Die „Ecuador Land Company“: Ein deutsch-britisches Kolonisationsprojekt in der Mitte des 19. Jahrhunderts[1]
Von Ulrike Kirchberger
Die “Ecuador Land Company” (ELC) wurde 1859 in London gegründet. Das Ziel der Gesellschaft war es, Land in Ecuador zu erwerben, es wirtschaftlich zu erschließen und zu kolonisieren. Dies war in der damaligen Zeit kein ungewöhnliches Vorhaben. Sowohl in Großbritannien als auch in den Staaten des Deutschen Bundes wurden vor dem Hintergrund der Massenauswanderung nach Übersee immer wieder Kolonisations- und Auswanderungsgesellschaften gegründet. Das Besondere an der ELC bestand darin, dass sie von deutschen und britischen Kaufleuten in London gemeinsam getragen wurde und sich aus dieser Konstellation spezielle Möglichkeiten ergaben, die ein in Deutschland gegründeter Auswanderungsverein nicht hatte.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts betätigte sich eine große Zahl von deutschen Kaufleuten in London, Liverpool und den Industriezentren Mittelenglands. Zu einer Zeit, in der die Staaten des Deutschen Bundes kaum in den außereuropäischen Teilen der Erde präsent waren, konnte man von Großbritannien aus in den Überseehandel mit den britischen Kolonien einsteigen und seinen Fernhandel an die britischen Niederlassungen, Vertretungen und Stützpunkte in aller Welt knüpfen. Nicht nur Kaufleute kamen in dieser Zeit nach Großbritannien, um die Infrastruktur des britischen Empire zu nutzen. Solange Deutschland keine eigenen Kolonien hatte, verwirklichten viele Deutsche ihre überseeischen Interessen von Großbritannien aus. Deutsche Forschungsreisende, die im Humboldtschen Geiste nach fernen Landen strebten, Asienwissenschaftler, die sich mit den einschlägigen Sammlungen der britischen Bibliotheken befassen wollten, und Missionare, die über die neu begründeten britischen Missionsgesellschaften nach Afrika und Indien entsandt wurden, zog es nach Großbritannien. Die deutsche Auswanderung nach Nordamerika in der Mitte des 19. Jahrhunderts vollzog sich zu einem guten Teil über die britischen Überseehäfen in London und Liverpool. In London hielten sich in den Jahren nach 1849 viele gescheiterte Revolutionäre auf, bevor sie in die USA weiterreisten. Sozialisten wie Wilhelm Weitling versuchten, kommunitäre Gemeinwesen weitab der europäischen Zivilisation zu errichten. Bürgerliche Emigranten, die ganz unter dem Eindruck der Errungenschaften des Empire standen, verlangten nach einem deutschen Weltreich und unterstützten Kolonisationsprojekte wie die ELC.[2]
Die ELC war als britische Aktiengesellschaft organisiert. Ihre Ziele waren vornehmlich wirtschaftlicher Art. Der Staat Ecuador, seit 1830 unabhängige Republik, war hoch verschuldet. Ende der fünfziger Jahre versuchte die ecuadorianische Regierung, ihre Auslandsschulden bei Großbritannien abzubauen, indem sie Ländereien zum Verkauf anbot. Diesen Umstand nutzten die Initiatoren der ELC, indem sie Landparzellen im Gesamtumfang von 4 ½ Millionen acres von der ecuadorischen Regierung erwarben. Das Grundkapital der ELC sollte dadurch gelegt werden, dass die Gründungsmitglieder als Aufnahmebedingung mindestens 25 Aktienanteile zu je 2 Pfund erwerben mussten.
Der Vorstand der Aktiengesellschaft setzte sich, abgesehen von einem Kaufmann aus Amsterdam, aus britischen und deutschstämmigen Mitgliedern der Londoner Wirtschafts- und Finanzwelt zusammen. Der Vorstandsvorsitzende Isidor Gerstenberg, ein jüdischer Bankier, vertrat die ELC in der britischen Politik und Öffentlichkeit. Gleichzeitig war er, wie das Vorstandsmitglied Louis Levinsohn und mehrere Aktionäre, im Vereinsleben der deutschen Minderheit in London aktiv. So beteiligten sich Gerstenberg und Levinsohn 1859 an der Organisation der Schillerfeiern, einem Großereignis, das das deutschstämmige Bürgertum in aller Welt zur Pflege seiner deutschen Identität nutzte. Auch der bildungsbürgerliche, von dem ehemaligen Bonner Professor und Revolutionsflüchtling Gottfried Kinkel gegründete „Deutsche Verein für Kunst und Wissenschaft“ sowie der „Deutsche Rechtsschutzverein“ wurden von Gerstenberg und Levinsohn unterstützt, und sie standen in Kontakt zu Achtundvierzigern wie Ferdinand Freiligrath, Johannes Ronge und Gustav Struve, die damals im Londoner Exil lebten.
