Die höhere Bildung und das Geld im Übergang vom Ancien Régime zu Napoleon[1]
Von Andreas Fahrmeir
Die Folgen der französischen Vorherrschaft in Westdeutschland um 1800 sind ganz unterschiedlich bewertet worden. Manchmal schien der Verlust ‚nationaler‘ Selbstbestimmung entscheidend, so dass sie als düstere Jahre der Unterdrückung beschrieben wurden; manchmal stand der Aufbruch im Vordergrund, den die Modernisierung von Recht, Verwaltung und Wirtschaft, das Ende korporativer Autonomien und der Zuwachs an individuellen Mobilitätschancen zu ermöglichen schien.
Auch im Bildungsbereich tritt beides vor Augen. Der Ersatz der ‚alten‘ Universitäten auf dem linken Rheinufer in Mainz und Köln durch neue Schultypen, zunächst Zentralschule und, in Köln, Sekundärschule, später durch preußische Gymnasien, ging mit zukunftsweisenden Reformen des Lehrplans und dem partiellen Abbau von Standesschranken einher. Zudem verzichteten die französischen Behörden auf die Verstaatlichung des bislang für die Bildung vorgesehenen Vermögens, und ermöglichten somit die Konsolidierung einer in Köln bis heute selbständigen Stiftung. Diese Neuordnung war aber zugleich Teil einer besatzungsähnlichen Politik, welche die in mancherlei Hinsicht erreichte Öffnung des höheren Schulwesens wieder einschränkte. Sie führte in beiden Städten zu vielen Jahren, in denen die Bürgerschaft auf den Komfort und das Prestige einer eigenen Universität verzichten musste: in Köln war das bis nach dem Ersten, in Mainz bis nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall.
Hintergrund und Ziel der Reformen
Die Neuordnung des höheren Schulwesens in Köln durch das Dekret vom 22.. Brumaire des Jahres XIV der revolutionären Ära, nach der bisher üblichen Zeitrechnung der 13. November 1805, war ein kleiner Teil eines säkularen Prozesses der Reform europäischer Bildungssysteme zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert. Diese ging überall von anderen Voraussetzungen aus und hatte in jedem Land andere Ergebnisse, ihre Grundlinien waren jedoch ähnlich.
Mitte des 18. Jahrhunderts erfolgte die Vermittlung höherer Bildung in europäischen Territorien in wenig formalisierter Weise. Man konnte letztlich beim privaten Hauslehrer ebenso ‚studieren‘ wie an Lehranstalten. Allerdings boten Universitäten ein größeres Lehrangebot als private Erzieher, zu dem ein besonderer Lebenszusammenhang trat, denn an höheren Schulen und Universitäten wohnten Schüler und Studenten meist zusammen oder in den Haushalten ihrer Lehrer.
Im organisierten Bildungswesen spielte die Kirche eine zentrale Rolle. Es gab zwar gravierende Unterschiede zwischen katholischen und protestantischen Ländern, die aber den Blick auf Gemeinsamkeiten nicht verstellen sollten. In Oxford, Cambridge und Köln waren Studierende in Wohn- und Lebensgemeinschaften – die dort Colleges, Halls oder Houses, hier Bursen hießen – eingebunden. Lehrten in Köln Jesuiten, so waren – entsprechend der fachlichen Ausrichtung auf das Theologiestudium – viele Fellows der englischen Universitäten anglikanische Geistliche, die zudem in einer quasi-monastischen zölibatären Lebensgemeinschaft in Räumen lebten, die denen katholischer Klöster sehr ähnlich sahen.
Der Zusammenhang zwischen höherer Bildung und Berufsaussichten war ebenfalls locker. Der Zugang zu Bildungseinrichtungen wurde flexibel gewährt. Individuelle Qualifikation wurde im persönlichen Kontakt ermittelt, und hier spielte sozialer Rang eine entscheidende Rolle; dieser konnte auch über die Geschwindigkeit des Studiums entscheiden. Grenzen zwischen Universität und Oberschule waren fließend. Die an höheren Schulen und Universitäten vermittelte Bildung war vorwiegend allgemeiner Art; mit Ausnahme von Jura, Theologie und Medizin (Fächern, in denen ein Studienabschluss Voraussetzung für die spätere Berufstätigkeit war oder doch sein konnte) hatte sie eher propädeutischen Charakter. Gelehrt wurden auch an der Universität Köln vorwiegend die allgemeinbildenden Inhalte der Fächer der Artes-Fakultät: alte Sprachen, Philosophie und Theologie. Der bis zur Auflösung des Ordens vorwiegend von Jesuiten an Gymnasien und Universität abgehaltene Unterricht richtete sich an eine sehr begrenzte Zahl von Jungen aus den mittleren und höheren Ständen der Gesellschaft Kölns und des Umlandes. Er legte besonderes Gewicht auf die theologische Bildung aller Studierenden.
