Die CIAM und die Internationalisierung der Architektur. Das Beispiel Polen[1]
Von Martin Kohlrausch
Im Jahr 1928 traten im schweizerischen La Sarraz erstmals die Congrès Internationaux d'Architecture Moderne, kurz CIAM, zusammen (CIAM I). Diese ‚internationalen kongresse für neues bauen’, wie sich die Organisation in ihrer zweiten Arbeitssprache nannte, waren gegründet worden, um die großen Fragen der modernen Architektur zu diskutieren.[2] Das Hauptanliegen der selbstbewussten Interessengruppe moderner Architekten um Le Corbusier und Walter Gropius war jedoch, das ‚Neue Bauen’ zu propagieren und international durchzusetzen. Es handelte sich also um weit mehr als ein klassisches Expertentreffen auf internationaler Ebene, wie sie sich vor allem in den Naturwissenschaften entwickelt hatten. Sigfried Giedion, Generalsekretär der Vereinigung, visionärer Netzwerker und Themensetzer, drückte das Selbstverständnis der CIAM so aus: „Es sind Kongresse, die auf Zusammenarbeit beruhen, nicht Kongresse, an denen die einzelnen nur aus ihren Spezialgebieten berichten wie im 19. Jahrhundert.“ Daher erfolgte die Rekrutierung der Mitglieder auch ausschließlich durch Kooptation mit dem Ziel, „der Bewegung eine Richtung zu verschaffen“.[3]
Nachdem zunächst vorrangig technische Probleme wie ‚Die Wohnung für das Existenzminimum’ (Frankfurt 1929 – CIAM II) und ‚Rationelle Bebauungsweisen’ (Brüssel – CIAM III 1930) verhandelt worden waren, stand seit Anfang 1931 die ‚Funktionelle Stadt’ auf der CIAM-Agenda. Die Idee einer deutlichen Trennung der Stadtfunktionen Arbeit, Wohnen, Verkehr und Erholung war bereits im 19. Jahrhundert aufgekommen, gewann aber erst durch die CIAM-Diskussionen ein einheitliches Gepräge und breite öffentliche Aufmerksamkeit. Die Einforderung der funktionellen Stadt wurde gewissermaßen die Ideologie der CIAM, die es dieser wiederum erlaubte, sich als unpolitisch zu präsentieren und für verschiedene Regimeformen attraktiv zu sein. Das Thema fand aber vor allem deshalb so starke Beachtung, weil sich hier politische, soziale und urbanistische Fragen in signifikanter Weise bündelten und so die gesellschaftspolitische Schrittmacherfunktion der Architektur unterstrichen.
Die Lösungsversprechen der CIAM gingen weit über die Architektur hinaus, und das nicht nur, weil die Wohnungsfrage selbstverständlich ein grundlegendes soziales Problem war. Die Kongresse thematisierten neue Gemeinschaftsformen mit tiefgreifenden rechtlichen und politischen Implikationen. Gerade weil der Lösungs- und Deutungsanspruch der CIAM ein so weitreichender war, dies soll im Folgenden gezeigt werden, war die Internationalität des Unternehmens entscheidend. Dabei ist es kein Widerspruch, dass Internationalität sich in der Vorkriegsgeschichte der CIAM fast ausschließlich auf Europa bezog und auch nicht, wie zu zeigen sein wird, dass die CIAM sich über Landesgruppen organisierte und der Nationalstaat weiterhin einen wesentlichen Bezugsrahmen bildete. Sowohl das Wechselspiel zwischen Nationalem und Internationalem wie auch die weitreichende Bedeutung des Konzepts funktionelle Stadt lassen sich am Beispiel der polnischen Landesgruppe, und konkret am Beispiel der hier analysierten Quelle, besonders gut nachvollziehen.
