Jan Józef Lipski, Zwei Vaterländer – Zwei Patriotismen. Bemerkungen zum natinalen Größenwahn und zur Xenophobie der Polen (in: Nowa 144 (Juni 1981), Warschau); [Übersetzung; Auszüge][1]
[Früherer Titel der Quelle: Zwei Vaterländer - zwei Patriotismen Bemerkungen zum nationalen Größenwahn und zur Xenophobie der Polen (1981)]
Das Vaterland existiert nur, wenn es auch ein fremdes Land gibt; es gibt keine „eigenen“ Landsleute, wenn es keine „Fremden“ gibt. Von dem Verhältnis zu den „Fremden“ mehr als zu den „eigenen“ Landsleuten, hängt die Gestalt des Patriotismus ab. Es steckt immer etwas Paradoxes darin, daß die Liebe zum eigenen Land und zum eigenen Volk erst durch das Verhältnis zu anderen Ländern und anderen Völkern bestimmt wird, doch ist dieses Paradoxon für jede gedankliche und gefühlsmäßige Unterscheidung charakteristisch.
Wer ist das „eigene Volk“, und wer sind die „Fremden“? Worin unterscheidet sich „mein“ Land von einem, das nicht „mein“ ist? Meine Nation – von einer, die nicht die meinige ist?
Es handelt sich bei diesen Fragen nicht um irgendwelche deskriptiven Inhalte dergestalt: Daß wir polnisch, „sie“ aber eine andere Sprache sprechen, daß wir in einer anderen kulturellen Struktur leben als „sie“ – denn wir haben doch das Christentum im 10. Jahrhundert vom Westen empfangen, weil aus dem Westen die Renaissance, die Aufklärung, die Romantik usw. zu uns gekommen sind; und selbst wenn einer von uns meint, Goethe oder Dante oder Shakespeare sei der größte Dichter, den je die Menschheit hervorgebracht hat, so leben Mickiewicz und Slowacki doch irgendwie anders in uns (oder wir in ihnen). Denn die Jahre der Fremdherrschaft und der Kämpfe um die Befreiung von dieser Fremdherrschaft sind wohl für immer in das Gedächtnis der Nation eingeschrieben usw. usf.; vielleicht weil (obwohl dies strittig ist) uns in der Mehrheit so etwas wie ein polnischer Nationalcharakter kennzeichnet. Es geht nicht um diese deskriptiven Feststellungen, sondern vielmehr um Werte und Urteile. Halten wir uns für besser als andere, oder aber nur für anders; meinen wir, daß in diesem Anderssein ein besonderer Wert (welcher?) enthalten sei; glauben wir, daß uns aus irgendeinem Grund besondere Rechte und Privilegien zustünden – oder auch Pflichten erwachsen würden? Je nach der Antwort auf diese Fragen vertreten wir unterschiedliche Auffassungen von Patriotismus. In extremen Fällen gehören wir eben zu verschiedenen Vaterländern – wenn sich zum Begriff „Vaterland“ vor allem geistige Güter und Werte zusammenfügen und nicht die bloße Tatsache einer gerade solchen und keiner anderen ethnischen Zugehörigkeit. […]
Einsicht in die eigene Schuld
„Liebe zu allem, was polnisch ist“. das ist eine oft wiederholte Formel der nationalen, „patriotischen“ Stupidität. Denn „polnisch“ waren doch auch die ONR[2] und die Pogrome in Lemberg, Przytyk und Kielce[3], das „Bänkeghetto“[4] und die „Befriedung“ ukrainischer Dörfer[5], polnisch waren Brest, Bereza und das Lager in Jablonna im Jahre 1920[6] um uns nur auf zwanzig Jahre unserer Geschichte zu beschränken. Patriotismus bedeutet nicht nur Achtung vor der und Liebe zur Tradition, sondern auch eine schonungslose Selektion der Elemente dieser Tradition, die Verpflichtung zu intellektueller Arbeit in diesem Bereich. Die Schuld für eine falsche Einschätzung der Vergangenheit, für eine Verewigung nationaler Mythen, für ein dem nationalen Größenwahn dienendes Verschweigen dunkler Recken der eigenen Geschichte ist vom moralischen Standpunkt aus gewiß kleiner als die Schuld, die man auf sich lädt, wenn man dem Nächsten ein Übel zufügt, aber sie ist die Voraussetzung für das gegenwärtige und eine Vorbereitung für das künftige Übel. […]
Zum polnisch-deutschen Verhältnis
Fremdenfeindlichkeit und nationaler Größenwahn nähren und stützen sich gegenseitig. Wir wissen, was Polen seitens der Russen und der Deutschen erlitten hat, das kann aber die Überschreitung der Grenzen von Dummheit und Haß gegenüber diesen Völkern nicht rechtfertigen; durch Dummheit und Haß schadet ein Mensch und ein Volk vor allem sich selbst. […] Den Deutschen haben wir seit Jahrhunderten vieles vorzuwerfen. […] Über die Ungeheuerlichkeit der Hitler-Verbrechen auf polnischem Boden braucht man sich nicht auszulassen.
