 500.
[42] Abdruck der Erklärung z.B. in: Année politique (Anm. 1), S. 402f.
[43] Wichtigste Quelle für die geplante Ministerpräsidentschaft Gambettas ist Adam, Juliette, Après l’abandon de la Revanche, Paris 1910, S. 39f. Grévy (Anm. 1), S. 245, zitiert ergänzend einen Brief von Eugène Spuller an den elsässischen Senator Auguste Scheurer-Kestner. Gambetta selbst äußerte sich am 20.08.1877 in einem Brief an Arthur Ranc, wobei allerdings nicht vollständig klar ist, ob er sich selbst als Kabinettschef sah. Nach dem erwarteten Abgang Mac Mahons gelte es: „[...] organiser un fort ministère, comprenant des représentants des quatre nuances (des republikanischen Lagers, Th.R.).“ Halévy, Daniel; Pillias, Emile (Hg.), Lettres de Gambetta 1868–1882, Paris 1938, Nr. 327 (ohne Seitenzahl). In der Literatur wird die geplante Ämterverteilung zwischen Thiers und Gambetta meist nur knapp erwähnt, ohne dieser Frage größere Bedeutung zuzumessen.
[44] Vgl. auch Gambettas Verhalten Anfang Januar 1878, als er bei einem Treffen republikanischer Abgeordneter gegen weitere Rücktrittsforderungen an die Adresse Mac Mahons auftrat, zur Geduld riet und sich selbst als „homme de gouvernement et non d’opposition“ bezeichnete. Nach Grévy (Anm. 1), S. 260.
[45] Von den gewählten 516 Abgeordneten waren 317 als „republikanische“ und 199 als „offizielle“ Kandidaten angetreten. Die von Gambetta prognostizierte Steigerung von 363 auf 400 republikanische Mandate (s. auch Anm. 39) war demnach deutlich verfehlt worden. Zur zeitgenössischen Bewertung vgl. z.B. einen Informanten des deutschen Bankiers Bleichröder, der mitteilt, „daß Niemand in den Wahlen, auch nicht die Opposition, einen vollständigen Sieg erfocht, daß in Folge dessen alle Welt einen faulen Ausgleich voraussieht [...]“. Zit. n. Pohl, Heinz-Alfred, Bismarcks „Einflußnahme“ auf die Staatsform in Frankreich 1871–1877. Zum Problem des Stellenwerts von Pressepolitik im Rahmen der auswärtigen Beziehungen (Europäische Hochschulschriften, Reihe III, Bd. 219), Frankfurt am Main 1984, S. 446. Ähnlich Journal politique de Charles de Lacombe, député à l’assemblée nationale, hg. von A. Hélot, Bd. 2, Paris 1908, S. 283. Zur ambivalenten Wirkung des Wahlergebnisses auf Mac Mahon vgl. Broglie (Anm. 1), S. 366f.
[46] So Caron, François, Frankreich im Zeitalter des Imperialismus 1851–1918 (Geschichte Frankreichs, Bd. 5), Stuttgart 1991, S. 286 (zuerst franz. 1985).
[47] Obwohl mit Freycinet und Lepère erstmals zwei Minister von Gambettas „Union républicaine“ in der Regierung vertreten waren, lag der Schwerpunkt – wie schon vor dem 16. Mai – beim „Centre gauche“.
[48] Offensichtlich steckte Gambetta selbst zurück. Bezeichnend ist eine Äußerung gegenüber Freycinet: „La politique de M. Dufaure n’est pas la nôtre. Mais après les secousses que la France vient de subir, nous devons nous en contenter.“ Nach Freycinet, C[harles] de, Souvenirs. 1848–1878, Paris 1912, S. 145. Umgekehrt lag der Fall bei Mac Mahon, der Dufaure offenbar auch deshalb akzeptierte, um eine Regierung Gambetta zu vermeiden. Vgl. Hanotaux (Anm. 1), S. 220.
[49] Vgl. zu dieser Deutung auch Pelletier, Willy, La crise de mai 1877. La construction de la place et de la compétence présidentielles, in: Lacroix, Bernard; Lagroye, Jacques (Hg.), Le président de la République. Usages et genèses d’une institution, Paris 1992, S. 79–107.