Die meisten Bildungsberufe konnte man im Ancien Régime auch durch praktische Erfahrung erlernen; sonst hätte es kaum sinnvoll erscheinen können, Richterämter an obersten Gerichtshöfen zur Erbpacht anzubieten, wie es im Frankreich des 17. und 18. Jahrhundert die Regel war, oder die juristischen Aufgaben, die mit dem Besitz bestimmter Güter verbunden war, eben nur an Besitz und Stand zu koppeln.
Die Finanzierung des Unterrichts an höheren Schulen und Universitäten erfolgte durch eine von Ort zu Ort verschiedene Mischung aus Schulbesitz, Kolleggeldern und Stiftungen, deren Erträge Bildung fördern sollten – sei es, indem sie begabten Männern das Studium im allgemeinen oder das Studium bestimmter Fächer ermöglichten, sei es, indem sie sicherstellten, dass Angehörige bestimmter Familien in Köln oder an anderen Orten studieren konnten. Auch das machte es schwer, leistungsbezogene Zugangsbeschränkungen zu formulieren; aus der Dozentenperspektive hätte die Zurückweisung des Sprösslings einer durch eine Stiftung begünstigte Familie ja einen empfindlichen Einnahmeausfall zur Folge haben können.
Mitte des 19. Jahrhunderts war alles anders und unserem gegenwärtigen Bildungswesen ähnlicher geworden. Die Kirche fand sich fast überall zurückgedrängt. Gymnasien und Universitäten waren nun meist überkonfessionelle Einrichtungen; wenn Schulen konfessionell gebunden blieben, boten Städte für Katholiken und Protestanten ähnliche Bildungsmöglichkeiten. Die Zulassung an höheren Lehranstalten war stärker an das Bestehen von Examina geknüpft, die durch als neutral geltende Prüfer durchgeführt wurden. Examina mussten auch absolviert werden, um bestimmte Bildungsberufe – Arzt, Jurist, Theologe, Lehrer an höheren Schulen, aber auch Tätigkeiten im Bereich der höheren Verwaltung oder Diplomatie – ergreifen oder bestimmte Privilegien (in Preußen etwa den verkürzten Militärdienst) in Anspruch nehmen zu können. Bildungseinrichtungen wurden klarer nach ihrer spezifischen Funktion differenziert; die überwältigende Mehrheit diente freilich weiterhin direkt oder indirekt dem Zweck, Staat oder Gesellschaft ausgebildetes Fachpersonal für Verwaltung, Justizwesen und andere in hohem Maße spezialisiertes Wissen erfordernde Tätigkeiten zur Verfügung zu stellen. Der Zugriff der Bildungseinrichtungen auf die allgemeine Lebensführung ihrer Lernenden nahm ab. Die Lebensgemeinschaft zwischen Lehrenden und Lernenden wurde zum Sonderfall des Internats oder eines spezifisch britisch-amerikanischen Universitätsmodells.
Am Anfang dieses Prozesses stand in katholischen Territorien nicht die napoleonische Reformwelle, sondern der Rationalisierungsimpuls der Regierungen des kontinentaleuropäischen Absolutismus, der lange vor der Revolution die Beziehung zwischen Staat und Kirche im Bereich der Bildung radikal zu verändern begann. Wer in aufgeklärter Perspektive über das Bildungssystem des ancien regime nachdachte, stieß sich fast unweigerlich an vier Eigenarten.
