E_Moeckel_Moderne“A Modern Slavery”: Henry W. Nevinsons Reportagen aus São Tomé und Príncipe und die Kritik globaler Lieferketten um 1900[1]
Von Benjamin Möckel
Einleitung
Im Oktober 1904 begab sich der britische Journalist Henry W. Nevinson auf einem Postschiff auf den Weg in die damalige portugiesische Kolonie Angola. Er erreichte die westafrikanische Küste etwa 200 Kilometer südlich des heutigen Luandas und legte von dort circa 450 Kilometer innerhalb der Kolonie zurück: zunächst in das Landesinnere, danach die Westküste entlang Richtung Norden, und schließlich – als Ziel und Kulminationspunkt der Reise – per Schiff auf die Inseln São Tomé und Príncipe im Atlantischen Ozean.
Nevinson kam im Auftrag der amerikanischen Zeitschrift Harper’s Monthly Magazine nach Westafrika. Er hatte sich in den Jahren zuvor als Reporter aus verschiedenen Kriegs- und Krisenregionen einen Namen gemacht, u.a. berichtete er vom Türkisch-Griechischen Krieg 1897 und vom Zweiten Burgenkrieg (1899–1902). Das amerikanische Magazin, das sowohl literarische als auch politische Beiträge veröffentlichte, gab ihm freie Hand in der Wahl des Ortes und des Themas seiner Reportage, und Nevinson schlug ein Thema vor, auf das er u.a. durch Kontakte mit der Aborigines Protection Society und der britischen Anti-Slavery Society aufmerksam geworden war: Dort kursierten seit geraumer Zeit Vorwürfe, dass in den portugiesischen Kolonien Westafrikas auch nach der offiziellen Abschaffung der Sklaverei unter dem Deckmantel formaler Arbeitsverträge ein System der Zwangsarbeit und des Menschenhandels fortexistierte, das in allen relevanten Aspekten dem vorherigen System der Sklaverei entsprach. Nevinson versuchte bei seiner Recherche, den vermuteten Verlaufsrouten dieses versteckten Sklavenhandels zu folgen: vom Landesinneren, wo die Menschen unter verschiedenen Vorwänden aufgegriffen und verschleppt wurden, an die Atlantikküste und von dort per Schiff nach São Tomé und Príncipe. Die beiden Inseln hatten in den vorangegangenen Jahrzehnten einen rasanten Aufstieg als führende Exporteure von Kakao erlebt, und der zentrale Vorwurf lautete, dass der von Nevinson so benannte „new slave trade“ vor allem darauf ausgerichtet war, die dortigen Kakaoplantagen mit immer neuen Arbeitskräften zu versorgen.
Nevinson blieb etwa ein halbes Jahr in Westafrika. Einen Monat nach seiner Rückkehr nach London im Juli 1905 veröffentlichte Harper’s Monthly Magazine den ersten der insgesamt sieben Teile seines Berichts. Der letzte Teil, der die Beschreibung der Arbeitsbedingungen auf den beiden Kakaoinseln beinhaltete, erschien im Februar 1906. Noch im selben Jahre veröffentliche Nevinson die einzelnen Artikel – ebenfalls im Verlag Harper & Bros. – als abgeschlossenes Buch mit dem sprechenden Titel „A Modern Slavery“.[2]
A Modern Slavery
Nevinsons Artikel folgten in vielen Aspekten dem etablierten Genre kolonialer Reise- und Abenteuerberichte. Den Regeln des Genres folgend, enthielten sie sowohl impressionistische Beschreibungen von Natur und Landschaft, exotisierende Darstellungen lokaler Lebensweisen und zum Teil drastische Beschreibungen von Gewalt, Hunger und Leid – Aspekte, die durchaus auch zeitgenössische Bedürfnisse und Sehgewohnheiten eines kolonialen dark tourism befriedigten. Ebenso genretypisch war die Selbstinszenierung des Autors als Entdecker und Abenteurer, dessen eigene Erfahrungen von Krankheit und Lebensgefahr Teil der Authentifizierungsstrategie solcher Erfahrungsberichte waren.