Im Juni 1931 trat in Berlin das CIRPAC (Comité International pour la Réalisation du Problème Architectural Contemporain), eine Art Präsidium und Vorbereitungsausschuss der CIAM, zusammen. Im Mittelpunkt des Treffens standen Richtlinien für die Bearbeitung des Themas funktionelle Stadt, die von der holländischen Landesgruppe für das Beispiel Amsterdams vorgelegt worden waren. Für Amsterdam existierten nicht nur außergewöhnlich reiche statistische Daten, die holländische Stadtplanung galt auch als progressiv und durchsetzungskräftig.[4] Die Stellungnahme der polnischen Landesgruppe innerhalb der CIAM, auf Deutsch verlesen von Szymon Syrkus, bezog sich konkret auf die holländischen Vorgaben und generell – was hier interessiert – auf die gesellschaftliche Dimension der Stadtplanung im europäischen Kontext.
Syrkus (1893-1964) hatte zwischen 1912 und 1917 an den Technischen Hochschulen von Wien, Graz, Riga sowie der Akademie der schönen Künste in Krakau studiert, anschließend sein Studium an der neu errichteten TH in Warschau fortgesetzt und dort 1922 abgeschlossen. Zwischen 1922 und 1924 hielt er sich in Paris und Berlin – mit Abstechern zum Bauhaus – auf, um anschließend schnell zum prominentesten Avantgardearchitekten in Polen aufzusteigen. Was ihn, typisch für seine Generation polnischer Architekten, auszeichnete, war die geschickte Verbindung internationaler Kontakte, modernen Know-hows und offensiver publizistischer Tätigkeit. Auf diese Weise war Syrkus nicht nur bereits 1929 CIAM-Mitglied geworden, sondern avancierte auch 1937 zum Leiter des wichtigen CIAM-Regionalplanungskomitees. Als Person ebenso wie als Stadtplanungstheoretiker steht Syrkus für die charakteristische Verbindung nationaler Spezifika und internationaler Lösungsansätze in den CIAM.
Entschiedener als die anderen Gruppen evozierte Syrkus für die polnische Gruppe die soziale und politische Dimension einer funktionellen Stadt. Daher kann es auch nicht verwundern, dass er sich mehrfach auf das Beispiel UdSSR bezog und auf die dort um 1930 ausgefochtenen städtebaulichen Debatten vor dem Hintergrund einer massiven Politisierung der Architektur. Dabei wurden in der polnischen Diskussion vor allem Lösungen wie Gemeinschaftsküchen rezipiert, die es erlauben sollten, kostengünstiger Wohnraum zu erstellen.[5] Die politischen Implikationen und die kommunistische Ideologie spielten eine untergeordnete Rolle, nicht zuletzt auch, um sich aus einer direkten Politisierung von Architektur herauszuhalten, die letztlich zum Bruch zwischen der CIAM und der sowjetischen Architekturszene führten. Syrkus wollte die sowjetischen Beispiele nicht plump nachahmen, aber die Radikalität der russischen Experimente war ihm Maßstab. Architektur, forderte er, müsse „eine direkte kraft auf die umstellung der lebensformen ausüben“ und hierin ihre „zwingungsfähigkeit“ zum Ausdruck bringen.
Insofern war es nur konsequent, dass Syrkus wenig Interesse für die analytische Vorbereitung des Themas funktionelle Stadt zeigte. Für ihn haben die großen Linien Priorität, denn nur so könne man der spezifisch polnischen, vor allem Warschauer Problemlage gerecht werden. Was andernorts als Utopie erscheine, sei in Warschau „dringende not“. Folgerichtig kündigte Syrkus an, dass die Gruppe PRAESENS, eine Gruppe moderner polnischer Architekten identisch mit der polnischen Landesgruppe, für den nächsten Kongress den Entwurf einer „neuen stadt warschau“ vorbereiten wolle, der sich kaum mehr an der hinfällig gewordenen existierenden Stadt orientieren werde.
Dieser nächste und dritte CIAM-Kongress hätte in Moskau stattfinden sollen. Allerdings hatte die Sowjetunion bereits zum Berliner CIRPAC-Treffen keine Delegierten geschickt und lediglich dekretiert, dass Nikolai A. Miljutins Konzept der sozialistischen Stadt (Sozgorod) als Modell dienen solle. Auch von den links stehenden deutschen Architekten war kritisiert worden, dass das Konzept der funktionellen Stadt nicht ausreichend wirtschaftliche Gesetze einbezöge und die Klassenfrage außen vor lasse.[6] Tatschlich blieb die erwartete Einladung der CIAM nach Moskau aus. Bezeichnenderweise rückte als Alternative nun neben Barcelona Warschau ins Zentrum der Überlegungen, bevor letztlich aus pragmatischen Gründen die Wahl auf Athen bzw. eine vorgeschaltete gemeinsame Anreise auf einem Kreuzfahrtschiff fiel.
