„Europäisierung“ im spätosmanischen Südosteuropa im 19. Jahrhundert. Von einer romantischen Idee zu rücksichtsloser Realpolitik[1]
Von Hannes Grandits
[Überarbeitete Version des Artikels: 2021]
Imaginierung und konkrete gesellschaftliche Erfahrung lassen sich nicht wirklich eindeutig voneinander trennen. Auf den so genannten „europäischen Orient“ bezogen gilt dies ganz besonders. Ohne hier schon eingangs tiefer in theoretische Reflexion einzusteigen[2], möchte ich mich diesbezüglich gleich der ersten historischen Quelle zuwenden, an die dieser Essay anknüpft. Es ist dies eine genremäßig im frühen 19. Jahrhundert mit ihrem exotisierenden Grundton recht typische zeitgenössische „westliche“ Beschreibung des „Orients in Europa“. Sie stammt von einem jungen englischen Gentleman namens Alexander William Kinglake. Seine Grand Tour führte ihn 1834 auch ins damals noch osmanische Belgrad und von dort weiter in die osmanische Hauptstadt Istanbul und noch in verschiedene Provinzen des Reichs im Nahen Osten. In dem zitierten Ausschnitt, der aus dem 1844 erschienen Buch mit dem Titel „Eothen“ stammt, beschreibt Alexander Kinglake seine Ankunft vor den Toren der Stadt Belgrad und die ersten Menschen, die er dort nach der Flussübersetzung und Landung am Belgrader Ufer der Save antraf.
Wie Kinglake dort schreibt, waren dies Männer, die „echte, wahrhaftige, unwiderlegliche Turbane“ trugen und zur Bootsanlagestelle kamen, um ihm und seinen Begleitern das Gepäck hinauf in die Stadt zu tragen. Wie man den Zeilen der zitierten Quelle entnehmen kann, war Alexander Kinglake trotz seines herablassenden Erzählstils sehr beeindruckt von diesen Männern „asiatischen Bluts“.[3] Blickt man genauer, dürfte er in seiner Aufregung aber einiges durcheinander gebracht haben – auch in der Klassifizierung dieser „ultra-Türkisch“ aussehenden Kerle. Landete man nämlich in den 1830er Jahren auf der Belgrader Seite des Save-Flusses, so betrat man die Stadt, wie dies Kinglake tat, über die Sava-Kapija oder die Varoš-Kapija – also auf jeden Fall über die orthodoxen Viertel. Hier waren es dann auch serbische Lastenträger, die die Landung der Boote betreuten. Die muslimischen und jüdischen Mahallas lagen auf der anderen, entgegengesetzten Seite der Stadt. Auch der Verweis auf die Art der Barttracht der Männer macht es (nimmt man zudem ethnographische Merkmale als Indiz) als sehr wahrscheinlich, dass Kinglakes „ultra-Türkisch“ aussehenden Männer mit „asiatischem Blut“ überhaupt gar keine Türken oder Muslime, sondern wohl nur einfache serbische Hafen- oder Gelegenheitsarbeiter waren.
Gegenüber den „Serben“ herrschte in Europa – anders als gegenüber den „Türken“ oder „Muslimen“ – zu dieser Zeit eigentlich eine ausgesprochen positive Grundhaltung. Angesichts der damals beginnenden Staatlichkeit eines serbischen Fürstentums – noch innerhalb des osmanischen Staatsverbands – war eine serbophile Haltung in der westlichen intellektuellen Öffentlichkeit weit verbreitet.[4] So widmete beispielsweise auch Leopold Ranke, also selbst einer der Gründerväter der modernen Geschichtswissenschaft, eigenen Angaben gemäß fasziniert von der serbischen Sache, eben dieser sein 1829 publiziertes Buch über „Die Serbische Revolution“, wo es um den serbischen Aufstand gegen die osmanische Herrschaft ging.[5] Nicht nur in diesem Buch sondern ganz generell wurde damals die seit Jahrhunderten bestehende osmanische Staatlichkeit in Europa zunehmend als „Problem“ erachtet. Die Lesart des so genannten Griechischen Aufstands der 1820er Jahre hatte im westlichen intellektuellen und politischen Diskurs wohl eine schon davor bestehende polarisierende Betrachtungsweise endgültig verfestigt und spitzte von alters her gepflegte Alteritätsvorstellungen[6] – nun aber mit Bezug auf die „inneren Verhältnisse“ im Osmanischen Reich angewandt – aufs Neue zu. Aus der Sicht vieler europäischer Romantiker kämpften in diesem Griechischen Unabhängigkeitskrieg nämlich „Abkömmlinge des Perikles“ gegen „türkische Barbaren“, kämpften „alteingesessene Europäer“ gegen als fremd und „asiatisch“ abqualifizierte Fremde (es spielte in einer solchen Lesart keine Rolle, dass es in den vom Krieg betroffenen Regionen vielerorts ein jahrhundertelanges Zusammenleben der angesprochenen religiösen Gruppierungen gab, die in sich noch viel weiter differenziert waren). Diese Sichtweise brannte sich zu dieser Zeit ins westliche öffentliche Gedächtnis ein.[7] In gewisser Weise analog etablierte sich diese im Griechischen Aufstand entstandene Lesart damals auch für den angesprochenen serbischen Kontext.