Parallel arbeitete Nevinson sein zentrales Argument jedoch prägnant heraus. Demnach existiere in den portugiesischen Kolonien der afrikanischen Westküste ein System der Zwangsarbeit, das in allen Aspekten die Kriterien der Sklaverei und des Sklavenhandels erfülle. Den Mittelpunkt dieses Arbeitsregimes bildeten die beiden Kolonialinseln São Tomé und Príncipe, auf denen mit Hilfe systematischer Sklavenarbeit enorme Profite mit der Produktion von Kakao generiert würden – der dann zur Weiterverarbeitung nach Großbritannien und in die USA exportiert würde.
Nevinson zeichnete im Detail die Verschmelzung zweier Systeme nach: Demnach würde im Landesinneren ein System der „domestic slavery“[3] fortbestehen, in dem Afrikaner und Afrikanerinnen entführt oder verkauft und in die Küstenregionen verschleppt würden, wo sie von europäischen Händlern und unter Kooperation der kolonialen Autoritäten aus der Sklaverei „befreit“ und in auf fünf Jahre begrenzte Arbeitsverträge überführt würden. Nominell garantierten diese Verträge einen Mindestlohn und klar geregelte Arbeits- und Ruhezeiten sowie einen „repatriation fund“, in den ein Teil des Lohns eingezahlt werden sollte, den die Arbeiter und Arbeiterinnen nach Ablauf ihres Vertrags ausbezahlt bekommen sollten. Nach Nevinsons Darstellung waren diese Verträge jedoch reine Formalia, mit denen die portugiesische Kolonialadministration dem fortexistierenden Sklavenhandel einen formal korrekten Deckmantel geben wollte. Die Menschen würden verschleppt und verkauft wie zur Zeit der Sklaverei und hätten keinerlei Wissen über den Inhalt der geschlossenen Arbeitsverträge. Keiner der auf die Inseln verbrachten Menschen sei je – ob nach Ablauf des 5-Jahres-Zeitraums oder später – in seine Heimat zurückgekehrt. Das gesamte Verfahren der Arbeitsverträge, so Nevinson, sei eine makabre Farce, die nicht anders denn als „legalized slavery“ bezeichnet werden könne: „They went into the Tribunal as slaves, they have come out as ,contracted laborers’. No one in heaven or on earth can see the smallest difference (…)”.[4]
Öffentliche Resonanz
Nevinsons Artikel und insbesondere die Buchveröffentlichung im darauffolgenden Jahr lösten eine große mediale Resonanz aus. Schon im Sommer 1905 erschienen vereinzelt Kommentare und Abdrucke kurzer Ausschnitte in britischen Zeitungen. Mit dem Abschluss der Artikelserie im Februar 1906 und der Publikation des Buches entwickelte sich daraus eine kontroverse Diskussion in der britischen Öffentlichkeit.
Diese öffentliche Resonanz erklärt sich nicht zuletzt aus einem Zusammenhang, den Nevinson in seinen Artikeln zunächst nur indirekt andeutete, in der öffentlichen Diskussion aber schnell ins Zentrum rückte: die Rolle britischer Unternehmen im Kontext des von ihm beschriebenen Produktionsregimes. Mehr als die Hälfte der Kakaoproduktion von São Tomé und Príncipe wurde damals nach Großbritannien exportiert und dort von den drei großen Kakaofirmen – Cadbury, Fry und Rowntree – zu Schokolade und anderen Produkten weiterverarbeitet. Nevinson nannte die Namen der Unternehmen an keiner Stelle seiner Artikel, doch stellte er die Verbindung zum britischen Konsum an mehreren Stellen explizit heraus. Demnach könnten britische und amerikanische Konsumenten und Konsumentinnen nur auf der Grundlage des beschriebenen Systems der Sklaverei ihre Schokolade so preiswert erwerben.[5] England, so Nevinson an anderer Stelle, sei “one of the best customers for San Thomé cocoa, and it might upset commercial relations if the cocoa-drinkers of England realized that they were enjoying their luxury, or exercising their virtue, at the price of slave labor”.[6]
Diese doppelte Formulierung – „enjoying their luxury“ und „excercising their virtue” – war nicht zufällig gewählt und für das britische Publikum vermutlich unmittelbar verständlich. Denn dass gerade diese Unternehmen so stark in den Fokus rückten, hatte einen tiefergehenden Grund, der selbst wiederum eng mit der Geschichte von Sklaverei und Abolitionismus verbunden war. Cadbury, Fry und Rowntree waren allesamt Unternehmen, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts von Quäker-Familien gegründet worden waren. Sie stammten damit aus genau jenem sozialen und religiösen Milieu, aus dem im 18. und 19. Jahrhundert die wichtigsten Stimmen der Anti-Sklaverei-Bewegung hervorgegangen waren. Alle drei Unternehmen hatten darüber hinaus aus dieser Tradition ein Image als sozial und moralisch engagierte Familienunternehmen abgeleitet, deren Handeln nicht nur ökonomischen Interessen, sondern auch bestimmen moralischen und religiösen Werten verpflichtet war. Der Vorwurf, dass sie – womöglich wissentlich – einen Hauptteil ihrer Rohstoffe aus der Produktion eines nur notdürftig kaschierten Systems der Sklavenarbeit bezogen, musste auf dieses Selbstbild zerstörerisch wirken.
