1972/3: Ende der Weltmission Der europäische Protestantismus kehrt nach Hause zurück

Es ist ein Bild von geradezu unmoderner Ruhe und Klarheit: Die runde, mit einem Blick überschaubare Erde, harmonisch eingebettet in die Weiten des Kosmos – und doch nicht geometrischer Mittelpunkt der Welt. Der biblisch vorgeprägte Betrachter mag darin vor allem ein Symbol für die gute Schöpfungsordnung Gottes erkennen; der historisch Versierte möglicherweise ein Sinnbild für den zu Beginn des 20. Jahrhunderts herrschenden Fortschrittsglauben und Optimismus.

1972/3: Ende der Weltmission. Der europäische Protestantismus kehrt nach Hause zurück

Von Katharina Kunter

Es ist ein Bild von geradezu unmoderner Ruhe und Klarheit: Die runde, mit einem Blick überschaubare Erde, harmonisch eingebettet in die Weiten des Kosmos – und doch nicht geometrischer Mittelpunkt der Welt. Der biblisch vorgeprägte Betrachter mag darin vor allem ein Symbol für die gute Schöpfungsordnung Gottes erkennen; der historisch Versierte möglicherweise ein Sinnbild für den zu Beginn des 20. Jahrhunderts herrschenden Fortschrittsglauben und Optimismus.

Erst auf den zweiten Blick erschließt sich eine direkte geographische Beziehung: Es sind die beiden Kontinente Europa und Afrika, die hier im Fokus der präsentierten Erdkugel stehen. Dabei ragt Afrika, sowie am rechten Rand Asien, im Gegenüber zu Europa markant aus der Zeichnung heraus.

Ohne Zweifel: Diese namentlich nicht näher angegebene Zeichnung ist Teil einer Mission. Sie wurde als Leitbild dem Dokumentationsband der ersten Weltmissionskonferenz, die 1910 im schottischen Edinburgh stattfand, vorangestellt.[1] 1400 Vertreter aus 159 weltweit vertretenen protestantischen Missionsgesellschaften und Missionsräten kamen damals zusammen, getragen von der großen Vision eines sich dynamisch vom Westen her ausbreitenden, erneuerten Christentums. Zum epocheprägenden Motto des missionarischen Aufbruches in Edinburgh entwickelte sich daher schnell die Redewendung von „The Evangelization of the World in this Generation“, ursprünglich ein Buchtitel des methodistischen amerikanischen Vorsitzenden der Weltmissionskonferenz und späteren Friedensnobelpreisträgers John Raleigh Mott aus den USA (1865-1955). Gleichzeitig wurde Edinburgh 1910 zur Chiffre all jener Hoffnungen, die europäische und nordamerikanische Protestanten nun, am Beginn des neuen Jahrzehnts, auf ein weltweit agierendes und vernetztes Christentum, die „ökumenische Bewegung“, setzten. Freilich: „The most notable gathering in the worldwide expansion of Christianity ever held, not only in missionary annals, but in all Christian annals“[2], wie Mott selber die historische Bedeutung der Konferenz einschätzte, war vor allem ein Ereignis des protestantischen Westens. Denn trotz der internationalen Herkunftsorte der Teilnehmer konnte von dem angestrebten „Weltprotestantismus“ in Edinburgh nur sehr eingeschränkt die Rede sein. Lediglich 17 der 1400 Teilnehmer stammten aus Ländern der „Dritten Welt“. Der christliche Westen – also (West)Europa und Nordamerika – bildete den natürlichen Ausgangspunkt fast aller Überlegungen und Beiträge der Konferenz. Im Mittelpunkt stand dabei die gegenwärtige Herausforderung für das Christentum durch die weltweiten nichtchristlichen Religionen. So gab es durchaus Sympathien und Wertschätzung für den Hinduismus, der etwa von einigen britischen Theologen als ethische Vorstufe des Christentums interpretiert wurde. Von unserem modernen interreligiösen Dialogdenken freilich war die Versammlung damals noch weit entfernt; der Absolutheitsanspruch des Christentums wurde zu keiner Zeit in Frage gestellt. Und selbstverständlich folgten die meisten Teilnehmer in Edinburgh einem paternalistischen Verständnis von Mission, die vor allem als Expansion, also als Ausbreitung der westlichen Kultur in die nichtwestliche Welt gedacht wurde. Die Antwort von Edinburgh lautete daher folgerichtig: Weiterhin Verkündigung des Evangeliums gegenüber den Heiden, allerdings in Zukunft gebündelt in einer stärker institutionalisierten weltweiten Missionsbewegung. Diese wurde 1921 durch die Gründung des Internationalen Missionsrates realisiert.