Nun war es aber so, und das sollte das Beispiel Kinglakes zeigen, dass man als Fremder im Alltag vor Ort – zu dieser Zeit wohlgemerkt – auf den ersten Blick nicht immer ganz eindeutig unterscheiden konnte, wer denn nun wer war, wen man als Europäer sehen wollte und wen man als „fremd“ oder „asiatisch“ imaginierte. Aber die angesprochene polarisierende Imagination hatte dennoch große Wirkungsmacht. Sie prägte im Laufe des 19. Jahrhunderts immer stärker die Wahrnehmung der politischen Verhältnisse im osmanischen Südosteuropa. Immer stärker kam es zu einer Kontrastierung von „europäisch“ versus „nicht-europäisch“/„orientalisch“. Davon waren auch die tatsächlichen gesellschaftlichen Realitäten vor Ort tangiert. Politische Akteure, die ihr eigenes Handeln in einen „europäischen“ Rahmen einordneten und die von der osmanischen Reformbürokratie bis hin zu verschiedensten Nationalisten reichten, machten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts immer vehementer daran, althergebrachte Mechanismen sozialer Integration in Frage zu stellen. Ihr Ziel war es, dem Stigma einer oft real erfahrenen und in der Regel gerne als „orientalisch“ definierten Rückständigkeit zu entkommen – wenn es sein musste sogar mit Gewalt.[8]
Dieser Essay versucht, einen Eindruck von dieser „Verwestlichung“ bzw. Neuausrichtung in Richtung „Europäisierung“ zu geben. Dabei müssen diese Prozesse allerdings als sehr widersprüchliche gesellschaftliche Entwicklungen gesehen werden. In der folgenden Betrachtung sollen über drei Fokussierungen solche Widersprüchlichkeiten exemplarisch behandelt werden. Es wird dabei zuerst um die reformorientierte Gleichbehandlungspolitik innerhalb des Osmanischen Reiches der Tanzimatära gehen, sodann um die gleichzeitige Aufwertung des Konfessionellen als politischer Kategorie und schließlich um den Zusammenhang von Bildung und nationaler Ideologie.
Anlauf zu mehr Gleichheit der osmanischen Untertanen
Althergebrachtes Zugehörigkeitsdenken erachteten viele Bürokraten der Tanzimat (also jenes großen politischen Reformwerks, das im Osmanischen Reich über weite Strecken des 19. Jahrhunderts mit Eifer vorangetrieben wurde) immer wieder als ein Hindernis. Spätestens seit den 1820er, 1830er Jahren hatte sich bei den regierenden Eliten um den Sultan in Istanbul die Auffassung durchgesetzt, dass nur eine radikale Neudefinition des stark auf islamischen und traditionell erwachsenen Vorrechten basierende Herrschaftssystems das Reich vor dem Untergang würde retten können. Ob man wollte oder nicht, musste dies eine Umgestaltung nach europäischem Vorbild sein. Vom Sultan unterstützt wurde dieses Projekt mit großer Entschlossenheit angegangen. Unter Mahmud II. wurden ab Ende der 1820er Jahre im staatlichen Dienst der Turban und die traditionelle Kleidung per Dekret abgeschafft und durch den Fes und europäische Uniformen ersetzt. Die französische Sprache wurde zumindest bei den gehobenen Eliten im Staatsdienst zunehmend zur neuen Lingua franca. Weiteres könnte hier genannt werden. Ziel war es, und hier könnte man das Bild des mythologischen Tuba-Baums bemühen, der bekanntlich vom Himmel auf die Erde herunter wächst, von oben herab Schritt für Schritt eine Modernisierung und Europäisierung auch der osmanischen Gesellschaft voranzubringen. Diese Modernisierung sah – dem Trend der Zeit folgend – unter anderem auch eine zunehmende Gleichstellung der gesamten Bevölkerung im Staate vor.
