„Frieden, Wohlstand und Menschenrechte rund ums Mittelmeer“ – Die Erklärung von Barcelona (1995)[1]
Von Johan Grußendorf und Friedhelm Hoffmann
Am 27. und 28. November 1995 verhandelten und unterzeichneten die Teilnehmer der Euro-Mediterranen Ministerkonferenz in der katalanischen Metropole die „Erklärung von Barcelona“[2]. Sie begründete die so genannte „Europa-Mittelmeer-Partnerschaft“, auch Euro-Mediterrane Partnerschaft (EMP) genannt. Mit der Erklärung unternahmen die EU-Europäer und ihre südlichen und südöstlichen Nachbarn einen Neuanlauf zur Intensivierung der Kooperation. Sie sollte das Verhältnis der Staatengemeinschaft zu den Ländern jenseits des Mittelmeers in neue und stabile, gleichberechtigte und „partnerschaftliche“ Bahnen lenken. Barcelona sollte der Fanfarenstoß zu einer neuen, postkolonialen Epoche werden – so jedenfalls die Hoffnungen ihrer Unterzeichner.
Vorgeschichte. Rivalitäten und Ungleichgewichte
Die Europäische Union (EU) formulierte ihre Mittelmeerinitiative unter dem Einfluss der nationalstaatlichen Erfahrungen und außenpolitischen Traditionen ihrer Mitglieder. Besonders in Frankreich hatte die politische Verknüpfung des Mittelmeerraumes mit nationaler und europäischer Ebene eine lange Tradition. Nach der langen Kolonialgeschichte spielten die Maghrebstaaten und deren Verhältnis zu Europa in den französischen Mittelmeerstrategien eine zentrale Rolle. Schon zu Beginn seiner ersten Amtszeit hatte der französische Staatspräsident François Mitterand (Amtszeiten: 1981-88; 1988-95) eine privilegierte Verbindung zwischen dem Maghreb und den romanischen Ländern der EWG vorgeschlagen. Wie der Tagungsort Barcelona zeigte, war auch Spanien, für das die geographische Nähe zu Marokko von zentraler Bedeutung war, nicht untätig. Der 1995 amtierende spanische Ministerpräsident Felipe González verstand sich als überzeugter Europäer. Während seiner Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte verblüffte er denn auch die französische Diplomatie – Paris hatte den Europäischen Rat die ersten sechs Monate geleitet – mit einem Gipfel zu den Beziehungen zwischen EU und Lateinamerika sowie mit der Konferenz von Barcelona, womit er der im Vertrag von Maastricht (1992) beschlossenen Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) wichtige Impulse geben wollte. Die spanische Initiative kam nicht aus heiterem Himmel. Bereits in den 1980er Jahren hatte sich die Europäische Gemeinschaft (EG) den Mittelmeerstaaten angenähert. Nach der Zäsur des Falls der Berliner Mauer und des Endes des Warschauer Paktes nun sollten diese Ansätze in eine koordinierte Mittelmeerpolitik münden. Konzeptionell spielte für diejenigen Mitgliedsstaaten der EG, später EU, die im Mittelmeer traditionell eine wichtige Einflusszone sahen, das Ausbalancieren der geplanten Osterweiterung eine Rolle, wobei es auch Konkurrenzen innerhalb der südlichen Gemeinschaftsländer gab. Frankreich stand dabei als wichtigster Akteur oft der Kombination Spanien-Italien gegenüber. Für Deutschland hingegen öffnete sich über die Wahrnehmung der französischen Position ein besonderes Fenster. Vorübergehend bot sich die Chance, das Beziehungsgeflecht zwischen Deutschland, Frankreich, der EU und den Maghrebstaaten in einem neuen Licht zu betrachten.[3]