Vor allem Cadbury geriet unter diesen Voraussetzungen ins Zentrum der Kritik. Cadbury war nicht nur die größte der drei Firmen, sondern hatte sich in der Öffentlichkeit auch am offensivsten als moralisches Unternehmen inszeniert.[7] Einen zentralen Aspekt dieser Selbstdarstellung bildete das 1879 eröffnete neue Fabrik- und Firmengelände Bournville. Südlich von Birmingham gelegen, beschrieb Cadbury das Gelände als „Factory in the Garden“, das sich bewusst von dem Fabriksystem der Zeit absetzen und Arbeitern und Arbeiterinnen gesunde und sichere Arbeitsbedingungen sowie Wohn-, Erziehungs- und Gesundheitseinrichtungen bieten sollte.[8] Auf zahlreichen Bildern, die auch für die eigenen Werbekampagnen genutzt wurden, stand das Fabrikgelände stellvertretend für das öffentliche Bild als sozial engagiertes Familienunternehmen. Gerade im Kontext dieser Selbstdarstellung mussten die Abbildungen der Plantagen auf São Tomé und Príncipe in Nevinsons Artikeln als radikaler Kontrast erscheinen.
Darüber hinaus gab es noch direktere Bezüge. Insbesondere der damalige Firmenchef George Cadbury war auf vielfältige Weise mit Organisationen aus dem Kontext der Anti-Sklaverei-Bewegung verbunden: Er war seit 1893 Mitglied der Anti-Slavery Society und ab 1900 der Aboriginesʼ Protection Society. Sein Neffe William Cadbury, der ebenfalls im Aufsichtsrat saß und seit 1901 mit der Aufklärung der Arbeitsverhältnisse auf São Tomé und Príncipe betraut war, war Mitglied der 1904 von Edmund Morel gegründeten Congo Reform Association, die er auch mit großen finanziellen Mitteln unterstützte. In Anbetracht dieser Kontakte war es also kaum glaubhaft, dass die Verantwortlichen des Unternehmens nicht frühzeitig über die kursierenden Vorwürfe zu den Arbeitsbedingungen in den portugiesischen Kolonien informiert waren. Die Fallhöhe war also immens, sollten die Praktiken des Unternehmens dem öffentlich proklamierten Selbstbild in eklatanter Weise widersprechen.