[50] Vgl. zur wichtigen Übergangsphase Pollmann, Klaus Erich, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund 1867–1870 (Handbuch der Geschichte des deutschen Parlamentarismus), Düsseldorf 1985, vor allem S. 21–37, 198–257.
[51] Angemerkt sei, dass damit auch Parlamentarisierungstendenzen in Süddeutschland blockiert wurden. Vgl. Brandt, Hartwig, Parlamentarismus in Württemberg 1819–1870. Anatomie eines deutschen Landtags (Handbuch der Geschichte des deutschen Parlamentarismus), Düsseldorf 1987. Brandt sieht Württemberg 1870 auf dem Weg zu einer Mehrheitsregierung. Ebd., S. 800.
[52] Vgl. vor allem Mußgnug, Reinhard, Die rechtlichen und pragmatischen Beziehungen zwischen Regierung, Parlament und Verwaltung, in: Jeserich, Kurt G. A. (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 3: Das Deutsche Reich bis zum Ende der Monarchie, Stuttgart 1984, S. 109–127, hier S. 115f.
[53] Vgl. auch Wahl, Rainer, Der preußische Verfassungskonflikt und das konstitutionelle System des deutschen Kaiserreiches, in: Böckenförde, Ernst-Wolfgang (Hg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815–1871) (Neue Wissenschaftliche Bibliothek, Bd. 51), 2. Aufl., Königstein 1981 (verb.), S. 208–231, hier S. 220f. Ebd. auch der Hinweis, dass die Erinnerung an den Verfassungskonflikt seitens der Regierung als Disziplinierungsmittel eingesetzt wurde. Zu einem speziellen Aspekt vgl. auch Jansen, Christian, Selbstbewußtes oder gefügiges Parlament? Abgeordnetendiäten und Berufspolitiker in den deutschen Staaten des 19. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 33–65; Bezug zum Verfassungskonflikt ebd., S. 62f.
[54] Auf die kontroversen Beurteilungen einer möglichen Parlamentarisierung des Kaiserreiches kann hier nicht eingegangen werden; zusammenfassend: Zwehl, Konrad von, Zum Verhältnis von Regierung und Reichstag im Kaiserreich, in: Ritter, Gerhard A. (Hg.), Regierung, Bürokratie und Parlament in Preußen und Deutschland von 1848 bis zur Gegenwart (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 73), Düsseldorf 1983, S. 90–116, hier vor allem S. 92–94.
[55] Vgl. ausführlich hierzu: Raithel, Thomas, Das schwierige Spiel des Parlamentarismus. Deutscher Reichstag und französische Chambre des Députés in den Inflationskrisen der 1920er Jahre (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 62), München 2005, S. 115–347.
[56] Vgl. Jäger, Wolfgang, Opposition, in: Brunner, Otto u.a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 469–517, vor allem S. 485–515.
[57] Wenn freilich die Nichtpraktizierung der Kammerauflösung als entscheidende Ursache für die Instabilität der Regierungen bewertet wird, wie teilweise in der Literatur üblich – vgl. z.B. Prélot; Boulois (Anm. 11), S. 496, – werden die tiefer gehenden Probleme bei der Ausbildung eines parlamentarischen Regierungslagers und bei der Stützung einer Regierung verkannt.
[58] In der weiteren Entwicklung kam es dann jedoch mit zunehmender Republikanisierung des Senats auch wieder zu einer gewissen Aufwertung. Die Frage, ob eine Regierung auch durch ein Votum des Senats abberufen werden kann, wurde von der Praxis seit Ende des 19. Jahrhunderts positiv beantwortet.
[59] So z.B. Rudelle (Anm. 1), S. 57; Guchet, Yves, Histoire constitutionnelle française (1789–1958), 2. Aufl., La Garenne-Colombes 1990, S. 229.
[60] Vgl. in diesem Sinne vor allem Pelletier (Anm. 49).
[61] Einen Ansatz hatte es bereits 1894 mit der kurzen Präsidentschaft Casimir-Périers gegeben, der jedoch rasch resignierte. Zur expérience Poincaré vgl. vor allem Wright, Gordon, Raymond Poincaré and the French Presidency, Stanford 1942 (Nachdruck New York 1967). Zu Millerand vgl. vor allem Martens, Stefan, Alexandre Millerand. Der Mann zwischen Clemenceau und Poincaré, in: Historische Mitteilungen 5 (1992), S. 96–113, hier S. 108–113; Milbank Farrar, Marjorie, Principled Pragmatist. The Political Career of Alexandre Millerand, New York 1991, S. 305–376.