Der nun als nächstes zitierte Quellentext veranschaulicht, dass man diese neue Vorstellung von Gleichheit – etwa in einer entlegenen und aus Istanbuler Sicht veränderungsunwilligen Provinz wie jener Bosniens – der Bevölkerung mitunter mit recht drastischen Mitteln klar zu machen versuchte. Der damals als Konsul für das Habsburgerreich in Sarajevo Dienst tuende Demeter Atanaskovic, der ohne Zweifel weit besser über innere Differenziertheiten innerhalb eines osmanischen städtischen Kontexts Bescheid wusste als der zuvor zitierte junge englische Reisende, beschreibt eine Maßnahme, die er 1851 in Sarajevo beobachtete. Hier hatte um die Jahrhundertmitte im Auftrag des Sultans der Offizier Omer Pasa Latas mit seiner Armee den Widerstand der einheimischen Agas und Beys gegen die Einführung von Tanzimatreformen gebrochen. Um den lokalen Eliten den neuen Zug der Zeit verständlich zu machen, ordnete Omer Pasa verschiedenste Maßnahmen an. Unter anderem im Juni 1851 auch die folgende, über die der vor Ort akkreditierte Konsul folgendermaßen berichtete:
„[So melde ich], dass die Herstellung einer fahrbaren Strasse zwischen hier [Sarajevo] und Travnik in Angriff genommen worden und mehrere hundert Menschen täglich daran arbeiten. Bis jetzt war wie üblich das Landvolk (Christen und Muhammedaner) dazu beordert. Gestern wurde infolge einer Anordnung des Omer Paša durch den öffentlichen Ausrufer verkündigt, dass auch die Bewohner dieser Stadt [Sarajevo], ohne Unterschied der Religion und des Standes, Christen, Muselmänner und Juden, Mufti so gut als der Bischof, der Beg, der Aga, der reichste Handelsmann und der ärmste Taglöhner, kurz jedes männliche Individuum im Alter von 10 bis 80 Jahren, mit alleiniger Ausnahme der Kranken und Krüppel, persönlich an jenem Straßenbau arbeiten müssen. Die Stellung eines Ersatzmannes ist nicht gestattet. Heute rückte in der Tat die Bevölkerung von 13 Stadtvierteln (deren es hier 122 gibt) mit Körben, Spaten und anderen Werkzeugen auf die Robot aus, welche so tourweise fortgehen wird. […] Diese unerwartete und ungewöhnliche Verfügung hat allgemeine Unzufriedenheit erregt. Man begreift ihre Veranlassung nicht und meint, dass Omer Paša mit der Ausdehnung des Gleichheitssystems zu weit gehe.“[9]
Die Nichtrespektierung bisher fest verankerter Stadt-Land sowie „ständischer“ und islamisch-konfessioneller Vorrechte rief, wie hier beschrieben, vor Ort massive Unzufriedenheit und Unverständnis hervor. Viele meinten, dass Omer Pasa „mit der Ausdehnung des Gleichheitssystems zu weit gehe“. Mit der Zeit schwenkten die Behörden dann auch wieder auf einen pragmatischeren Umgang gegenüber bestehenden Differenzierungsansprüchen zurück. Dennoch: das Streben, zumindest prinzipiell für alle Untertanen des Sultans eine gewisse Gleichheit vor dem Gesetz erreichen zu wollen, blieb. Und speziell nach der Verkündung des Hatt-i Hümayun, des berühmten Reformedikts, das unter Sultan Abdulmecid nach dem Ende des Krimkriegs als Vorbedingung des Pariser Friedens 1856 proklamiert wurde und unter anderem die prinzipielle Gleichstellung von Nichtmuslimen mit Muslimen vor dem Gesetz noch einmal dezidiert betonte, kam hier auch im Alltag einiges voran.