Erstens schienen die praxis- und anwendungsfernen Universitäten und Gymnasien alten Stils zu wenig zum Wohlstand des Staates beizutragen; eine naturwissenschaftliche Ausbildung oder Fachschulen für Techniken wie Artillerie, Festungsbau, Straßenbau oder Bergbau waren gewiss nützlicher. Zweitens widersprach der kirchliche Einfluss auf Bildung der Ablehnung jeder Einmischung von außen in das Verhältnis zwischen Monarch und Untertan, wie sie etwa von der römischen Zentrale des Jesuitenordens oder von Bischöfen, deren Amtssitz sich außerhalb des Staatsgebietes befand, ausgehen konnte. Drittens suchten die Regierungen, die Zahl der Geistlichen zu vermindern. Weltpriester, Mönche und Nonnen trugen nicht dazu bei, die Zahl der ehelich geborenen Untertanen zu steigern; diese Zahl war aber in der ökonomischen Weltsicht des sogenannten Merkantilismus eine entscheidende Grundlage des Wohlstands und des militärischen Potential eines Staates.
Der Logik eines nach Nützlichkeitsgesichtspunkten ausgestalteten Bildungswesens entsprach schließlich die Annahme, dass der Staat dessen Finanzierung regulieren sollte, indem er alle Mittel nach rationalen Gesichtspunkten verteilte.
Die Reformwellen, die etwa Frankreich und Österreich bereits im 18. Jahrhundert in diesem Sinne zu verändern begannen, gingen an den kleineren Territorien des Reichs wie Köln allerdings beinahe spurlos vorbei – daraus folgte die Wahrnehmung, das katholische Bildungswesen im Reich sei am Ende des 18. Jahrhunderts weitgehend obsolet gewesen.
In Frankreich gelang es dem Absolutismus trotz all seiner Schwächen, einen ‚Leuchtturm‘ intellektueller Modernisierung zu errichten – man denke etwa an den Erfolg der Encyclopédie, deren Verhältnis zum Staat komplex und spannungsreich, aber nicht nur durch Distanz geprägt war. Ein gewisser Napoleon B(u)onaparte hatte vor der Revolution eine Ausbildung genossen, die den Vorstellungen der Bildungsreformer des Absolutismus recht nahe kam. Seine Zeit an der Militärakademie erschien ihm selbst, zumindest im Rückblick der Memoiren, lebenslang als Inbegriff eines idealen Bildungswesens. Die Ecole Militaire, in die Napoleon in den 1780er Jahren eintrat, lehrte Kadetten in Uniform neben den im engeren Sinne militärischen Techniken und durch regelmäßigen Kirchgang vermittelte religiöse Grundkenntnisse Französisch, Mathematik, Geschichte, Geographie, Fechten und Tanzen, also vor allem praktische Fächer.
Wie Edmund Burke[2] aus der englischen Perspektive und Alexis de Tocqueville im Rückblick feststellten[3], wurde dieser Rationalisierungs- und Egalisierungsimpuls von der Revolution im Kern aufgenommen und in radikalerer Manier fortgeführt: durch die Verkündung der staatlichen Suprematie über Religion und höhere Bildung und durch die Verstaatlichung des Kirchenbesitzes. Der Staat der Revolution, zumal der radikalen Revolution der Jahre 1792 bis 1794, versprach der Bevölkerung, die Tätigkeit der Kirche im karitativen und im Bildungsbereich besser und gerechter fortzuführen, als diese es selbst vermocht oder gewollt hatte. Ein gestuftes, kostenloses Schulwesen sollte entstehen; der Lebensunterhalt aller Bürger sollte durch staatliche Zuwendungen abgesichert sein. Allerdings wurde rasch überdeutlich, dass der von Krisen geschüttelte Staat der Revolution weder in der Lage noch wirklich Willens war, die dafür erforderlichen Mittel bereitzustellen. Die Armen gegebenenfalls verhungern zu lassen, das stand in der Tradition des Absolutismus – aber auf Bildung zum Nutzen des Staates konnte man in einer Situation der Konkurrenz mit den europäischen Monarchien weniger gut verzichten. Das führte 1797 zu einer teilweisen Zurücknahme der Verstaatlichung von zweckgebundenem Besitz: Vermögen, das Bildung ermöglichen sollte, wurde an seine bisherigen Eigentümer zurückgegeben.[4] Die Französische Revolution nahm jedoch das Gleichheitsprinzip weitaus ernster, als der Absolutismus das getan hatte. War Napoleon nur als (wenn auch relativ armer) Adeliger an der Militärakademie willkommen gewesen, so sollten nun landesweit alle Bürger Bildungschancen erhalten, die ihrer Begabung, nicht ihrem Vermögen entsprachen.