Von den 66 Gründungsmitgliedern der ELC waren 46 in London angesiedelt, zwei lebten in anderen britischen Städten, acht in den Niederlanden, drei in Frankreich, vier in Deutschland und drei in Übersee (Melbourne, Cape Town, Guayaquil). Ungefähr die Hälfte der Gründungsmitglieder, die ihren Wohnsitz in London hatte, war britisch, die andere Hälfte bestand aus deutschen Zuwanderern. Auch bei den Teilhabern aus Übersee handelte es sich um deutsche Geschäftsleute. Eine kleine Minderheit stammte aus Frankreich und Holland.
Das Ziel der ELC bestand darin, Ecuador für die europäische Wirtschaft und den Handel zu erschließen. Tropische Produkte sollten kultiviert werden, wobei sich ein Hauptaugenmerk, wie damals allgemein üblich, auf den möglichen Anbau von Baumwolle richtete. Man erwartete reiche Rohstoffvorkommen und wies darauf hin, dass in der Gegend Gold gefunden werden könnte. Es wurden Vergleiche zu Kalifornien und Südaustralien gezogen, wo der Goldrausch der vierziger und fünfziger Jahre einen Boom ausgelöst hatte. Ferner sollte die Gegend für den Handel geöffnet werden. Man plante die Erschließung des Hinterlandes, den Bau eines Straßennetzes und die weitere Anbindung an die Amazonasregion. Vom Ausbau des Überseehafens erhofften sich die Mitglieder der ELC die Anbindung der Region an den Welthandel, wobei die Nähe zum geplanten Panamakanal als besonders vielversprechend gewertet wurde. Durch die Gründung einer Siedlungskolonie sollten all diese Pläne vorangetrieben werden. Wie die Städte Melbourne und San Francisco, die in dieser Zeit in eine Phase rasanter Urbanisierung eintraten, würde das ecuadorianische Pailon zu einer prosperierenden Metropole werden. Es sollte eine wirtschaftliche Wachstumsregion entstehen, die sich mit der kanadischen Westküstenkolonie British Columbia vergleichen ließe. Potentiellen Aktionären und Auswanderungswilligen wurde Ecuador als ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten vor Augen geführt.
Die wirtschaftliche sollte eng mit der wissenschaftlichen Erschließung einhergehen. Die geographische, geologische und botanische Erforschung der in Europa damals weitgehend unbekannten Gegend wurde als Grundlage einer erfolgreichen Kolonisation betrachtet. Die ELC pflegte enge Kontakte zu Forschungsreisenden, die Ecuador aus eigener Anschauung kannten und mit einschlägigen Studien über die Pflanzenwelt und die Rohstoffvorkommen der Region hervorgetreten waren. Gerstenberg, Levinsohn und verschiedene andere Teilhaber bemühten sich außerdem um die Unterstützung der Londoner „Royal Geographical Society“, der damals wichtigsten Organisation zur wissenschaftlichen Erforschung der außereuropäischen Welt. Gerstenberg und Levinsohn standen in ständigem Briefkontakt zur „Royal Geographical Society“, und 1858 fand in der Gesellschaft anlässlich eines Vortrags von W. Bollaert, der gleichzeitig Aktionär der ELC und Mitglied der „Royal Geographical Society“ war, eine große Diskussion über das Vorhaben der ELC statt.[3]
Die wirtschaftliche und die wissenschaftliche Erschließung Ecuadors sowie die Errichtung einer Siedlungskolonie waren die drei großen Ziele, die deutsche und britische Aktionäre gemeinsam verfolgten. Allerdings wurden unter den deutschen Teilhabern etwas andere Schwerpunke gesetzt als auf britischer Seite. Das britische Interesse in Lateinamerika war vor allem auf die informelle ökonomische Durchdringung gerichtet. Die Gründung von Siedlungskolonien in der südlichen Hemisphäre des amerikanischen Kontinents war kein typisches Ziel des britischen Expansionismus. Die britischen Auswanderer sollten vielmehr in die bereits bestehenden Siedlungskolonien des Empire gelenkt werden. Es waren vor allem die deutschen Teilnehmer, die die wirtschaftlichen Ziele der ELC mit der Gründung einer Kolonie verbanden.[4] Einige der deutschen Aktionäre waren der Achtundvierziger-Bewegung zuzuordnen, und sie verfolgten mit ihrer Beteiligung an der ELC das alte Ziel aus Revolutionszeiten, dass der künftige deutsche Nationalstaat überseeische Kolonien haben müsse, in denen die Auswanderer ihr „Deutschthum“ aufrecht erhalten könnten. Lateinamerika schien dafür besser geeignet als die angelsächsisch geprägten Weltengegenden, in denen sich die deutschen Auswanderer rasch anpassen und ihre deutsche Kultur aufgeben würden. In den Jahren der Massenauswanderung waren in Deutschland immer wieder Auswanderungsvereine entstanden, die Brasilien und andere lateinamerikanische Staaten als Zielländer ins Auge gefasst hatten.