Die Erklärung von Barcelona griff zahlreiche Punkte des in den 1980er Jahren eingeschlafenen Euro-Arabischen Dialogs (EAD) wieder auf, ohne jedoch offiziell an ihn anzuknüpfen. Gleichwohl fanden sich in Barcelona viele der damaligen Teilnehmer an einem gemeinsamen Verhandlungstisch wieder. Die Kontinuität der Verhandlungspartner bei gleichzeitiger Diskontinuität des institutionellen Rahmens sollte als Muster auch die EMP überdauern. Aus dem Scheitern dieses Vorgängermodells und sonstiger Initiativen, wie der Neuen Mittelmeerpolitik der EG (ab 1990) oder der anvisierten Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittelmeerraum (KSZM), hatten die EU-Diplomaten stillschweigend Konsequenzen gezogen. Die Partnerschaft sollte nur noch die unmittelbaren Nachbarn der EU südlich und östlich des Mittelmeeres umfassen. Damit verbanden sie die Hoffnung, nicht alle Konflikte der arabischen Welt würden direkt auf sie übergreifen und so ihre Effektivität schmälern. Denn die Mitgliedstaaten der Arabischen Liga (AL) jenseits des Mittelmeers blieben außen vor, und damit Konfliktherde am Persischen Golf, im Sudan und am Horn von Afrika. Gerne hätte gerade die französische Diplomatie auch den Nahostkonflikt ausgespart und sich stattdessen ganz auf den Maghreb konzentriert. Das Gewicht Ägyptens innerhalb der arabischen Welt und dessen diplomatische Initiative in Form des Mittelmeerforums hatten es jedoch nicht zugelassen, dieses bevölkerungsreichste arabische Land am Mittelmeer zu übergehen. Am Ende fanden sich in Barcelona sämtliche Vertreter beider Seiten des Nahostkonfliktes in einer gemeinsamen diplomatischen Initiative vereint. Immerhin weckte zur gleichen Zeit das Abkommen von Oslo (1993) zwischen Israelis und Palästinensern die Hoffnung, die alten Streithähne würden sich endlich zu einer effektiven Kooperation zusammenraufen. Die Teilnahme Israels und der Palästinensischen Autonomiebehörde – an sich schon ein bedeutender diplomatischer Erfolg – stellte sowohl eine große Chance als auch ein schweres Risiko für die Zukunft dar.
Heute, beinahe fünfzehn Jahre nach der Konferenz von Barcelona, muss der interessierte Zeitzeuge schon gründlich suchen, will er wörtlich nachlesen, was damals als „neue Dimension“ im gegenseitigen euro-mediterranen Verhältnis großspurig angekündigt wurde. Nach langer Suche findet sich lediglich der englische Originaltext der „Barcelona Declaration“.[4] Für die anderen Arbeits- und Amtssprachen der EU wird nur noch ein Abriss geboten.[5] Bedenkt man, dass es sich um ein politisches Dokument handelt, das seinerzeit die Menschen rund um das Mittelmeer in eine neue Epoche begleiten sollte, stellt dies einen erstaunlichen Bedeutungsverlust dar. Hätten nicht im März 2008 die EU-Partnerländer Frankreichs ausdrücklich darauf bestanden, dass sich die neu geschaffene „Union für das Mittelmeer“ als Nachfolgeorganisation und nicht als Ersatz ihrer Vorläuferin versteht, fände Barcelona heute in EU-offiziellen Darstellungen wohl kaum noch Erwähnung. Wie dieses Dokument großer Hoffnungen so ganz und gar von der Bildfläche verschwinden konnte, ist erklärungsbedürftig. Widersprüchliche Erwartungen der Beteiligten dürften nicht unerheblich für das letztliche Scheitern der EMP gewesen sein. Divergierende Ansprüche fanden ihren Niederschlag in häufig dualen Formulierungen des Dokuments. Programmatische Ungereimtheiten wurden zu gegebenem Anlass aktuell und trugen somit die Saat des Scheiterns von Anbeginn der Unterzeichnung in sich. Großen Ankündigungen standen inkohärente Regelungen und Forderungen im Detail gegenüber, von denen einige im Folgenden exemplarisch aufgeführt werden.