Erste Bildungsreformen im französischen Köln
Als die militärischen Erfolge der französischen Armeen 1794 das linke Rheinufer und damit auch die Stadt Köln zum Teil Frankreichs machten, gingen die französischen Administratoren daran, die Ausbildungseinrichtungen in ihrem Sinne umzugestalten. An die Stelle der drei Gymnasien, deren Kollegien zugleich die Universität gebildet hatten, trat 1799 eine Zentralschule mit modernem Lehrprogramm, dessen Kernfächer Naturwissenschaften und Medizin bildeten. Der Unterricht, der vor allem in Form von Vorlesungen stattfand, war öffentlich und kostenfrei. Die Professorenbesoldung wurde von der bisher üblichen Mischung von Gebühren, eigenem Vermögen, Naturalien und einer Aussicht auf feste Bezüge nach langer Dienstzeit auf regelmäßige Gehälter umgestellt, die zum Teil aus dem ehemaligen Universitätsvermögen bestritten werden sollten.
Ein Problem war freilich festzustellen, woraus das Universitätsvermögen genau bestand. Wie in allen Umbruchzeiten war die Versuchung groß zu versuchen, Unsicherheit zum eigenen Vorteil zu nutzen. Die Pächter, die Land der Universität bewirtschafteten, waren geneigt, die Verkündung der Abschaffung feudaler Rechte so zu verstehen, als gehöre das Land jetzt ihnen. Die Erstellung einer finanziellen Bestandsaufnahme war somit die dringlichste Aufgabe der Verwaltungskommission der neuen Zentralschule, die 1800 ihre Arbeit aufnahm.
Die Reform des Schulwesens in Köln verband sich mit einer Sprachenfrage, die es in Frankreich so nicht gegeben hatte. Es lag im Interesse der französischen Verwaltung, gerade die (Ober-)Schulen dazu zu nutzen, die Bildungseliten der neuen Landesteile in den französischen Staat zu integrieren. Daher erklärte sie Französisch zur alleinigen Unterrichtssprache. Angesichts der Rolle von Französisch als lingua franca des gebildeten Europa war dies keine besonders große Herausforderung; der Wechsel machte es beispielsweise nicht notwendig, neue Lehrende zu suchen. Dennoch wurde an der Kölner Zentralschule in den meisten Fächern weiterhin auf Deutsch unterrichtet, aber auf Französisch verwaltet. Ein festes Curriculum gab es nicht; es war gerade Teil des Angriffs auf Standesschranken, jeden, der Zeit und Lust hatte, zum öffentlichen Unterricht zuzulassen. Nur Stipendiaten, deren Bildung finanziert wurde, mussten die Lektionen in einigen Kernfächern regelmäßig besuchen.
Die Finanzierungsfrage blieb schwierig. Es war typisch für die Zustände des ancien régime, dass es fast unmöglich war, festzustellen, wie viel Geld eigentlich in welchen Kassen vorhanden sein sollte, für welchen Zweck es theoretisch bestimmt und für welchen – oft ganz anderen – Zweck es praktisch ausgegeben wurde, und welche Ansprüche auf Nachzahlungen sich aus einer Veruntreuung eventuell entstehen konnten. Der Grund dafür lag nicht zuletzt in der hohen Zahl der Stiftungen. Bereits um 1800 gab es über 200 Bildungsstiftungen, die alle über ihre eigene Geschichte, ihren eigenen Besitz, aber kaum über eine schriftliche Dokumentation verfügten. In den ersten Jahren des neuen Systems ging es daher vor allem darum, mit unzureichenden administrativen Mitteln unter hohem Zeitdruck eine moderne Bilanz zu erarbeiten, mit der Verwaltung, Lehrpersonal, Begünstigte, bisherige Treuhänder und die Regierung einigermaßen leben konnten.