Die ELC war, was Teilhaber aus den Reihen der Achtundvierziger anbetraf, durchaus prominent besetzt. Unter den in der Quelle als „influential Germans“ bezeichneten Aktionären befand sich beispielsweise Lothar Bucher, der spätere Berater Otto von Bismarcks. Er war 1850 nach London geflohen, wo er als Journalist tätig war und sich wie Isidor Gerstenberg und Louis Levinsohn in den Kreisen um Gottfried Kinkel bewegte. In London begann er, sich für koloniale Fragen zu interessieren und ein deutsches Weltreich nach britischem Vorbild zu fordern.[5] Er wurde Anteilseigner der ELC und zog eine Existenz als Kaffeepflanzer in Ecuador ernsthaft in Erwägung.[6]
Die Gründung der ELC lässt sich im Hinblick auf die Teilhaber aus den Reihen der deutschen Nationalbewegung als Fortsetzung der kolonialpolitischen Ideen verstehen, die in den vierziger Jahren in Deutschland propagiert wurden. Was im Vormärz an kolonialer Ideologie entwickelt und in der Paulskirche diskutiert worden war, realisierten einige Achtundvierziger in der Londoner Emigration. In den Staaten des Deutschen Bundes waren mit dem Scheitern der Revolution auch die Weltreichsvorstellungen in den Hintergrund des politischen Interesses getreten. Während der Phase der Reaktion bestand unter deutschen Politikern kaum noch das Bedürfnis nach einer aktiven Kolonialpolitik. Im Gegensatz zur politischen Gleichgültigkeit im Deutschen Bund herrschte unter den Exulanten in London während der fünfziger Jahre nach wie vor ein großes Interesse an der Kolonialexpansion. Die ELC ist ein Beispiel dafür, wie unter den günstigen Bedingungen des britischen Exils koloniale Projekte verwirklicht wurden, die in Deutschland zur gleichen Zeit nur schwer hätten realisiert werden können.
Ein Erfolgsfaktor der deutschen Kaufleute in London bestand darin, dass ihre Präsenz in Großbritannien es ihnen ermöglichte, die ELC gegenüber der britischen Politik und Öffentlichkeit als rein britisches Unternehmen darzustellen. Diese Strategie wurde beispielsweise verfolgt, als der Vorstand der ELC Kontakt zur britischen Regierung aufnahm. Dies geschah bereits in einem sehr frühen Stadium der Gründung, denn die ELC wurde schnell in die Probleme der lateinamerikanischen Politik hineingezogen. Als Grenzstreitigkeiten zwischen Peru und Ecuador das Vorhaben zu beeinträchtigen drohten, suchte die ELC Unterstützung durch die britische Regierung. Es war jedoch kein offizielles Bekenntnis der britischen Regierung zu den Aktivitäten der ELC zu bekommen. Das Foreign Office verhielt sich ganz gemäß den Grundlagen der damaligen britischen Lateinamerikapolitik, die sich auf die Gewährleistung günstiger Rahmenbedingungen für britische Wirtschaftsinteressen beschränkte, aber in aller Regel nicht aktiv intervenierte.[7] In der Korrespondenz zwischen Foreign Office und Vertretern der ELC wurde das Ansinnen der ELC von beiden Seiten als britische Angelegenheit behandelt. Gerstenberg präsentierte das Unternehmen als britisches Projekt und argumentierte als „British subject“. Die britische Regierung behandelte die ELC wie ein vergleichbares britisches Unternehmen und nicht wie eines der deutschen Kolonisationsprojekte, denen sie in der Regel ablehnend gegenüberstand.
Während so manches deutsche Kolonisationsprojekt der 1840er Jahre bereits in der Planungsphase gescheitert oder dem Veto des Foreign Office zum Opfer gefallen war, sandte die ELC 1860 die erste Siedlergruppe nach Ecuador. Zwar kam es bereits auf der Überfahrt zu Streitigkeiten unter den Auswanderern und ein Teil trennte sich nach der Ankunft von der Gesellschaft. Der verbliebene Teil ließ sich jedoch dauerhaft auf den dafür vorgesehenen Parzellen nieder.