Tendenzen einer gleichzeitigen Re-Konfessionalisierung
Trotz der prinzipiell wohlmeinenden Absichten des von oben gelenkten Emanzipierungsprojekts sollte es einige heftige Rückschläge auf dem Weg zu mehr Gleichheit geben. Strukturell spielten dabei eine fast endemische Finanzschwäche des spätosmanischen Staates, seine damit einhergehende mangelnde „infrastrukturelle“ Gestaltungskapazität sowie ein nach innen beharrlich aufrecht erhaltener Steuerdruck (insbesondere auf die ländliche Bevölkerung) eine große Rolle. Vor diesem Hintergrund ließen dann soziale Konflikte und die – von „revolutionären“ Gruppen auch strategisch geplante – Eskalation von Gewalt, den Prozess einer innergesellschaftlichen Emanzipation vielerorts ins Stocken geraten. Gerade die Eskalation von Gewalt und ihre Deutung führten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Art Re-Konfessionalisierung, die die neue Gleichstellungspolitik „von oben“ konterkarierte. Ein Beispiel soll helfen, diesen Gedanken zu veranschaulichen.
Bleiben wir dabei noch im bosnischen Vilayet und wenden wir uns seiner südlichen Grenze zu, die zwischen den Regionen Herzegowina und Montenegro verlief. Einige Jahre nach den oben beschriebenen Ereignissen in Sarajevo kam es in diesem herzegowinisch-montenegrinischen Grenzraum in Folge einer Entwaffnungsaktion in der Bevölkerung durch die osmanischen Behörden zu Aufruhr. In dem heiklen Grenzgebiet, wo Konflikte von lokalen herzegowinischen Beys mit montenegrinischen Freischärlern von den Bergen Tradition hatten, entstand hier ein gewaltsamer Konflikt. Geführt von den orthodoxen Bischöfen von Cetinje (und unterstützt durch russische Interessenspolitik) hatte die orthodoxe Bevölkerung mehrerer montenegrinischer Gebirgsregionen in den Jahrzehnten zuvor weit reichende Eigenständigkeit innerhalb des osmanischen Herrschaftssystems gewonnen. Nun aber entsandten die osmanischen Behörden Militär, um einer zunehmend anarchischen Situation, wo marodierende Banden durch die Dörfer der ostherzegowinischen Grenzgegend zogen, Herr zu werden. Es kam zu einem Kleinkrieg an der Grenze und schließlich mehreren osmanischen Feldzügen gegen Montenegro. Bei einem dieser Feldzüge schlitterte im Frühjahr 1858 ein osmanisches Kommando in eine Falle. Ein großer Teil der osmanischen Soldaten wurde von montenegrinischen Milizen hingemetzelt. Vielen toten aber auch lebenden osmanischen Soldaten wie auch Angehörigen der sie begleitenden muslimischen Freiwilligen wurde von den montenegrinischen Kämpfern als Trophäe die obere Gesichtshaut einschließlich der Nase abgeschnitten. Der vor Ort in einer Sondermission anwesende osmanische Beamte Murad Efendi[10] war von dieser Praxis schockiert. Noch mehr verärgert war er, wie er später in einem Buch niederschrieb (dem die Auszüge des zweiten Quellenbeispiels entstammen, das diesen Beitrag umrahmt), von der gleichzeitigen Berichterstattung und Deutung eben dieser Schlacht in der europäischen Presse. Murad Efendi empörte es zum einen, dass man den Konflikt im herzegowinisch-montenegrinischen Raum ganz einfach auf einen Feldzug des Islam gegen das Christentum reduzierte, und zum anderen, dass man auch bewusst die angesprochenen Gräueltaten der Skalpierung osmanischer Soldaten durch die montenegrinischen Kämpfer publizistisch in der europäischen Presse völlig gegenteilig kolportierte. Hierzu schreibt er, um nochmals die zentrale Aussage seiner Beschreibungen zu betonen, folgendes:
„Mir selber sind Opfer dieser kannibalischen Grausamkeit vor Augen gekommen – schreckliche Zeichen für die Bestialität, die dem Ebenbilde Gottes innewohnen kann, betrübende Beweise, wie Heuchelei und Phrase unerschüttert in der Welt herrschen. Man beansprucht für diese Stämme das Interesse Europas im Namen des Christentums und der Kultur! [...] Das schlimmste hierbei ist die Lüge, mit welcher man diese Bestrebungen bemäntelt und die öffentliche Meinung Europas irre zu führen sucht, indem man den Kampf als einen Widerstand des Christentums gegen den Islam, als einen Feldzug der Kultur gegen die Barbarei darstellt.“[11]
In mehreren Regionen des spätosmanischen Südosteuropa (und zu diesen gehörte eben auch der hier thematisierte bosnische Vilayet) kam es in Folge gewaltbedingter Destabilisierungen immer wieder zu sozialen Dynamiken, die innergesellschaftliche Abgrenzungen immens aufwerteten –und dabei insbesondere die konfessionellen. Die „europäische Meinung“, von der im Zitat die Rede ist, blieb nicht ohne Einfluss. Die Neigung der Großmächte jeglichen Konflikt im osmanischen Südosteuropa letztlich auf einen Konflikt von „Christentum“ und „Islam“ zu reduzieren, förderte sogar vor Ort genau eine solche Interpretation. All dies führte dazu, dass auch die erwähnte gesellschaftliche Gleichstellungspolitik der osmanischen Tanzimatzeit zutiefst in konfessionellen Dynamiken verstrickt blieb.