Gut fünfzig Jahre später rollte eine gewaltige Lawine gegen diese in Edinburgh vorherrschende Selbstüberzeugung der Europäer und Nordamerikaner an und erschütterte das von unserem Zeichner 1910 noch so harmonisch ins Bild gesetzte Verhältnis zwischen den Protestanten in Europa, Afrika und Asien in seinen Grundfesten. Nun ging es nicht mehr primär um eine Schöpfungsordnung, in der jeder Kontinent mit seinen Kirchen den ihm bestimmten Platz einnahm, sondern darum, wie gleichberechtigt die „jungen Kirchen“ aus dem Süden de facto in der Ökumenischen Bewegung waren. Dekolonisierung, Revolution und Antirassismus lauteten dementsprechend die globalen Schlagworte der 1960er Jahre. Diese erfassten auch den weltweiten Protestantismus, der sich seit 1948 im Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf institutionalisiert hatte (und zu dem auch Anglikaner und später Orthodoxe gehörten), und führten dort zu einem deutlich wahrnehmbaren Transformationsprozess innerhalb der „alten“, überwiegend westlich geprägten evangelischen internationalen Kirchenelite. Ein entscheidendes Element war dabei die steigende Anzahl kirchlicher Delegierter aus Afrika, Asien und Lateinamerika, die sich nach der offiziellen Integration des Internationalen Missionsrates in den Ökumenischen Rat der Kirchen in Neu-Delhi 1961 durchsetzte. Schon bei der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft in Genf 1966 stammte die Hälfte der rund 450 Teilnehmer aus Ländern der „Dritten Welt“. Mit ihrer Präsenz veränderten sich folgerichtig die Themen. Die 1969 beschlossene Einrichtung eines „Antirassismusprogramms“, das unterschiedlichen Befreiungsbewegungen, vor allem im südlichen Afrika, humanitäre Unterstützung geben wollte, verlief allerdings in den europäischen und nordamerikanischen Kirchen nicht konfliktfrei; vor allem im deutschen Protestantismus in Ost und West kam es zu beträchtlichen innerkirchlichen Kontroversen.

Die größere öffentliche Resonanz dieser Entwicklung hin zu mehr Globalität erfuhr allerdings die Wahl des dritten Generalsekretärs des Ökumenischen Rates der Kirchen 1972. Einstimmig wurde der 51-jährige Philip A. Potter von der damals noch unter britischer Kolonialherrschaft stehenden Karibikinsel Dominica gewählt – der erste „farbige“ Generalsekretär nach dem Niederländer Willem A. Visser´t Hooft und dem US-Amerikaner Eugene Carson Blake. Seine Wahl galt nicht nur weltweit als Symbol für die nun erreichte Gleichberechtigung der Kirchen der „Dritten Welt“ gegenüber Europa und Nordamerika, sondern drückte zugleich die enorme Hoffnung auf eine umfassende innere Erneuerung der Ökumene aus.[3] So sehr allerdings von außen die Wahl Potters als der Beginn einer neuen Ära im Weltprotestantismus gefeiert werden mochte: Potters ökumenischer Aufstieg war nicht nur ein Zeichen für den kirchlichen Ausbruch des Südens aus der Umklammerung der nördlichen Hemisphäre. Er war zugleich ein anschauliches Beispiel für die die protestantische Ökumene des 20. Jahrhunderts prägende Interdependenz zwischen „Nord“ und „Süd“. Denn Potter, der seit 1961 einen britischen Pass besaß, und sich selber immer wieder sowohl als „britisches Subjekt“ wie auch als „unerwünschter Fremder“ verstand[4], war bei seiner Wahl bereits ein „alter Hase“ im ökumenischen Betrieb. Er hatte, mit entsprechender Förderung der beiden vorangehenden Generalsekretäre, alle wichtigen Karriereetappen genommen, die ihn für ein internationales kirchliches Leitungsamt qualifizierten: Zunächst im Christlichen Studentenweltbund aktiv, trat er bereits als Redner für die Jugend bei den Vollversammlungen des Ökumenischen Rates der Kirchen in Amsterdam (1948) und Evanston (1954) auf. 1954, mit 33 Jahren, siedelte er nach Genf über, wo er in der Jugendabteilung des Ökumenischen Rates arbeitete; von 1958 bis 1961 sogar als deren Direktor. Nach einigen weiteren Jahren bei der Methodistischen Missionsgesellschaft in London kehrte er schließlich 1967 als Direktor der Abteilung für Weltmission und Evangelisation, dem früheren Internationalen Missionsrat, nach Genf zurück. In dieser Position war Philip Potter am Ende seiner Amtszeit auch für die Durchführung der neunten Weltmissionskonferenz verantwortlich, die vom 20. Dezember 1972 bis zum 13. Januar 1973 im thailändischen Bangkok stattfand.