Der CIAM IV-Kongress, ausschließlich dem Thema funktionelle Stadt gewidmet, analytisierte 34 fast ausschließlich europäische Städte. In der Kategorie Metropole wurde der Fall Warschau eingehend besprochen und im Folgejahr, als einziges der Beispiele, durch eine konkrete Studie fortgeführt. Es handelt sich um eines der bemerkenswertesten Planungsdokumente der Zwischenkriegszeit unter dem eingängigen und international anschlussfähigen Titel Warszawa Funkcjonalna.[7] Verfasser waren Syrkus und der Stadtplaner Jan Olaf Chmielewski. Die Studie demonstrierte die Fähigkeit der beiden, suggestiv Themen zu setzen und virtuos an der Schnittstelle zwischen Öffentlichkeit, Architektur und Politik Visionen voranzutreiben. Syrkus und Chmielewski entwickelten innerhalb der CIAM-Vorgaben ein neuartiges und international kommunizierbares Zeichensystem, um statistische Informationen, vor allem auch in ihrer dynamischen Dimension, bildhaft darzustellen. Warschau wurde konsequent im europäischen Kontext präsentiert, als Stadt am Schnittpunkt transkontinentaler Verkehrsachsen: „Warsaw was not simply projected as a European city: it was to become Europe itself“ – wie David Crowley zugespitzt urteilt.[8]
Mit der Betonung auf der Bewegung und der durchgehenden Trennung zwischen statischen und veränderlichen Faktoren erschien die Stadt als im Fluss befindlich. Unterschiede zwischen Stadt und Land sollten in einer großzügig bemessenen Zone, Warszawa Maksymalna bzw. Wmax genannt, aufgehoben werden. Gleichzeitig planten die beiden Architekten Verkehrsachsen, an deren Schnittpunkten Infrastrukturcluster die bisher vollständig planlosen Siedlungen außerhalb des Stadtkerns zusammenfassend ordnen und durch soziale Einrichtungen in ein urbanes Gebilde neuen Typs überführen sollten. Bei allen Anklängen an die Bandstadt von Arturo Soria y Mata (1882) und Miljutin (1930) sowie die gleichzeitig entwickelten Pläne einer Stadtlandschaft für Hamburg und Stettin, hatten Syrkus und Chmielewski etwas radikal Neues unternommen. Dabei ist nicht so sehr die optimistische, zwischen visionär und größenwahnsinnig schwankende Einschätzung der Stadtentwicklung bemerkenswert, sondern vielmehr die gesuchte Internationalität und die Radikalität der Planung. Letztere resultierte aus dem dramatischen Gefälle zwischen dem Anspruch, eine neuartige europäische Hybridstadt zu schaffen und der äußerst defizitären urbanistischen Situation vor Ort.