Ein genauer Blick in die von Konflikten betroffenen lokalen Gegebenheiten, zeigt jedoch, inwieweit sich dort noch viel mehr abspielte und in welchem Umfang alles noch vielschichtiger war. Stets waren unterschiedliche Gruppeninteressen involviert: etwa jene muslimischer Notabeln und Großgrundbesitzer, städtischer Handwerker und Händler, der lokalen und regionalen Ulema oder des orthodoxen und katholischen Klerus, oder auch jene osmanischer Bürokraten und Militärs, vor Ort stationierter Konsuln der Großmächte, muslimischer und christlicher Dorfbevölkerungen, nomadischer Viehzüchter wenn nicht sogar in Illegalität lebender Outlaws usw. und so fort. Angehörige der genannten Gruppen agierten aus der reellen Furcht, Opfer der Verhältnisse zu werden, versuchten drohende ökonomische, soziale oder politische Verluste abzuwenden oder im Gegenteil aus der Situation Vorteile zu ziehen. Dabei vollzogen sich recht komplexe soziale Dynamiken und Zweckbündnisse. Darin war auch viel Gegenläufiges, das sich bei genauerer Betrachtung so überhaupt nicht in das von außen übergestülpte Bild des konfessionellen Konflikts fügt.[12] Es wird in der zukünftigen Forschung nötig sein, noch viel systematischer eben auch auf diese anderen, jenseits der „konfessionellen Dimensionen“ bestehenden Interessen der involvierten Menschen und Gruppen zu blicken (auch bei Untersuchungen über die im Laufe des 19. Jahrhunderts entstandenen post-osmanischen Staaten wie Griechenland, Serbien oder Bulgarien, wo eine Konfessionalisierung von führenden Eliten oft dezidiert propagiert wurde). Nur so lässt sich etwa auch verstehen, wie die gleichzeitig mit den angesprochenen Konfessionalisierungstendenzen angelaufene „Europäisierung“ der spät- oder postosmanischen Verhältnisse subjektiv von den Menschen in ihrer Lebenswelt erfahren wurde.
Europäische Bildung als nationale Mobilisierung
Verbleiben wir bei dieser Erfahrung von „Europäisierung“. Das im folgenden etwas näher betrachtete Beispiel der Stadt Monastir (das heutige Bitola) im gleichnamigen westmakedonischen Vilayet soll einen Eindruck davon vermitteln, unter welchen Vorzeichen sich eine solche komplexe Gemengelage in einem spätosmanischen Kontext gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickeln konnte. Der Bereich, der dies besonders gut veranschaulicht, ist das Schulwesen, in dem „europäische“ Unterrichtsformen und -inhalte sicherlich ganz besonders als „Orientierung am Westen“ greifbar sind.[13]
Man ist rückblickend erstaunt, welch entwickelte Schulinfrastruktur es an der Wende vom 19. auf das 20. Jahrhundert in dieser multikonfessionellen und mehrsprachigen osmanischen Kleinstadt von damals etwa 45.000 Einwohnern gab. Sehr detailliert hat dies der französische Kollege Bernard Lory rekonstruiert.[14] So gab es in der Stadt neben den traditionellen islamischen Schulen der Grund- und Sekundärstufe, den Mektebs und Medresen, auch ein angesehenes weiterführendes staatliches Schulwesen. Die Rüsdiye und insbesondere die so genannte Idadiye von Monastir, ersteres eine Mittelschule und das zweitgenannte eine daran anschließende dreijährige weiterführende höhere Lehranstalt, genossen damals hohes Ansehen. Stolz ist man heute noch, dass Mustafa Kemal Atatürk einst Absolvent der Idadiye von Monastir gewesen ist. Aber das war bei weitem nicht alles. In der Stadt gab es um die Jahrhundertwende neben dem traditionellen muslimischen Bildungsinstitutionen und diesen vom osmanischen Staat getragenen Schulen auch noch eine für die damalige Zeit unglaubliche Anzahl weiterer nicht-staatlicher, kommunaler und privater Schulen. Das waren elf griechische, dreizehn bulgarische, drei jüdische, sowie je eine aromunisch-rumänische, eine serbische und eine protestantische Schule. Später kam auch noch eine albanische Schule dazu. In all den hier genannten Schulen war der Schulbesuch vielfach frei, ja es herrschte sogar ein regelrechter Kampf um Schüler bzw. um ihre Eltern. Die Finanzierung all dieser „privaten“ Schulen wurde zu einem Großteil aus dem Ausland, etwa aus Griechenland, Bulgarien, Serbien oder Rumänien getragen.