Es mußte aber der Augenblick kommen – wenn wir im Bereich der christlichen Ethik und der westeuropäischen Zivilisation bleiben wollen, zu sagen: „Wir vergeben und bitten um Vergebung.“ In einer Lage, da das Volk geknechtet war, sagte dies die höchste abhängige moralische Autorität, die uns geblieben ist: die polnische Kirche. Diesen Satz müssen wir – ungeachtet aller Ressentiments, die auf tatsächlich erlittenem Unrecht beruhen – als den unseren anerkennen. Um ihn zu übernehmen, genügt bereits sein moralischer Inhalt. Aber neben dem moralischen hat er auch einen nationalen und kulturellen Inhalt: Als eine· Nation. die sich dem westlichen Mittelmeer-Kulturkreis zugehörig fühlt, träumen wir von einer Rückkehr in unser größeres Vaterland Europa. Daher die Notwendigkeit der Aussöhnung mit den Deutschen, die schon in diesem Europa sind und darin bleiben werden. Daß die polnischen Bischöfe ihren deutschen Amtsbrüdern die Hand entgegenstreckten, war die mutigste und weitblickendste Tat der polnischen Nachkriegsgeschichte. […]
Über die Beziehungen zu den Russen
Anders ist das Verhältnis des durchschnittlichen Polen zu den Russen. Gegenüber den Deutschen hat sich viel Haß, vermischt mit Furcht, angestaut aber auch viel Respekt. Was die Russen betrifft, überwiegt, ebenfalls neben dem Haß (einem wohl weniger tief verwurzelten, milderen Haß als gegenüber den Deutschen) und Furcht (der Alptraum von sowjetischen Panzern, die auf polnische Aufständische schießen) Geringschätzung, ein Gefühl der Überlegenheit. […]
Sich einem Volk gegenüber kulturell überlegen zu wähnen, das einen Dostojewski, einen Tolstoj hervorgebracht hat – ohne mindestens zwanzig andere Namen zu nennen, die jeder europäischen Kultur zum Ruhme gereichen würden – gegenüber dem Volk eines Rubljow, Mendelejew, Strawinski – scheint mir ein krasses Mißverständnis zu sein. Dieses Volk hat die Byliny (die altrussischen Heldensagen – A. d. Ü.) und eine großartige Kirchenmalerei geschaffen, als wir Polen noch eine recht dürftige nationale Literatur besaßen und als unsere Malerei noch in den Kinderschuhen steckte.
Kein polnischer Dichter hat einen so großen Einfluß auf die Literatur des Westens – jenes Westens, dem wir uns zugehörig fühlen – ausgeübt wie Dostojewski, Tolstoi, Turgenjew, Tschechow. Nichts deutet darauf hin, daß die geistige Kultur der polnischen Bauern reichhaltiger gewesen wäre als die der russischen. Etwas Groteskes und zugleich Jämmerliches steckt in dem größenwahnsinnigen Überlegenheitsgefühl vieler Polen gegenüber den Russen. […]
Vergessen wir nicht, daß die Befreiung ganz Osteuropas vom sowjetischen Totalitarismus hauptsächlich von den Freiheitsbewegungen in der Sowjetunion abhängt. Das zahlenmäßig größte und im Imperium die wichtigste Rolle spielende russische Volk ist noch weit davon entfernt, seine demokratischen Rechte einzufordern. Als das unterdrückende Volk ist es zudem naturgemäß ganz besonders demoralisiert. Hier treibt eine neue Erscheinung, der sogenannte sowjetische „Patriotismus“, üppige Blüten (leider sind sie nicht nur bei den Russen anzutreffen); hier begegnet man am ehesten Anhängern einer Politik der Interventionen und Befriedungsaktionen, die die Satellitenvölker am sowjetischen Zügel halten soll; hier weckt die bloße Tatsache, daß das Selbstbestimmungsrecht der Völker der UdSSR Wirklichkeit werden könnte, überwiegend Zornausbrüche. Um so größere Achtung und lebendigere Brüderlichkeit – frei von groteskem und törichtem Überlegenheitsgefühl – sollten uns mit den Russen verbinden, die um die Freiheit kämpfen. Noch vor wenigen Jahren gab es in Polen nicht allzu viele Mutige, die bereit waren, sich dem polizeilichen und totalitären System entgegenzustellen. Zählt man hingegen die Russen, die es gewagt haben, vergleicht man die Repressionen hier und dort, dann kann man für die russischen Freiheitskämpfer nur Hochachtung und Bewunderung empfinden.