Nach der Neugründung Polens 1918 waren drei unterschiedlich strukturierte Wirtschaftsgebiete ebenso zusammenzufügen wie jeweils eigenständige technische Infrastrukturen und dies vor dem Hintergrund einer äußerst labilen ökonomischen Situation, verschärft durch Kriegszerstörungen.[9] In Warschau, das gleichzeitig zur Hauptstadt eines modernen Nationalstaats entwickelt werden musste, liefen diese Problemstränge zusammen. Der Verstädterungsprozess war 1918 noch lange nicht abgeschlossen und bedingte ein Wachstum der Bevölkerung, wie es westeuropäische Städte im 19. Jahrhundert erlebt hatten. Mit über 2000 Einwohnern pro Hektar in einigen innerstädtischen Bezirken hatte Warschau in der Zwischenkriegszeit die höchste Bevölkerungsdichte in Europa aufzuweisen. Verkehrsadern und Infrastruktur blieben dabei deutlich hinter dem Standard etwa Budapests, Wiens oder Berlins zurück.[10]
In dieser Situation extremen Problemlösungsdrucks boten sich der neuen Disziplin Stadtplanung unvermeidlich enorme Chancen. Im Konzept der funktionellen Stadt, wie es auf dem Berliner Treffen diskutiert wurde, und in der auf dem Athener Kongress propagierten Forderung, dass chaotische Landverwertung zugunsten einer kollektiven und methodischen Landpolitik aufgegeben werden müsse, konnte sich die polnische Fraktion besser als andere Landesgruppen wieder finden. Sie ließ sich daher offensiv auf die CIAM-Agenda ein. Auf der CIRPAC-Sitzung in London 1934 war Warszawa Fukcjonalna das Hauptthema. Le Corbusier sah die Studie als neuen Entwicklungsschritt in der Planung großer Räume. Da die Studie Stadtplanern weitaus mehr Möglichkeiten an die Hand gab als der Kongress in Athen vorgesehen hatte, empfahl die CIRPAC Warszawa Funkcjonalna als Modell für großangelegte Raumplanung. In einer Resolution an den Warschauer Stadtpräsidenten verliehen Le Corbusier, Walter Gropius und weitere CIAM-Granden dieser Empfehlung auch gegenüber der polnischen Politik Nachdruck. Die polnische Forderung, Stadtplanung um Regionalplanung zu erweitern, schlug sich direkt in der entsprechenden Themensetzung des nächsten CIAM-Kongresses in Paris (CIAM V) nieder.
Warszawa Funkcjonalna stieß offenbar deshalb auf große Resonanz, weil sich hier Polen gewissermaßen als Tabula Rasa präsentierte, auf der sich das, was im Westen oft Theorie blieb, praktisch konkretisieren ließ. „Das Neue wird in Polen bereitwilliger aufgegriffen als in anderen Ländern“, hatte der holländische Architekturkritiker Theo van Doesburg 1931 festgestellt.[11] In Warschau waren noch grundsätzliche stadtplanerische Fragen im Fluss, die in den etablierten west- und mitteleuropäischen Metropolen bereits fixiert waren und somit nicht mehr Gegenstand konkreter funktionalistischer Planungen sein konnten. Angesichts des extremen Stadt-Land-Gefälles war ein ganzheitlicher und weitreichender Planungsansatz in Polen zudem geradezu zwingend. Die von CIAM aufgeworfenen und untersuchten Probleme im Spannungsfeld soziale Frage und Architektur waren in Polen zudem wesentlich dringlicher als im Westen.
Syrkus hatte sich in seiner Stellungnahme nicht umsonst vehement dagegen ausgesprochen, sich überhaupt mit bestehenden Städten zu befassen und die neue funktionelle Stadt beschworen. In der Stellungnahme von Syrkus zeigt sich aufschlussreich, wie die polnische Gruppe mit dem nationalen Defizit auf internationaler Bühne punktete. Aufbauend auf tatsächlich gegebene Spezifika wurde Warschau zum Möglichkeitsraum moderner Stadtplanung stilisiert. Überspitzt formuliert, sollten hier urbanistische Probleme des 19. Jahrhunderts mit dem Expertenwissen des 20. Jahrhunderts gelöst werden. Für die polnische Gruppe wiederum fungierten die CIAM nicht nur als Wissensbörse, sondern auch als ‚Anerkennungsagentur’, in der heimische Probleme zum international beachteten Fallbeispiel werden konnten und durch die sich internationale Anerkennung wiederum in Durchsetzungschancen in der Heimat ummünzen ließ.
Syrkus betont dieses Wechselspiel, indem er einerseits das essentielle Bedürfnis neuartiger – unausgesprochen internationaler – Planung herausstellt und andererseits Warschau gewissermaßen als Paradebeispiel für solche Planung präsentiert. Die polnischen CIAM-Beiträger konnten sowohl durch die Nähe zu internationalen Experten Anerkennung finden, als auch von dem Bedürfnis des Staates, sich durch ostentativ moderne Lösungen internationale Legitimation zu verschaffen, profitieren. Hier, dies wird in der Quelle sichtbar, zeigt sich ein aufschlussreiches Wechselspiel von Nationalisierung und Internationalisierung. Gerade die neuen europäischen 1918 entstandenen Nationalstaaten drängten auf internationale Anerkennung.