Man könnte hier noch weiter in Details gehen. Aber allein die außerordentlich große Anzahl von verschiedenen Schulen, in einer Stadt von kaum 50.000 Einwohnern lässt erahnen, worum es ging: die Bevölkerung sollte sich „national“ zuordnen – und dabei hatte nun auf einmal Sprache und „Ethnizität“ eine noch größere Bedeutung als Religion. Für viele Bewohner der Stadt war das nicht ganz so einfach, denn Mehrsprachigkeit war auf der Çarsi, dem Geschäftsviertel (dem über Jahrhundert einst traditionell entscheidenden Ausbildungsort fürs beruflichen Leben), die Regel gewesen. Und so war es keine unübliche Praxis, dass gar nicht so wenige Schüler selbst in der hier skizzierten Zeit des sich nationalisierenden Schulwesens über die Jahre hinweg sowohl eine Schule der einen als auch eine der anderen „Ausrichtung“ besuchten. Um die orthodoxen Schüler der Stadt warben, um ein Beispiel zu nennen, sowohl griechische, bulgarische, serbische oder rumänische Schulen. Und diesem Werben gaben so manche nach, auch um sich durch den Besuch von unterschiedlichen Schulen (mit unterschiedlichen Unterrichtssprachen) mehrere Optionen für die Zukunft offen zu halten.
Gleichzeitig gab es allerdings auch eine sich radikalisierende Szene von Schülern, die eine Schulkarriere durchlaufen hatten, wo Vermittlung von Wissen eher untergeordnete Bedeutung im Vergleich zur Stärkung eines „nationalen“ bzw. „revolutionären“ Bewusstseins hatte. Das nun zitierte Beispiel einer Tagebuchnotiz eines damaligen Schülers vermittelt einen Eindruck davon. Es handelt sich hier um einen Jugendlichen, der sich mit ganzer jugendlicher Leidenschaft der revolutionären so genannten Inneren Makedonischen Befreiungsfront anschließen wollte. Er schreibt darüber und über seine Schule und Lehrer u.a. folgendes:
“Wir sind mit unseren Lehrern immer in Kontakt. Wir sind ihre Kameraden. Wir besuchen sie sonntags, rufen sie bei den Vornamen, rauchen mit ihnen und füllen sogar unsere Tabaksbeutel mit ihrem Tabak. Wir sind stolz, so immens stolz, dass sie uns als Erwachsene behandeln, als Revolutionäre, als Waffenbrüder. […] Wir wissen, dass ein Revolutionär so etwas wie ein Asket sein muss, der jeden Komfort, jedes persönliche Glück von sich weist. Als solcher, wird keiner von uns jemals heiraten und eine Familie gründen. Keiner von uns wird Mazedonien je verlassen, keiner je seine Ausbildung außerhalb des Landes fortführen. Jeder der heiratet, der Mazedonien verlässt oder sich an einer Universität einschreibt, wird als Feigling, als Verräter betrachtet. Mazedonien kann nicht warten; braucht solche nicht, die ein Universitätsdiplom als wichtiger als die Freiheit erachten oder die es für eine Liebe betrügen. In unserem Lehrer Dame Gruev sehen wir das Modell des Selbstverzichts, sehen in ihm den Hohepriester Mazedoniens, die Inkarnation eines revolutionären Asketen.“ [15]
Liest man diese Zeilen, so liegt die Vermutung nahe, dass gerade das damalige Schulwesen in der Stadt mit seiner rhetorischen Hinwendung zur „Europäisierung“ von Kultur, genau jene Akteure produzierte, die später intensiv daran arbeiteten, die bestehende, komplexe städtische Kultur Monastirs in der spätosmanischen Reformepoche zu unterhöhlen und zu zerstören. Und in vielerlei Hinsicht passierte das dann auch in diesem lokalen Kontext auf gewaltsame Weise während der tragischen Balkankriege von 1912/13.