Sie haben es schwerer als wir, weil sie Jahrzehnte des blutigsten inneren Terrors in der Weltgeschichte durchlitten haben, eine entsetzliche, in hohem Maße blutige negative Auslese seit ebenso langer Zeit und die Repressionen, denen sie zum Opfer fallen, sind um vieles rücksichtsloser und brutaler.
Wenn von den Russen die Rede ist, wollen wir Polen nicht wahrhaben, daß die UdSSR zwar Erbin und Nachfolgerin des Machtstrebens und sogar des Stils des russischen Zarismus ist und daß daher der russische Nationalismus eine große Rolle in der sowjetischen Expansionspolitik spielt, daß aber zugleich der Sowjetismus, der die nationale Identität der Polen, Litauer, Letten, Ukrainer, Georgier, Armenier usw. auszulöschen sucht, auch die nationale Identität, die Tradition, die Kultur der Russen mit aller Macht zerstört. Der Sowjetismus ist gefährlich und mörderisch sowohl für Polen als auch für Russen. […]
Über den Antisemitismus
Der Antisemitismus ist eine spezifische Art der Xenophobie und erfüllt eine so andersartige Funktion und Rolle in der Geschichte, daß er eine besondere Behandlung erfordert.
Es stellt sich vor allem die Frage, was eigentlich Fremdenfeindlichkeit ist. Als in Polen noch Menschen lebten, die sich von ihrer Umgebung in allem unterschieden – in der Sprache und dem nationalen Bewußtsein, in der Tradition, in den Sitten und Bräuchen, häufig auch in der Kleidung usw. –war Antisemitismus gewiß eine Erscheinungsform der Xenophobie. Als der Antisemitismus sich auch gegen Menschen richtete, die sich in Sprache und Kleidung nicht von anderen Polen unterschieden und auch die Religion ihrer Väter abgelegt hatten, da konnte man eventuell annehmen, daß dem doch eine tatsächliche oder mutmaßliche Solidarität mit jenen zugrunde läge, also handelte es sich immer noch um Xenophobie. Als der Antisemitismus jedoch auch Menschen umfaßte, die oft schon seit Generationen polonisiert waren, die sich häufig nicht nur formell, sondern faktisch zu demselben Glauben bekannten wie die Mehrzahl der Polen, die bis ins Mark von der polnischen Kultur durchdrungen waren und sich häufig aktiv am Kampf Polens um Unabhängigkeit und Freiheit beteiligt hatten – dann war das mehr und schlimmer als gewöhnliche Fremdenfeindlichkeit, die zwar etwas Negatives und Unerwünschtes ist, aber nicht unbedingt bereits an soziale Psychopathologie grenzt. […]
Die Vertreibung Tausender Juden und Polen jüdischer Herkunft aus Polen im Jahre 1968 ist ein Schandfleck in der Geschichte unseres Landes. Der sowjetische Polizeiantisemitismus, der in der UdSSR wütete, als noch nichts seine Wiedererweckung in der polnischen Volksrepublik ankündigte (u. a. die Ermordung eines großen Teils der jüdischen Intelligenz in der UdSSR, darunter fast aller in Jiddisch schreibenden Schriftsteller), wurde damals nach Polen verpflanzt. Nicht ohne Grund wurde einige Monate später die ganze Spitzengruppe der „März“-Publizisten[7] mit dem Goldenen Abzeichen der Gesellschaft für Polnisch-Sowjetische Freundschaft dekoriert. […]
Ich bekenne mich zu keinem gemeinsamen Vaterland mit den „März“-Publizisten und den Apparatschiks, die 1968 die antisemitische Hetze organisierten. […]
Entscheidung für Europa
Die hier dargelegten Ideen sind keineswegs eine Offenbarung, und viele der angeschnittenen Probleme würden gewiß eine vertiefte Analyse erfordern. Ich stelle mir aber vor, daß sie für einen ziemlich großen Leserkreis zumindest kontrovers, wenn nicht gar überhaupt unannehmbar sein werden. Gerade deshalb ist diese Skizze entstanden – im Gedanken daran, wie sehr sich in Polen Xenophobie und nationale Megalomanie verbreiten, wenn ich auch nicht der Ansicht bin, daß sie immer in scharfen Chauvinismus ausarten. Darüber hinaus verwischen sich in vielen Fällen die Grenzen des Verhaltens erheblich, zum Teil infolge geschichtlicher Erfahrungen, die der Herausbildung einer christlichen Haltung in den Beziehungen zwischen den Völkern nicht sonderlich günstig waren, zum Teil infolge anerzogener Gewohnheiten. So kommt es, daß auch der Schreiber dieser Worte sich manchmal dabei ertappt, daß er zwar das, was er schreibt, für richtig hält, sich aber die von ihm vertretene Auffassung nicht in allen Punkten so weit zu eigen gemacht hat, daß er sich in allen seinen emotionalen Reaktionen ohne jeden Fehltritt von ihr leiten ließe. Um so notwendiger ist es, sie zu propagieren. Ich bin davon überzeugt, daß die Überwindung des nationalen Größenwahns und der Fremdenfeindlichkeit oder zumindest eine solche Entschärfung beider, daß sie ein für das künftige Schicksal des polnischen Volkes ungefährliches Ausmaß annehmen, eines der wichtigsten Probleme unserer Gegenwart und Zukunft darstellt.