Trotz aller inhaltlichen Unterschiede einte die gemeinsame Mission die „Kameraden“ – wie man sich in der Korrespondenz ansprach – weit über das normale Maß professioneller Gruppen. „Wir – die CIAMmitglieder und Freunde sind ein Bestandteil der grossen internationalen Arbeitsgemeinschaft und vertreten in Polen die Ideen der CIAM. Wir können nicht und wünschen nicht als Vertreter der gesamten polnischen Architektenschaft im Ausland gelten“, erklärte Syrkus 1937 entschieden und selbstbewusst.[12] Die CIAM waren, auch dies wird am Beispiel der polnischen Gruppe besonders deutlich, eine Art Stil-Pressure Group, die sich in einem eigenen Publikationskomitee zuvorderst darum bemühte, die eigenen Auffassungen in einer europäischen Öffentlichkeit durchzusetzen, auch hierbei immer Internationalität intentional ansetzend. Die Tatsache, dass – oftmals auch publizistisch aktive – Architekten im 20. Jahrhundert von bloßen Konstrukteuren und Baumeistern zu gesuchten Gesprächspartnern der Politik wurden, denen man die Lösung komplexer gesellschaftlicher Probleme zutraute, ist kein ausschließlicher Verdienst der CIAM, ist aber durch deren Aktivitäten erheblich befördert worden und lässt sich hier beispielhaft nachvollziehen.
Es ist nicht verwunderlich, dass sich in der CIAM-Organisation, die von Beginn an auf eine möglichst große internationale Streuung setzte, in erheblichem Maße Architekten aus den neugegründeten Staaten organisierten – ein Phänomen, das sich auch für andere internationale professionelle Organisationen beobachten lässt. Diese Legitimierungsbedürfnisse qua Internationalität scheinen ein Grund für eine signifikante zweite Internationalisierungswelle – nach der des 19. Jahrhunderts – gewesen zu sein, die sich in der Zwischenkriegszeit europaweit beobachten lässt.[13] Dies gilt trotz des durch den Ersten Weltkrieg enthemmten Nationalismus und spricht um so mehr für die strukturelle Logik dieses Prozesses. Darüber hinaus hatte der Krieg die Leistungserwartungen an den Staat erheblich erhöht. Durch zunehmende Vergleiche dieser Leistungen in nationalen Kategorien – von der CIAM durch eine universalisierte Zeichensprache und Analysekriterien gefördert – wurden Erwartungen zusätzlich angeheizt.[14] Rasante, aber gleichzeitig komplexe technische Entwicklungen, die die Lösung dieser Probleme versprachen, machten internationale Zusammenarbeit schließlich auch über die politischen Konfliktgrenzen hinweg zur Pflicht.
Die CIAM zeigen aber auch, dass es sich hier – trotz der bemerkenswerten Internationalisierung und obwohl außereuropäische Themen zunehmend an Bedeutung gewannen – im wesentlichen um einen europäischen Prozess handelte. Der Kommunikationsraum, in dem die ‚fortschrittlichen’ Architekten agierten, war noch stark durch räumliche Faktoren, durch Reisefinanzierung und Kongressaustragungsorte, aber auch ähnliche kulturell-historische Hintergründe bestimmt. Diesen Zusammenhang bestätigt die 1937 erfolgte Gründung einer ‚CIAM-Ost’ mit polnischen, tschechoslowakischen, jugoslawischen, österreichischen und ungarischen Beiträgern. Hintergrund des Zusammenschlusses war die Einsicht, dass sich die Grundbedingungen des Neuen Bauens in Zentraleuropa grundlegend von denen im Westen unterschieden.[15] Dies ließe sich als Zeichen für die Beschränkung des Universalismus interpretieren, für den die CIAM stand. Angesichts der hier beschriebenen Interdependenz zwischen nationalem und internationalem Bezugsraum würde dies aber zu kurz greifen. Während die CIAM von der Dynamik der jeweils national definierten Gruppen lebte, wäre eine regional definierte Gründung CIAM-Ost ohne den darüber hinaus weisenden internationalen Bezugsrahmen nicht denkbar gewesen.