Ausblick
„Europäisierung“ war und blieb bei alledem unstrittig das Leitbild – anfangs vor allem als Imagination und diskursive Praxis, später zunehmend auch als zentrales Argument für eine neu zu schaffende, als zeitgemäß erachtete politische Realität. Resümierend gilt es festzuhalten, dass zwischen den 1830er Jahren und der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gesellschaftliche Zugehörigkeiten in weiten Teilen Südosteuropas in vielerlei Hinsicht neu ausgerichtet wurden. Es hatte dabei zunächst „von oben“ einen Anlauf zu mehr Gleichheit für eine bis dahin konfessionell wie „ständisch“ recht unterschiedlich gestellte Bevölkerung gegeben. Dann aber kam es in Folge zunehmender gewaltsamer Konflikte auch zu einer Re-Konfessionalisierung des gesellschaftlichen Alltags. Letztlich gewannen später über die Mobilisierung von Ethnizitäts- und Sprachzugehörigkeiten darüber hinaus vor allem nationale Grenzziehungen schicksalhafte Bedeutung.
Parallel dazu verschärfte sich die westliche Haltung zum so genannten „Orient in Europa“. Mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wurde ein solcher „Orient“ letztlich von der europäischen Großmächtepolitik, die sich damals immer vehementer einem globalen Imperialismus verschrieb, symbolisch wie reell als nicht weiter erwünscht deklariert. Die post-osmanischen Nationalstaaten Südosteuropas machten sich nach ihrer klar durch die Großmächte ermöglichten Formierung dann auch an seine symbolische Eliminierung. Eine systematische Entorientalisierungspolitik betraf alle möglichen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens: in der neuen urbanen Architektur wurde vielerorts der Boulevard über den ehemaligen Basar gebaut[16], in der offiziellen Geschichtsschreibung wurde die osmanische Vergangenheit verteufelt, bald ganz ausgeblendet, Sprachen wurden von „orientalen“ Ausdrücken gereinigt. Reell begleitet wurde all dies mit der zunehmenden sozialen Ausschließung, partiellen Vertreibung und vielfach auch physischen Eliminierung der als „nicht-europäisch“ definierten muslimischen Bevölkerung – letzteres insbesondere in den Kriegen von 1877/8, den Balkankriegen von 1912/13 und im 1. Weltkrieg. Überdies wurden erschütternd viele Angehörige anderer Gruppierungen, die je nach Kontext nicht in den jeweils angestrebten nationalstaatlichen Entwurf passten, in Kriegszeiten ebenso Opfer von massiver Gewalt und Vertreibung, die vielerorts von den gegen den staatlichen Kollaps rekrutierten osmanischen Armeen und Milizen ausging. „Europäisierung“ und „Entorientalisierung“ gingen auch hier oft eine unheilvolle Allianz ein, deren wechselvolle Geschichte indes noch ausführlicher zu schreiben wäre.
[1] Essay zur Quelle: Berichte aus Südosteuropa; Alexander W. Kinglake, Eothen: Traces of Travel Brought Home from the East (1844) / Murad Efendi, Türkische Skizzen. Erster Band. Türkische
Fahrten (1877); [Auszüge].
[2] Was eine Imaginierung des Balkans im 19. Jahrhundert betrifft, hat die Arbeit von Maria Todorova nach 1997 eine recht fruchtbringende Theoriedebatte angestoßen. Vgl. Todorova, Maria, Imagining the Balkans, New York 1997.
[3] Kinglake, Alexander William: Eothen: Traces of Travel Brought Home from the East., New York 2005 (Originalausgabe London 1884), S. 1-4 (= Quelle 1).
[4] Vgl. Sundhaussen, Holm, Geschichte Serbiens. 19.-21. Jahrhundert, Wien 2008, S. 70-71.
[5] Ranke, Leopold, Die serbische Revolution. Aus serbischen Papieren und Mittheilungen, Hamburg 1829.
[6] Vgl. hierzu etwa den Essay von Pohlig, Matthias: Orientalismus in Fässern. Europa und die Türken um 1700, in: Themenportal Europäische Geschichte (2009),.
[7] Vgl. hierzu etwa Deringil, Selim, The Turks and „Europe“: The Argument from History, in: Middle Eastern Studies. 43/5 (2007), S. 709-723.; Kitromiledes, Paschalis M., Imagined Communities and the Origins of the National Question in the Balkans, in: Ders. (Hg.), Enlightment, Nationalism, Orthodoxy. Studies in the Culture and Political Thought of South-eastern Europe (Variorum Collected Studies Series 453), Aldershot 1994, S. 149-192.