Es war diese Zusammenkunft, die einen Schlusspunkt unter das europäisch geprägte Ökumene- und Missionsverständnis, das 1910 in Edinburgh seinen Ausgang genommen hatte, setzte. Deutlicher als die Wahl Philip Potters zum neuen Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen markierte Bangkok 1972/73 den epochalen Wandel, der sich seitdem innerhalb der protestantischen Ökumene vollzogen hatte.

Im Mittelpunkt der Bangkoker Konferenz stand die Frage, was heute unter Mission und Heil zu verstehen sei. Dies gemeinsam zu erkunden, waren über 300 Teilnehmer aus 69 Ländern unter dem Thema „Das Heil der Welt heute“ bzw. „Salvation Today“ zusammen gekommen. Im Gegensatz jedoch zu sämtlichen vorhergehenden Treffen aus der internationalen Missionsbewegung sollten dieses Mal von Anfang an die Stimmen und Themen der jungen Kirchen in Übersee im Zentrum der Konferenz stehen. Dazu hatten die Veranstalter ein stärker gruppenzentriertes Tagungskonzept entwickelt, das vom bisher üblichen, als europäisch empfundenen Programm mit Vorträgen und Expertendiskussionen grundlegend abwich und das Gespräch in kleinen Gruppen in den Vordergrund rückte. So sollte verhindert werden, dass nordatlantische Teilnehmer mit langen Redebeiträgen die Plenumsdebatten dominierten. Das Konzept hatte Erfolg: Tatsächlich ließen sich in den ersten Tagen der Weltmissionskonferenz fast nur Stimmen aus dem Süden vernehmen. Aufrüttelnde Appelle waren dabei, wie etwa der des ehemaligen indonesischen Generals Simatupang, der mit Leidenschaft ausrief, dass hier in Bangkok die über 400-jährige Ära der westlichen Kultur und der westlichen Kirche zu Ende gehe. Die inhaltlichen Ergebnisse am Schluss der Weltmissionskonferenz in Bangkok bestätigten schließlich diesen Tenor: Heil wurde nun vor allem als Befreiung aus einer bestimmten politischen und sozialen Unrechtssituation interpretiert, Mission nicht mehr als eine vom Westen aus gehende Weltmission, sondern als Erneuerung der Kirchen nach innen hinein und in ihren zwischenkirchlichen Beziehungen, als eine „mission in six continents“. Zusätzlich machten afrikanische und asiatische Teilnehmer den Vorschlag, dass die ökumenischen Gremien in Europa und Nordamerika sowohl einen vorübergehenden Entsendungsstopp ihrer Missionare als auch ihrer finanzieller Leistungen in die „Dritte Welt“ beschließen mögen.

Für viele Europäer markierte Bangkok 1972/73 einen grundlegenden Einschnitt in der Geschichte des protestantischen Christentums. Evangelikale in Deutschland wie in den USA protestierten gegen den neuen ökumenischen Grundkonsens, kritisierten die zunehmende „Humanisierung“ des Evangeliums und sahen in der Aufgabe des westlichen Missionsauftrages die Preisgabe des Christentums schlechthin.[5] Die betonte Abwendung dieser Gruppierungen, die sich bis dahin noch der ökumenischen Missionsbewegung verbunden gefühlt hatten, war eine Konsequenz der Folgezeit. Aber auch in einer breiteren, westeuropäischen Öffentlichkeit wurde Bangkok als eine Zäsur wahrgenommen, über die fast sämtliche überregionalen Zeitungen ausführlich berichteten. „Das kopfnickende Negerlein ist tot“ lautete etwa die Überschrift im Schweizer Tagblatt und die Zeit titelte paradigmatisch am 20. April 1973: „Das Heil der Heiden – am Ende abendländisch-christlicher Vorherrschaft“.