Bezüglich des Verhaltens der genannten Unternehmen sind in der Forschung unterschiedliche Positionen vertreten worden. Unstrittig ist, dass die relevanten Akteure lange vor der Veröffentlichung von Nevinsons Reportage über die Vorwürfe bezüglich der Arbeitsbedingungen auf São Tomé und Príncipe informiert waren. Strittig ist, inwiefern sie ernsthafte Bemühungen um Aufklärung und Verbesserung in Angriff nahmen. Auch hier steht vor allem Cadbury im Zentrum des Interesses. Das Unternehmen besaß spätestens seit 1901 substanzielle Informationen über die Arbeitsbedingungen auf den beiden Inseln. Nevinson selbst hatte sich sogar 1904 mit George Cadbury in Verbindung gesetzt und ihn um Kontakte zu den dortigen Plantagenbesitzern gebeten – die dieser ihm auch gewährte. Zugleich hatte Nevinson Cadbury angeboten, ihm Informationen über seine Erkenntnisse vor Ort zukommen zu lassen. Doch hatte George Cadbury zu dieser Zeit schon begonnen, eigene Untersuchungen in Auftrag zu geben: Etwa zeitlich parallel zu Nevinsons Reise – sodass sich beide in São Tomé begegneten – beauftragte er Joseph Burtt damit, nach São Tomé zu reisen und einen ausführlichen Bericht über die dortigen Arbeitsbedingungen zu verfassen, der die Grundlage für das weitere Vorgehen in der Sache bilden sollte. Burtt hielt sich mehr als anderthalb Jahre in den portugiesischen Kolonien auf, und obwohl er Nevinsons Bericht in vielen Details heftig kritisierte, bestätigte er doch dessen Kernaussage, dass das Plantagensystem in São Tomé und Príncipe als Sklaverei bezeichnet werden müsse.
Burtts Bericht bildete im Folgenden die Grundlage für ein gemeinsamen Vorgehen der britischen Unternehmen Cadbury, Fry und Rowntree sowie der deutschen Firma Stollwerck, die sich über den Umgang mit der Problematik abstimmten. Auf Basis dieses Berichts traten die Unternehmen mit den lokalen Plantagenbesitzern in Kontakt und versuchten, diese zu Reformen zu bewegen. Den Bericht selbst hielten die Unternehmen jedoch unter Verschluss und machten ihn erst 1908 der Öffentlichkeit zugänglich. Vieles deutet darauf hin, dass die Unternehmen mit der Beauftragung des Berichts und den folgenden Verhandlungen vor allem versuchten, Zeit zu gewinnen. Trotz kaum mehr widerlegbarer Beweise hielten sie den Handel mit São Tomé und Príncipe aufrecht, um erst 1909 einen gemeinsamen Boykott auszurufen und die eigenen Lieferketten auf die seit kurzem verfügbare Produktion in der britischen Kolonie Gold Coast in Westafrika umzustellen. Wie Kevin Grant in seiner Darstellung der Geschehnisse überzeugend argumentiert hat, wandten sich die Unternehmen damit genau zu dem Zeitpunkt von der Sklavenökonomie ab, als dies für sie keine ökonomischen Kosten oder Risiken mehr barg.[9]
Zeithistorische Kontextualisierungen
Nevinsons Artikelserie und deren breite öffentliche Resonanz verweisen auf mehrere zeitgenössische Kontexte, die seine Reportage zu einer relevanten Quelle für die Wirtschafts-, Gesellschafts- und Mediengeschichte der Zeit um 1900 machen.