1802 erließ die Konsulatsregierung Napoleons neue Rahmenbedingungen für den Unterricht. Diese liefen auf eine weitere Zentralisierung einerseits, die Abkehr von den egalitären Prinzipien der revolutionären Schule andererseits hinaus. Dabei war Napoleon ebenso wichtig, was gelernt werden sollte, wie wer nichts lernen durfte; das gab der napoleonischen Unterrichtsreform ihre konservativen Züge. In den Volksschulen führte sie zur Rückkehr der lokalen und religiösen Aufsicht über die Vermittlung rudimentärer Bildung an Jungen und, wenn es denn sein musste, an Mädchen – Unterschichten und Frauen hielt Napoleon für eigentlich naturgemäß bildungsfern.
An höheren Schulen sollte eine landeseinheitliche Hierarchie von Schulformen entstehen, die für jeweils unterschiedliche Tätigkeiten qualifizierten. Auf die Volksschulen folgten praktisch orientierte Sekundärschulen und eher akademisch ausgerichtete Lycées. Beide höhere Schultypen waren in den napoleonischen Militärstaat integriert: die uniformierten Schüler der Lycées sollten sich bereits auf ihre künftige Offiziersrolle einstellen. Die Finanzierung der Gehälter der Lehrenden übernahm der Staat. Ein hohes Schulgeld sollte die soziale Exklusivität der Lycées und Sekundarschulen garantieren, wobei dem ursprünglichen Gleichheitsanspruch durch eine begrenzte Zahl von Stipendien für die Söhne bewährter Beamter und Offiziere einerseits, für besonders begabte, durch Examen ausgewählte Jungen andererseits Rechnung getragen wurde. Leistung und Schuleffizienz sollten durch öffentliche Examina kontrolliert werden, bei denen die Besten durch Medaillen materiell wie ideell belohnt wurden.
Die neue Sekundarschule – und der neue alte Stiftungsfonds
Auch diese Reform stellte Köln vor besondere Probleme, die vor allem Statusprobleme waren. Die französische Zentralverwaltung, deren Sympathie für Köln sich in Grenzen hielt, hatte Bonn und Mainz als Standorte der beiden für das Rheinland geplanten Lycées ausgewählt. Für Köln wäre nur eine Sekundarschule geblieben. Das hätte zugleich bedeutet, das bisherige Universitätsvermögen zu anderen Zwecken zu verwenden und die Kontrolle darüber zu verlieren. Nur die effektive Lobby-Arbeit der Stadtverwaltung konnte das verhindern. Sie überzeugte Napoleon bei seinem Besuch 1804 davon, eine Ausnahme von der Regel zu machen. Am 22. Brumaire XIV (13. November 1805) ordnete Napoleon in seinem Hauptquartier in St. Pölten bei Wien endgültig an, dass in Köln eine (in dieser Form einmalige) Sekundärschule „ersten Grades“ eröffnet werden sollte, die einer Lycée nahe kam, ohne doch eine zu sein. Beide Sekundärschulen sollten aus den Mitteln des zum Stiftungsfonds umfunktionierten ehemaligen Universitätsvermögens finanziert werden. Dieser Fonds sollte nun – außer durch die seit 1800 bestehenden Instanzen – auch noch durch einen procureur-gérant, der bald als Verwalter bezeichnet wurde, auf Vordermann gebracht und gehalten werden. An der Sekundärschule ersten Grades standen alte Sprachen und Philosophie im Mittelpunkt; an der Sekundärschule zweiten Grades konnte man dagegen vor allem Anwendungswissen, zum Beispiel über die chemischen Grundlagen der Textilfärberei, erwerben.
Die Aufnahme der neuen Schule war – was in einer Phase der ständigen Reformen kaum überraschen kann – gemischt. In einer Grenzstadt wie Köln, deren Bindung an das neue Vaterland geringer war als an die eigene Autonomie und Tradition, bedeutete der Besuch der neuen Schule ein Bekenntnis zu einer prekär erscheinenden neuen Ordnung, das nicht jeder abgeben wollte. Der Regierungswechsel ging zwar nicht mit einem Elitenwechsel einher, aber es war ratsam, sich alle Wege offen zu halten und zumindest Teile einer Familie zum Schulbesuch auf dem rechten Rheinufer zu animieren. Außerdem konnte der höhere Schulbesuch angesichts der engen Beziehung zum Militär bald als nachgerade lebensgefährlich gelten, denn das virtuelle Offizierspatent des Schulabschlusses hatte gegen Ende der napoleonischen Ära alles andere als positive Auswirkungen auf die Lebenserwartung. Schließlich waren die Staatsschulen teuer und in ihrem – zentral verordneten – Lehrprogramm weniger flexibel als die private Konkurrenz, die drei höhere Schulen in Köln unterhielt. Beide Sekundarschulen boten allerdings den von personenbezogenen Stiftungen begünstigten Schülern weiterhin kostenlosen Unterricht; ein Beleg für die Bedeutung individueller Eigentumsansprüche im napoleonischen Regime.