Somit war es den deutschen Kaufleuten in Großbritannien aufgrund ihres Londoner Standortvorteils möglich, die deutsch-britische Konkurrenz im Bereich der Wirtschafts- und Kolonialexpansion zu überwinden und zu einer Zusammenarbeit zu gelangen. Es lässt sich, wenn man derartige Aktivitäten der Deutschen in Großbritannien berücksichtigt, für die Mitte des 19. Jahrhunderts ein gesteigertes deutsches Interesse an überseeischen Angelegenheiten diagnostizieren, obwohl im Deutschen Bund in den fünfziger und sechziger Jahren der politische Drang zur Machtentfaltung in der außereuropäischen Welt nicht sehr ausgeprägt war. Daraus ergibt sich die Frage, wie die Tatsache, dass deutsche Kaufleute, politisch engagierte Kolonialpropagandisten und Forschungsreisende in der Mitte des 19. Jahrhunderts ihre überseeischen Interessen unter den günstigen Ausgangsbedingungen in Großbritannien realisierten, im Hinblick auf die deutsche Kolonialgeschichte zu bewerten ist. Fehlten dadurch in Deutschland wichtige pressure groups, die koloniale Themen im Zentrum der öffentlichen und politischen Diskussion hätten halten können und trug die Abwesenheit einer Lobby für koloniale Angelegenheiten zu einer Verzögerung des Einstiegs in den Kolonialismus bei? Oder gaben die deutschen Interessengruppen aus Großbritannien und dem Empire wichtige Impulse nach Deutschland zurück und verliehen auf diese Weise den in den Hintergrund getretenen kolonialpolitischen Diskussionen neuen Schwung? Diese Transferprozesse wurden von der Forschung bislang kaum beachtet. Sie machen jedoch deutlich, wie eng die intereuropäischen Verflechtungen im Bereich der kolonialen Entfaltung in der außereuropäischen Welt waren. Das von der nationalstaatlich orientierten Historiografie geprägte Bild von jeweils getrennt voneinander verlaufenden Kolonialgeschichten sollte zugunsten einer transnationalen Betrachtung der europäischen Expansion in Übersee revidiert werden.
[1] Zugehörige Quelle: Ecuador Land Company, Limited. Prospectus (1859); [Auszüge].
[2] Ulrike Kirchberger, Aspekte deutsch-britischer Expansion: Die Überseeinteressen der deutschen Migranten in Großbritannien in der Mitte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1999.
[3] The National Archives, Kew, F. O. 25/34, Explorations in Ecuador in 1856-7. By Mr. G. J. Pritchett. Communicated to the Royal Geographical Society by W. Bollaert, Esq., F.R.G.S.
[4] Zur Auswandererwerbung der ELC im Deutschen Bund siehe: Ecuador und die Ecuador-Land-Compagnie, Mannheim 1862.
[5] Lothar Bucher, Bilder aus der Fremde. Für die Heimath gezeichnet von Lothar Bucher, Zweiter Band: Die Londoner Industrie-Ausstellung von 1862, Berlin 1863, S. 32 f.
[6] Moritz Busch, Tagebuchblätter, 2. Bd., Leipzig 1899, S. 195; Bruno Bucher, Erinnerungen an Lothar Bucher, in: Grenzboten 51,4 (1892), S. 428.
[7] The National Archives, Kew, F. O. 25/34, 39, Korrespondenzen zwischen den Vertretern der ELC und dem Foreign Office aus den Jahren 1859 bis 1861.
Literaturhinweise:
Chapman, Stanley D.: The International Houses: The Continental Contribution to British Commerce, 1800-1860, in: The Journal of European Economic History 6 (1977), S. 5-48.
Kirchberger, Ulrike: Aspekte deutsch-britischer Expansion: Die Überseeinteressen der deuschen Migranten in Großbritannien in der Mitte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1999.
Manz, Stefan; Schulte Beerbühl, Margrit; Davis, John (Hgg.): Migration and Transfer from Germany to Britain 1660-1914, München 2007.
Moltmann, Günter: Auswanderung als Revolutionsersatz?, in: Salewski, Michael (Hg.), Die Deutschen und die Revolution, Göttingen/Zürich 1984, S. 272-297.
Platt, D. C. M.: British Bondholders in Nineteenth-Century Latin America – Injury and Remedy, in: Inter-American Economic Affairs 14 (1960), S. 3-43.