A (post)colonial muckraker? Globale Medienlogiken um 1900
Nevinsons Artikel stehen an der Schnittstelle unterschiedlicher Textgenres der „massenmedialen Sattelzeit“[10] der Jahrzehnte um 1900. In einigen Aspekten steht der Text klar in der Tradition des zeitgenössisch fest etablierten Genres des colonial travel writings. Insbesondere in dem vom Herausgeber der Zeitschrift verfassten Vorwort zum ersten Artikel, aber auch in den erzählenden Passagen von Nevinson selbst spielte die Inszenierung des Autors als ein das eigene Leben aufs Spiel setzender Abenteurer und Entdecker eine zentrale Rolle – wobei die Verweise auf David Livingstone, der zum Teil in demselben Gebiet unterwegs gewesen war, nicht fehlen durften. Neben der politischen Botschaft dürfte der Text seine Faszination für das zeitgenössische Publikum nicht zuletzt daraus geschöpft haben, dass sich hier einmal mehr ein weißer Europäer aufmachte, „in darkest Africa“ nach Aufklärung zu fahnden. Zugleich verband sich diese Dimension jedoch mit einer zweiten Traditionslinie, die jüngeren Datums war: dem relativ neuen Bild des politisch engagierten Investigativjournalisten in der Tradition des muckraking journalism der amerikanischen progressive era. Es ist kein Zufall, dass Nevinsons Reportage etwa zeitgleich mit klassischen Beispielen dieser Tradition wie Upton Sinclairs „The Jungle“ (1907) erschien.[11]
Mit der Betonung dieser Traditionslinien ist zugleich die Frage verbunden, wie kolonial womöglich auch Nevinsons eigene Position des Aufklärers und Kritikers war, bzw. offener gefragt: welche Erkenntnisse eine postkoloniale Neulektüre seiner Reportage und der sich daraus entwickelnden öffentlichen Debatte bietet. Nevinsons klare politische und moralische Positionierung gegen das von ihm skandalisierte System des verdeckten Sklavenhandels ist unbestreitbar, ebenso wie seine scharfe und oft beißend sarkastische Zurückweisung der gängigen Rechtfertigungstopoi des kolonialen Diskurses. Unverkennbar steht der Text aber auch selbst in einem kolonial strukturierten Machtverhältnis: Ein europäischer Autor nimmt hier ganz selbstverständlich die Rolle des Aufklärers über lokale Missstände ein, und dies auf der Basis relativ kurzer Aufenthalte an den verschiedenen Orten und ohne Kenntnis der lokalen Sprachen oder zumindest des Portugiesischen als Kolonialsprache. Die Stimmen der Betroffenen bleiben dementsprechend bis auf wenige Ausnahme außen vor. Als Personen bleiben sie anonym und ohne echte Relevanz für Nevinsons Darstellung und Argumentation. Insofern ist Nevinson einerseits ein spannendes Beispiel für die neue Rolle, die Massenmedien und Investigativjournalismus in dieser Zeit auch im kolonialen Kontext einnehmen konnten und dabei zur Aufklärung von Skandalen und Missständen beitrug.[12] Andererseits setzten sich darin aber strukturell auch etablierte koloniale Macht- und Deutungsasymmetrien fort, in deren Kontext koloniale Akteure sehr viel geringere Möglichkeiten besaßen, ihren Perspektiven öffentlich Ausdruck zu verleihen.[13]
Übergang von der Anti-Sklaverei-Bewegung zu Kapitalismuskritik und Arbeitnehmerrechten
Ein zweiter Zusammenhang wird von Nevinson selbst angedeutet. So verweist er an mehreren Stellen explizit auf die Geschichte des Abolitionismus und die Rolle Großbritanniens im internationalen Kampf gegen den Sklavenhandel. Beides, so Nevinsons resigniertes Urteil, sei an ein Ende gekommen. Eine wirkungsvolle Mobilisierung gegen moderne Formen der Sklaverei existiere nicht mehr, und auch die britische Regierung habe das Interesse an dem Thema verloren, solange über formale Verträge und Vereinbarungen ein Schein von Rechtmäßigkeit aufrechterhalten werde.
Das hier diagnostizierte Auseinanderfallen von offizieller Rechtssetzung und realer Praxis ist ein generelles Phänomen vieler zivilgesellschaftlicher Kampagnen. Zugleich markierte Nevinsons Artikel aber auch einen charakteristischen Übergang: In Rekurs auf die lange Tradition des Abolitionismus gelang es Nevinson, ein neues Phänomen in den Blick zu nehmen, das in seinem Text zunächst noch keinen genauen Namen hatte, aber an mehreren Textstellen als Übergang von einer klassischen Kolonial- und Sklavenwirtschaft zu einer Ökonomie des modernen Kapitalismus markiert wird.[14] Sein zentrales Anliegen bestand jedoch gerade darin, aufzuzeigen, wie bruchlos sich beide Dimensionen im Kontext der modern slavery miteinander verbanden: Demnach löste die „freie Lohnarbeit“ die Sklavenarbeit gerade nicht ab, sondern verband sich mit ihr zu einem neuen Zwangssystem, gegen das die etablierten Ansätze der Anti-Sklaverei-Bewegung weitgehend machtlos erschienen.