Nachdenklich kehrten die europäischen Protestanten, die in Bangkok dabei gewesen waren, nach der Konferenz in ihre Heimatorte zurück. Ihr Unbehagen am Verlauf der Konferenz, Gefühle von Schuld und Verantwortung und am besten schweigend zu ertragende Ohnmacht gegenüber den der „Dritten Welt“ zugefügten Verletzungen, kennzeichneten die im Anschluss erfolgten Reflexionen in Kirchenausschüssen, Kommissionen, kirchlichen Zeitschriften und Gemeindeblättern. Die Frage, auf welche spirituellen, kulturellen und politischen Wurzeln sich der europäische Protestantismus nun noch berufen könne und worin seine Mission bestünde, stand offen im Raum.

In der historischen Rückschau lässt sich als eine langfristige Antwort auf diese Orientierungskrise ein allmählich erwachendes Interesse am eigenen Kontinent ausmachen. Dabei fiel es den national sehr heterogenen evangelischen Kirchen in Westeuropa naturgemäß sehr viel schwerer als der Katholischen Kirche, eine gemeinsame internationale Richtung einzuschlagen. Dies galt insbesondere für den gesamtdeutschen Protestantismus. Denn auch hier markierte die Weltmissionskonferenz eine Zäsur. Für die Konferenzteilnehmer aus der DDR lautete nämlich eine zugespitzte Erkenntnis von Bangkok: „Das Heil kommt nicht vom Westen“[6]. Die damit vorgenommene politische und moralische Abgrenzung zwischen West- und Osteuropa führte nicht zuletzt dazu, dass der westdeutsche Protestantismus ganz allmählich seinen Horizont stärker in Richtung Westeuropa öffnete. So langsam dies auch geschah – das in Bangkok ausgerufene Ende der westlichen Weltmission bedeutete damit zugleich den Beginn eines neuen evangelischen Europaengagements in kirchlicher wie auch politischer Hinsicht.



[1] Essay zur Qulle: Gairdner, William H.T., “Edinburgh 1910”. An Account and Interpretation of the World Missionary Conference, Edinburgh and London 1910, Frontispiz.

[2] Hopkins, C. Howard, John R. Mott 1865-1955: A Biography, Genf 1979, S. 342.

[3] Vgl. Tenor im Artikel in der Zeit vom 25. August 1972.

[4] Jagessar, Michael N., Full Life for All. The work and theology of Philip A. Potter: A Historical Survey and Systematic Analysis of Major Themes, Zoetermeer 1997, S. 71.

[5] Exemplarisch Beyerhaus, Peter, Bangkok ´73. Anfang oder Ende der Weltmission? Ein gruppendynamisches Experiment, Bad Liebenzell 1973.

[6] Vgl. Artikel von Elisabeth Adler in der Neuen Zeit vom 8. Februar 1973.

Literaturhinweise
  • Gairdner, William H.T., “Edinburgh 1910”. An Account and Interpretation of the World Missionary Conference, Edinburgh and London 1910.
  • Potter, Philip A. (Hg.), Das Heil der Welt heute. Ende oder Beginn der Weltmission? Dokumente der Weltmissionskonferenz Bangkok 1973, Stuttgart 1973.
  • Yates, Timothy, Christian Mission in the Twentieth Century, Cambridge 1994.

Zugehörige Quelle:

William H.T. Gairdner, Frontispiz von „Edinburgh 1910. An Account and Interpretation of the World Missionary Conference ”; [Abbildung] [1]

[Früherer Titel der Quelle: “Edinburgh 1910”, Frontispiz]


[1] Gairdner, William H.T., “Edinburgh 1910”. An Account and Interpretation of the World Missionary Conference, published for the Committee of the World Missionary Conference by Oliphant, Anderson & Ferrier, Edinburgh and London 1910, Frontispiz.

Für das Themenportal verfasst von

Katharina Kunter

( 2009 )
Zitation
Katharina Kunter, 1972/3: Ende der Weltmission Der europäische Protestantismus kehrt nach Hause zurück, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2009, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1480>.
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