[8] Vgl. hier analog die von Jörg Baberowski bezogen auf das Zarenreich formulierten Ideen über Modernisierungsansprüche und die Anwendung von Gewalt. Vgl. Baberowksi, Jörg, Diktaturen der Eindeutigkeit. Ambivalenz und Gewalt im Zarenreich und in der frühen Sowjetunion, in: Ders. (Hg.), Moderne Zeiten? Krieg, Revolution und Gewalt im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 37-59.
[9] Gavranovic, Berislav, Grada Bosna i Hercegovina od 1853.-1870. godine (Naucno društvo NR BiH. Grada. Knjiga VIII. Odjeljenje istorisko-filoloških nauka knjiga 2), Sarajevo 1956, S. 326-327. [Übersetzung H.G.]
[10] 1858 kam Murad-efendi als persönlicher Sekretär des Leiters einer offiziellen Sonderkommission der Hohen Pforte Kemal-efendi zur Untersuchung von Aufständen im herzegowinisch-montenegrinischen Grenzraum in den herzegowinischen Sandschak. Vgl. zur Person Murad-efendis, dessen ursprünglicher Name Franz von Werner war und der, als er in den osmanischen Staatsdienst aufgenommen wurde, auch zum Islam übertrat, etwa Šehic, Zijad, Prilog prošlosti Hercegovine XIX stoljeca – sjecanja Murad-Efendije iz Hercegovine, in: Hercegovina. Casopis za kulturno i historijsko naslijede. Br. 11-12. [Mostar], S. 105-122 oder Šaric, Salko, Austrijski književnik i diplomat u službi otomanskog carstva Murad Efendi u Mostaru 1858. godine, in: Most. God. XXV. Br. 110-111. [Mostar] 1999, S. 85-87.
[11] Murad Efendi, Türkische Skizzen. Erster Band. Türkische Fahrten, Leipzig 1877, S. 155 (= Quelle 2).
[12] Vgl. hier ausführlicher am Beispiel einer spätosmanischen Region Südosteuropas Grandits, Hannes, Herrschaft und Loyalität in der spätosmanischen Gesellschaft. Das Beispiel der multikonfessionellen Herzegowina, Wien 2008.
[13] Die in den Schulen gelehrten Fächer oder die Form der Curricula machen bewusst, welcher Sprung ins Neue damals vielerorts angegangen wurde. Wie Studien zeigen, blieb das Bildungswesen im Osmanischen Reich in der Alltagsrealität aber recht komplex – zudem aber auch verwoben mit gewachsenen Vorstellungen von sozialer, religiöser oder ständischer Differenzierung. Siehe in diesem Zusammenhang etwa ausführlicher: Fortna, Benjamin, Imperial Classroom. Islam, the state, and education in the late Ottoman Empire, Oxford 2002.
[14] Lory, Bernard, Schools for the destruction of society: school propaganda in Bitola 1860-1912, in: Clayer, Nathalie; Grandits, Hannes; Pichler, Robert (Hgg.): Conflicting Loyalties in the Balkans. The Great Powers, the Ottoman Empire and Nation-Building, London (im Erscheinen).
[15] Siljanov, Hristo, Pisma i izpovedi na edin cetnik, Sofia 1984 (Erstauflage 1927), S. 24-26. [Übersetzung H.G.]
[16] Wie zum Beispiel in dem eingangs betrachteten Beispiel von Belgrad. Vgl. hierzu die Arbeit Miškovic, Nataša, Basare und Boulevards. Belgrad im 19. Jahrhundert, Wien 2008.
Literaturhinweise:
Adanir, Fikret; Faroqui, Suraya (Hgg.), The Ottomans and the Balkans: a discussion of historiography, Leiden 2002.
Clayer, Nathalie; Grandits, Hannes; Pichler, Robert (Hgg.), Conflicting Loyalties in the Balkans. The Great Powers, the Ottoman Empire and Nation-Building, London 2010.
Grandits, Hannes, Herrschaft und Loyalität in der spätosmanischen Gesellschaft. Das Beispiel der multikonfessionellen Herzegowina, Wien 2008.
Kitromilides, Paschalis M., Enlightenment, Nationalism, Orthodoxy. Studies in the culture and political thought of south-eastern Europe, (Variourum Collected Studies Series; CS 453) Aldershot 1994.