Nevinsons Text stand somit an der Schnittstelle zweier Debatten – der langen Tradition des Abolitionismus und den neuen Debatten über globale Arbeitnehmerrechte und eine internationale Verrechtlichung von Arbeitsschutz und Arbeitsrechten. Diese Debatten nahmen um die Jahrhundertwende an Fahrt auf. So erschien Nevinsons Artikel genau in dem Zeitraum, in dem im europäischen Kontext mit der Gründung der Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeitsschutz (Association internationale pour la protection légale des travailleurs) sowie der Verabschiedung der Berner Konvention (1906) die ersten Schritte einer internationalen Regulierung unternommen wurden und die als direkte institutionelle Vorläufer der nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten International Labor Organization angesehen werden können.
Unternehmensverantwortung und Konsumentenverantwortung
Mit diesen Kritikmustern war, wie oben dargestellt, ein weiterer Fokus verbunden, der für den Zeitraum charakteristisch war: die kritische Bezugnahme auf die Rolle europäischer Unternehmen und Konsumenten. Es gehörte zu den charakteristischen Merkmalen der Debatte, dass diese Unternehmen – obwohl von Nevinson zunächst nicht explizit erwähnt – schnell in den Fokus der öffentlichen Kritik gerieten. Dies hatte mehrere Gründe. Zum einen war die Zeit um 1900 von einer ersten Blüte multinationaler Unternehmen gekennzeichnet, die zu Treibern der sogenannten ersten Globalisierung wurden.[15] Das Handeln dieser Unternehmen wurde damit immer schwieriger zu kontrollieren; zugleich wurden die Unternehmen aber auch anfälliger für Kritik und Skandalisierungen in Bezug auf Ereignisse und Missstände, die nur bedingt in ihrer eigenen Hand lagen. In diesem Sinne lässt sich die Erfahrung von Cadbury auch als frühes Beispiel eines Unternehmens lesen, das auf der Grundlage seiner globalen Lieferketten in einen öffentlichen Skandal geriet.
Damit eng verbunden war der Fokus auf eine zweite Gruppe, der in diesem Kontext eine neue moralische Verantwortung zugeschrieben wurde: die Konsumenten und Konsumentinnen. Diesen Zusammenhang hatte Nevinson schon in seinem Artikel explizit herausgestellt, und in einer Rede vor der Aboriginesʼ Protection Society verlieh er dem noch Nachdruck: „People in this country who drink that harmless beverage cocoa, will find food for thought in the remarks of Mr. Nevinson […] [who] indicated that every cup was mixed with the sweat of slaves.”[16]
Die drastische Formulierung hatte mehrere Bedeutungsebenen: Zunächst stellte Nevinson damit über das Produkt Kakao eine direkte – sowohl moralische als auch materielle – Verbindung zwischen der Sklaverei und den britischen Konsumenten und Konsumentinnen her. Zugleich war die Argumentation auch ein direkter Rückbezug auf die Anti-Sklaverei-Bewegung des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, in der dieses Bild der direkten Kontamination der Produkte schon ganz ähnlich genutzt worden war: „In every pound of sugar“, so hieß es beispielsweise in einem der meistgedruckten abolitionistischen Pamphlete des späten 18. Jahrhunderts, „we may be considered as consuming two ounces of human flesh”.[17] Drittens schließlich richtete sich das Bild auch noch einmal gegen die Selbstinszenierung von Cadbury, das seine Produkte unter dem Slogan „Absolutely Pure“ vermarktete. Im Gegensatz dazu erschien die Schokolade nun als – sowohl moralisch als auch materiell – kontaminiert und „unrein“.[18]
Fazit
In all den genannten Aspekten besitzt das historische Fallbeispiel unverkennbar Anknüpfungspunkte an gegenwärtige Debatten: Im Streit über die globale Verantwortung von Unternehmen, wie sie aktuell z.B. im Kontext sogenannter Lieferkettengesetze geführt werden; in der Frage nach der Verantwortung von Konsumenten und Konsumentinnen, wie sie vor allem seit den 1970er-Jahren in Boykottkampagnen und der entstehenden Fairtrade-Bewegung an Bedeutung gewannen;[19] in den weiterhin virulenten Phänomenen radikaler Missachtung grundlegender Arbeitsrechte, die auch heute noch unter dem Begriff modern slavery diskutiert werden;[20] und schließlich in der schon für die Zeit um 1900 so charakteristischen Bedeutung von Medienakteuren und zivilgesellschaftlichen Initiativen zur Aufdeckung und Skandalisierung solcher Phänomene.