[62] Avril, Pierre, Essais sur les partis, Paris 1986, S. 176f., hat darauf hingewiesen, dass der Links-Rechts-Dualismus von 1877 nicht in ein Zweiparteiensystem gemündet ist. Auch wenn man die Chance hierzu angesichts der Verwerfungen innerhalb des republikanischen Lagers skeptisch beurteilt, erscheint immerhin eine stärkere Konzentration des gemäßigten Republikanismus vorstellbar.
[63] Grundlegend ist Soulier, Auguste, L’instabilité ministérielle sous la Troisième République (1871–1938) (Bibliothèque d’histoire politique et constitutionnelle, Bd. 4), Paris 1939, S. 566, der feststellt, dass Grévy maßgeblich zur „dissociation des deux fonctions de leader parlementaire et de Premier Ministre“ beigetragen habe. Ähnlich z.B. auch Prélot; Boulois (Anm. 11), S. 494f.
[64] Vgl. Reinach, Joseph, La vie politique de Léon Gambetta suivie d’autres essais sur Gambetta, Paris 1918, S. 70f. Nach ebd., S. 71, war diese Rolle der einzig mögliche „modus vivendi, qui permît de mettre au service de l’Etat les facultés de l’homme qui, simple citoyen dans la République, en semblait le maître.“ Gleichzeitig wuchsen freilich die Vorbehalte gegen Gambetta, die im Vorwurf einer dictature occulte gipfelten. Seit Anfang 1879 bekleidete Gambetta dann das Amt des Kammerpräsidenten, was mit einer weiteren politischen Schwächung verbunden war. Nachdem ihn Grévy dann endlich im November 1881 mit der Kabinettsbildung beauftragt hatte, wurde Gambetta bereits nach knapp zwei Monaten gestürzt.
[65] Vgl. die in Anm. 61 genannte Literatur.
[66] Dies gilt auch für das generelle Verständnis vom Parlament als gesellschaftliches, der Staatsmacht gegenüberstehendes Organ; vgl. Grüner, Stefan, Zwischen Einheitssehnsucht und pluralistischer Massendemokratie. Zum Parteien- und Demokratieverständnis im deutschen und französischen Liberalismus der Zwischenkriegszeit, in: Möller; Kittel (Anm. 14), S. 219–249.
[67] Vgl. zu Belgien und zu den Niederlanden Beyme (Anm. 36), S. 121–128, 282–284.
[68] Vielleicht wäre es sinnvoll, die Sonderwegsdebatte wieder stärker auf diesen zentralen verfassungspolitischen Aspekt zu beziehen. Die Annahme eines parlamentarismusgeschichtlichen Sonderwegs, der 1918/19 vom Verfassungssystem her – weniger freilich im Bereich der vorherrschenden politischen Mentalitäten – sein Ende in einem plötzlichen Modernisierungsschub fand, lässt sich mit einem Erklärungsmodell verbinden, das den Niedergang der Weimarer Republik und die nationalsozialistische Machtergreifung als Folge einer in Deutschland besonders ausgeprägten Krise der Moderne interpretiert. Vgl. zum letztgenannten Ansatz vor allem Peukert, Detlev J. K., Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt am Main 1987. Allgemein zur Sonderwegsthese vgl. – aus Sicht eines Befürworters – vor allem Wehler (Anm. 1), S. 464–486, mit Literaturhinweisen S. 1381–1384.
[69] Vgl. zu letzteren erneut Beyme (Anm. 36), S. 284–296.
[70] Zur Problematik und insbesondere zu den auftretenden Missverständnissen vgl. Möller, Horst, Parlamentarismus-Diskussion in der Weimarer Republik. Die Frage des „besonderen“ Weges zum parlamentarischen Regierungssystem, in: Funke, Manfred u.a. (Hg.), Demokratie und Diktatur. Geist und Gestalt politischer Herrschaft in Deutschland und Europa. Festschrift für Bracher, Karl Dietrich, Düsseldorf 1987, S. 140–157, hier S. 140–150.