Ausblick
Als nach 1814 das linke Rheinufer zunächst unter provisorische Verwaltung gestellt wurde und dann an Preußen fiel, gehörte das institutionelle und finanzielle Arrangement der Kölner Bildungseinrichtung zu den rheinischen Institutionen, welche Preußen – das Privatbesitz ebenfalls zu bewahren suchte – respektierte. Die Entscheidung, das preußische Gymnasium einzuführen, ohne den Kölner Gymnasial- und Stiftungsfonds anzutasten, hat die Weichen dafür gestellt, dass er seiner Tätigkeit bis in die Gegenwart nachgehen kann. Die vorsichtigen Investitionsentscheidungen seiner Verwalter haben dazu geführt, dass er trotz Kriegen und Währungsreformen noch Mittel hat, mit denen er Bildung fördern kann – im Gegensatz etwa zur Frankfurter Universität, deren Stiftungsvermögen im Ersten Weltkrieg im Wortsinne in Schall und Rauch aufging. Die preußische Regierung konzentrierte die Förderung nun aber auf das Studium an inländischen Universitäten, um den Landespatriotismus zu stärken, es sei denn, andere Universitäten waren in Stiftungsdokumenten namentlich genannt.
Man könnte argumentieren, dass der Stiftungsfonds ein Beweis für Edmund Burkes These darstellt[5], die besten Reformen seien die, denen es gelinge, Kompromisse zwischen gewachsenen Strukturen und neuen Ideen zu finden. Auf alle Fälle kann man sagen, dass er ein Beispiel dafür darstellt, dass gut strukturierte private Stiftungen in der Lage sein können, Vermögen effizient, wirtschaftlich und im Sinne des Stiftungszwecks zu verwalten. Das war gewiss nicht eine Erwartung, welche die Entscheidungen der napoleonischen Ära mit ihrem ungebrochenen Vertrauen in das Potential des modernen Verwaltungsstaats geprägt hat. Der Kölner Sonderfall hatte entsprechend keine prinzipielle Bedeutung, zumal man sicher annehmen darf, dass Napoleon 14 Tage vor Austerlitz wohl kaum sehr viel über die Kölner Schulfrage nachgedacht hat. Dennoch sagt er einiges über den Übergang von der Frühen Neuzeit in die Moderne aus: über den Wandel der Vorstellungen von Bildungsidealen und Bildungsgerechtigkeit, mehr noch aber über die Wahrnehmung von Eigentumsrechten.
Literaturhinweise:
Bildung stiften. Kölner Gymnasial- und Stiftungsfonds. Köln 2000.
Müller, Klaus, Köln von der französischen zur preußischen Herrschaft 1794-1815 (Geschichte der Stadt Köln, Bd. 8), Köln 2005.
Rowe, Michael, From Reich to State. The Rhineland in the Revolutionary Age, 1780-1830.
Willms, Johannes, Napoleon: Eine Biographie, München 2005.
[1] Essay zur Quelle: Kölner Gymnasial- und Stiftungsfonds. Dekret vom 22. Brumaire XIV (St. Pölten, 13. November 1805); [Französisches Original und Übersetzung; Auszug].
[2] Burke, Edmund, Reflections on the Revolutions in France and on the Proceedings in Certain Societies in London Relative to that Event. In a Letter Intended to Have Been Sent to a Gentleman in Paris, London 1790.
[3] Charles Alexis Henri Maurice Comte Cleres de Tocqueville, L’Ancien Régime et la Révolution, Paris 1856.
[4] Bei Vermögen für karitative Zwecke geschah das erst 1824.
[5] Burke, Reflections.
Zugehörige Quelle:
Kölner Gymnasial- und Stiftungsfonds. Dekret vom 22. Brumaire XIV (St. Pölten, 13. November 1805); [Französisches Original und Übersetzung; Auszug].