Nicht zuletzt gelten diese Analogien zur Gegenwart aber wohl auch für die Grenzen, die solchen öffentlichen Kampagnen und Skandalisierungen in vielen Fällen gesetzt sind. Denn letztlich sorgte eben auch die massive mediale Aufmerksamkeit nicht dafür, dass die kritisierten Unternehmen ihre Handelsverbindungen kappten oder auch nur substanziell veränderten – zumindest nicht so lange, bis sie alternative Lieferketten etabliert hatten, die es ihnen erlaubten, einen „Boykott“ auszurufen, ohne die eigene Produktion zu beeinträchtigen. Und auch dieser Boykott, den Cadbury, Fry, Rowntree und Stollwerck schließlich im Jahr 1909 ausriefen, brachte nicht das Ende des von Nevinson aufgedeckten Kontraktarbeitssystem auf den beiden Inseln. Im Gegenteil: Den Plantagen gelang es schnell, neue Absatzmärkte zu finden und die Produktion auf den beiden Inseln stieg zunächst noch weiter an. Zum Erliegen kam sie erst nach dem Ersten Weltkrieg, und dies nicht aufgrund politischer Kampagnen, sondern in erster Linie aufgrund einer Schädlingsepidemie, die die Monokultur der gesamten Schokoladenernte der Inseln zerstörte.[21] Heute gehört insbesondere São Tomé wieder zu den führenden Produzenten von Kakao für die Produktion von Schokolade, nicht zuletzt im Fairtrade-Handel.
[1] Essay zur Quelle: Henry W. Nevinson: The New Slave Trade (New York 1905/06); [Auszüge], in: Themenportal Europäische Geschichte, 2024, URL: <https://www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-80249>.
[2] Die einzelnen Aufsätze erschienen unter dem Titel „The Slave-Trade of To-day” in den folgenden Ausgaben von Harper’s Monthly Magazine: Teil I (Introduction: Down the West Coast): Band 111, August 1905, S. 341–350, Teil II (Introduction II: West-African Plantation Life To-day): Band 111, September 1905, S. 535–544, Teil III (Part III): Band 111, Oktober 1905, S. 668–676, Teil IV (The Hungry Country): Band 111, November 1905, S. 849–858, Teil V (Down the Coast): Band 112, Dezember 1905, S. 114–122 Teil VI (The Slaves at Sea): Band 112, Januar 1906, S. 237–246, Teil VII (Conclusion: The Islands of Doom): Februar 1906, S. 327–337). Das Buch, das bis auf wenige Änderungen dem Text der ursprünglichen Artikel entspricht: Henry W. Nevinson, A Modern Slavery, London 1906.
[3] Part I, S. 349.
[4] Part VI, S. 241.
[5] „Thus it is that the islands of San Thomé and Principe have been rendered about the most profitable bits of the earth’s surface, and England and America can get their chocolate and cocoa cheap.” (Part V, S. 122).
[6] Part III, S. 670f.
[7] Vgl. zur Unternehmensgeschichte: Charles Dellheim, The Creation of a Company Culture: Cadburys, 1861-1931, in: The American Historical Review 92 (1987) 1, S. 13–44; John Bradley, Cadbury’s Purple Reign: The Story Behind Chocolate’s Best-Loved Brand, Chichester 2008. Zur Selbstinszenierung u.a.: Michael Rowlinson / John Hassard, The Invention of Corporate Culture: A History of the Histories of Cadbury, in: Human Relations 46 (1993) 3, S. 299–326.
[8] Zum Firmengelände und dessen Inszenierung in der Unternehmensdarstellung: Charles Dellheim, Utopia, Ltd.: Bourneville and Port Sunlight, in: Derek Fraser (Hrsg.), Cities, Class and Communication: Essays in Honour of Asa Briggs, New York 1990, S. 44–57.