Gelingt uns dies nicht, wird der erste beste Agent, der sich den Ulanentschako aufsetzt und den Halsharnisch an die Brust hängt, unser Volk führen. wohin er will, wenn er die Trommel des „nationalen Stolzes“ rührt und verschiedene Phobien manipuliert.
[1] Die hier verwendete deutsche Ausgabe findet sich abgedruckt in: Lipski, Jan Józef, Wir müssen uns alles sagen. Essays zur deutsch-polnischen Nachbarschaft, Warschau 1996, S. 185-228. Originaltitel: Dwie ojczyzny – dwa patriotyzmy. Uwagi o megalomanii narodowej i ksenofobii Polaków, zuerst erschienen in Polen (im Untergrund) in: Nowa 144 (Juni 1981) und im Exil in: Kultura 409-10 (1981).
[2] ONR (Nationalradikales Lager), im April 1934 entstandene nationale Organisation junger Polen; das ONR war antisemitisch, antikapitalistisch, profaschistisch, aber gleichzeitig antideutsch. Schon im Sommer 1934 aufgelöst, arbeitete ONR illegal weiter; eine Abspaltung hieß „Falanga“.
[3] Orte, wo Judenpogrome stattfanden, in Lemberg und Przytyk vor dem Zweiten Weltkrieg, in Kielce am 04.07.1946: letzteres Pogrom, das 41 Menschenleben forderte, wurde von der Sicherheitspolizei provoziert und angeführt.
[4] Bänkeghetto, eine 1938 von der Regierung erlassene Verfügung, nach der an allen Hochschulen die jüdischen Studenten nur auf den Bänken der linken Seite sitzen durften; die jüdischen Studenten protestierten dagegen, indem sie die ganze Vorlesung über standen; dies taten auch viele antifaschistische Studenten und Professoren, um so ihre Solidarität zu bekunden.
[5] Am 15.09.1930 befahl Józef Pilsudski, damals selbst Ministerpräsident, die Bekämpfung der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung, vor allem der mit Terrormethoden vorgehenden Organisation ukrainischer Nationalisten (OUN) durch Militäreinheiten, vor allem der Kavallerie, die Dorf für Dorf besetzten, die ukrainischen Einwohner verprügelten, Häuser in Brand steckten und Ergebenheitserklärungen erzwangen, um dem Regierungslager bei den im November stattfindenden Wahlen zu einem Erfolg zu verhelfen.
[6] Brest, (pol. Brzesc), Festung, in der Józef Pilsudski bei der gegen die Opposition vor den Wahlen vom November 1930 gerichteten brutalen Kampagne 13 prominente polnische Abgeordnete der Sozialistischen Partei und der Bauernpartei sowie 5 ukrainische Abgeordnete ohne Gerichtsverfahren monatelang gefangen halten ließ; die Abgeordneten wurden schikaniert, geprügelt, z.T. durch Scheinhinrichtungen terrorisiert; ein Teil der Verhafteten wurde im Januar 1932 in einem aufsehenerregenden Prozeß wegen „Aufhetzung der Bevölkerung“ und ähnlichen Delikten zu mäßigen Gefängnisstrafen verurteilt. In Bereza Kartuska in der Wojewodschaft Polesien wurde nach der von ukrainischen Nationalisten am 15.06. 1934 verübten Ermordung des Innenministers Pieracki ein Konzentrationslager errichtet, in dem vor allem ukrainische Nationalisten, aber auch Kommunisten, Sozialisten und Mitglieder der rechtsradikalen ONR ohne Gerichtsurteil festgehalten wurden; das Lager, für das der als Sadist bekannte Wojewode von Polesien Kostek-Biernacki verantwortlich war, bestand bis zum Kriegsausbruch 1939. In Jablonna, östlich von Warschau, dort wurden während des polnisch-sowjetischen Krieges im Sommer 1920 Personen festgehalten, die kommunistischer Sympathien verdächtigt wurden.
[7] März-Publizisten, im März 1968 begann, nach Studentendemonstrationen, eine antisemitische Kampagne.