[1] Essay zur Quelle: Szymon Syrkus, „eine funktionelle stadt auf basis der kollektiven lebensformen…“. Stellungnahme der polnischen Gruppe innerhalb der CIAM (06. Juni 1931), [Auszüge].
[2] Zur CIAM generell: Mumford, Eric, The CIAM Discourse on Urbanism, 1928-1960, London 2002.
[3] Giedion 1942 und 1928, zitiert nach: Steinmann, Martin (Hg.), CIAM. Dokumente 1928-1939, Basel 1979, S. 9 und 22.
[4] Cornelis van Eesteren, Leiter der Untersuchungen, vertrat die Auffassung, aufgrund fachgerechter Analyse in jeder städtischen Situation innerhalb kurzer Zeit die ‚korrekte’ urbane Form entwickeln zu können. Bollerey, Franziska (Hg.), Cornelis van Eesteren. Urbanismus zwischen de Stijl und C.I.A.M., Braunschweig 1999, S. 27, 171 f.
[5] Dort war unter anderem der ehemalige Frankfurter Stadtbaurat Ernst Mai tätig, den Syrkus zitiert. Zur sowjetischen Diskussion vgl. Bodenschatz, Harald; Post, Christiane (Hg.), Städtebau im Schatten Stalins. Die internationale Suche nach der sozialistischen Stadt in der Sowjetunion 1929-1935, Berlin 2003, S. 92-117.
[6] Mumford, CIAM, S. 63f.
[7] Chmielewski, Jan; Syrkus, Szymon, Warszawa funkcjonalna. Warschau 1934. Vgl. hierzu: Malisz, Boleslaw, Functional Warsaw. A challange from the past, in: Planning Perspectives 2 (1987), S. 254–269.
[8] Crowley, David, Warsaw, London 2003, S. 12.
[9] Vgl. David Turnock, The economy of East Central Europe, 1815 – 1989. Stages of transformation in a peripheral region, London 2006, S. 183f. und Ivan T. Berend, Decades of Crisis. Central and Eastern Europe before World War II. Berkeley/Los Angeles/London 1998, S. 225f.
[10] Wynot, Edward D., Warsaw between the Wars. Profile of a Capital City in a Developing Land, 1918-1939, New York 1983, S. 176.
[11] van Doesburg, Theo, Über europäische Architektur. Gesammelte Aufsätze aus Het Bouwbedrijf 1924-1931, Basel 1990, S. 304.
[12] Gta-Archiv, Zürich: CIAM, Siegfried Giedion, Korrespondenz mit Szymon Syrkus und Helena, 1937, Brief vom 22.06.1937.
[13] Zur ‚ersten’ Internationalisierungswelle: Geyer, Martin H.; Paulmann, Johannes, The Mechanics of Internationalism, in: Geyer, Martin; Paulmann, Johannes (Hgg.), The mechanics of internationalism. Culture, society, and politics from the 1840s to the First World War, Oxford 1996, S. 1–25.
[14] Steinmann, Dokumente, S. 114.
[15] Platzer, Monika, Die CIAM und ihre Verbindungen nach Zentraleuropa, in: Dies.; Blau, Eve (Hgg.), Mythos Großstadt. Architektur und Stadtbaukunst in Zentraleuropa. 1890-1937, München, S. 227–231.
Literaturhinweise
Bollerey, Franziska (Hg.), Cornelis van Eesteren. Urbanismus zwischen de Stijl und C.I.A.M., Braunschweig 1999.
Doesburg, Theo, Über europäische Architektur. Gesammelte Aufsätze aus Het Bouwbedrijf 1924-1931, Basel 1990.
Lesnikowski, Wojciech G.; Šlapeta, Vadimír (Hgg.), East European Modernism. Architecture in Czechoslovakia, Hungary, and Poland between the Wars 1919 - 1939, New York 1996.
Mumford, Eric, The CIAM Discourse on Urbanism, 1928-1960, London 2002.
Wynot, Edward D., Warsaw between the Wars. Profile of a Capital City in a Developing Land, 1918-1939, New York 1983.