[9] Kevin Grant, A Civilised Savagery: Britain and the New Slaveries in Africa, 1884–1926, New York 2005, S. 134.
[10] Der Begriff bei: Habbo Knoch / Daniel Morat, Medienwandel und Gesellschaftsbilder 1880–1960. Zur historischen Kommunikologie der massenmedialen Sattelzeit, in: dies. (Hrsg.), Kommunikation als Beobachtung. Medienwandel und Gesellschaftsbilder 1880–1960, München 2003, S. 10, 19–23.
[11] Zu Sinclair und den daran anschließenden öffentlichen Debatten u.a.: Rüdiger Graf, Wahrheit im Dschungel von Literatur, Wissenschaft und Politik. Upton Sinclairs „The Jungle“ und die Reform der Lebensmittelkontrolle in den USA der „Progressive Era“, in: Historische Zeitschrift 301 (2015) 1, S. 63–93.
[12] Zum Kontext: Rebekka Habermas, Skandal in Togo: ein Kapitel deutscher Kolonialherrschaft, Frankfurt am Main 2016.
[13] Als ambivalentes Gegenbeispiel eines kolonialen Akteurs siehe zuletzt z.B.: Arthur Asseraf, Mass Media and the Colonial Informant: Messaoud Djebari and the French Empire, 1880–1901, in: Past & Present 254 (2022) 1, S. 161–192.
[14] Der Begriff „Capitalism“ wird – nicht untypisch für die Zeit – nicht explizit verwendet, wohl aber die Begriffe „capital“ und „capitalist“. Siehe du besonders prägnant: Part I, S. 348–349.
[15] Dazu exemplarisch die Studie: Angelika Epple, Das Unternehmen Stollwerck: Eine Mikrogeschichte der Globalisierung, Frankfurt am Main 2010.
[16] O.A., Mr. Nevinson’s Description of Portuguese Africa, in: Morning Leader, 22.3.1906.
[17] William Fox, Address to the People of Great Britain, on the Propriety of Abstaining from West Indian Sugar and Rum, London 1791.
[18] Zu dieser Argumentation in Bezug auf die Anti-Sklaverei-Bewegung: Timothy Morton, Blood Sugar, in: Timothy Fulford / Peter Kitson (Hrsg.), Romanticism and Colonialism: Writing and Empire, 1780–1830, Cambridge (UK) 1998, S. 87–106.
[19] Dazu: Benjamin Möckel, Die Erfindung des moralischen Konsumenten. Globale Produkte und politischer Protest seit den 1950er Jahren, Göttingen 2024.
[20] Sylvia Walby / Karen A. Shire, Trafficking chains: modern slavery in society, Bristol 2024.
[21] Siehe: Sandra Kiesow, Cocoa Culture on São Tomé and Príncipe: The Rise and Fall of Cocoa on the Islands in the Nineteenth and Twentieth Centuries, in: Agricultural History 91 (2017) 1, S. 55.
Literaturhinweise:
Bradley, John, Cadbury’s Purple Reign: The Story Behind Chocolate’s Best-Loved Brand, Chichester 2008.
Dellheim, Charles, Utopia, Ltd.: Bourneville and Port Sunlight, in: Derek Fraser (Hrsg.), Cities, Class and Communication: Essays in Honour of Asa Briggs, New York 1990, S. 44–57.
Dellheim, Charles, The Creation of a Company Culture: Cadburys, 1861–1931, in: The American Historical Review 92 (1987) 1, S. 13–44.
Grant, Kevin, A Civilised Savagery: Britain and the New Slaveries in Africa, 1884–1926, New York 2005.
Kiesow, Sandra, Cocoa Culture on São Tomé and Príncipe: The Rise and Fall of Cocoa on the Islands in the Nineteenth and Twentieth Centuries, in: Agricultural History 91 (2017) 1, S. 55.
Rowlinson, Michael / Hassard, John, The Invention of Corporate Culture: A History of the Histories of Cadbury, in: Human Relations 46 (1993) 3, S. 299–326.