Wie es zu dieser Unausgeglichenheit kommen konnte, erklärt sich aus den verschiedenen Strängen, die in der Erklärung von Barcelona zusammenkamen. Als Inspiration diente unter anderem die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die nach ihrem ersten Tagungsort auch „Helsinki-Prozess“ genannt wurde. Daran anlehnend firmierten die spanisch-italienischen Mittelmeerinitiativen zu Anfang der 1990er Jahre unter dem Akronym KSZM. Seit Mitte der 1970er Jahre hatte die KSZE für eine Annäherung zwischen östlichem und westlichem Bündnissystem gestanden. Diese positiven Konnotationen machten sich die Initiatoren der Konferenz von Barcelona geschickt zu Nutze. Kein Zufall also, dass gerade die Öffentlichkeitsarbeit begrifflich anknüpfte, indem sie neben der EMP alternierend vom „Barcelona-Prozess“ sprach. In der Struktur folgte Barcelona dem großen Vorbild. Die Präambel der Erklärung verwies analog zum Helsinki-Abkommen im Rahmen der KSZE auf drei Teilbereiche, von Kommentatoren auch drei „Körbe“ genannt, nämlich „einen verstärkten regelmäßigen politischen Dialog, den Ausbau der wirtschaftlichen und finanziellen Zusammenarbeit und eine stärkere Herausstellung der sozialen, kulturellen und menschlichen Dimension.“ Die Rechnung ging auf, der Barcelona-Konferenz und ihrem Schlusspapier war eine entsprechende Medienresonanz sicher. Die Chiffre Barcelona verdrängte die vorherigen Initiativen dauerhaft. Selbst in die neueste Nachfolgeorganisation konnte sie sich als Kopf eines Bandwurmtitels hinüberretten: „Barcelona-Prozess: Union für den Mittelmeerraum“[6].
Anders als EAD und KSZE litt die EMP jedoch an einer strukturellen Unausgewogenheit zwischen zwei sehr ungleichen Seiten. Bereits im Dualismus „euro-mediterran“ der offiziellen Bezeichnung steckte die Krux einer einseitigen Orientierung am EU-Interesse, die sich mit den von allen Beteiligten gemeinsam deklarierten Zielen kaum vereinbaren ließ. „Europa“ und das „Mittelmeer“ schienen sich als ebenbürtige Größen auf gleicher Augenhöhe zu begegnen. „Europa“ stand dabei für die EU und ihre Mitgliedstaaten, einer einheitlich strukturierten Staatengemeinschaft. Demgegenüber stand das „Mittelmeer“ als eine heterogene Gruppe von Staaten unterschiedlicher regionaler Zugehörigkeit. Das Europakonzept war so gefasst, dass es durch die ausschließliche Zugehörigkeit von EU-Mitgliedstaaten mit der politischen Handlungseinheit der EU zusammenfiel und dadurch Einheitlichkeit garantierte. Dieses Europa schloss sowohl sonstige europäische Mittelmeeranrainer als auch sonstige europäische Nichtmittelmeerländer aus. Hingegen korrespondierte das Mittelmeerkonzept mit keiner einheitlichen regionalen Staatenorganisation, sondern schnitt mitten durch Regionen und Subregionen hindurch. Es umfasste sowohl europäische Mittelmeerländer, die dadurch aus dem Abstimmungsverfahren europäischerseits externalisiert wurden, als auch nichteuropäische Mittelmeerländer, dazu den Sonderfall Türkei, deren EU-Tauglichkeit umstritten war. Die Gruppe der nichteuropäischen Mittelmeerländer wiederum setzte sich aus Israel und den mit ihm zerstrittenen oder gar verfeindeten arabischen Mittelmeeranrainern zusammen. Letztere wiederum bildeten nur in Form der Union des Arabischen Maghreb (UMA) eine lose zusammengefasste Staatengemeinschaft der nordwestafrikanischen Subregion, während sie im Blick auf ihre regionale Staatengemeinschaft, die AL, lediglich deren nördliche und westliche Hälfte repräsentierten. Mehr als die Hälfte der Mitgliedstaaten der AL fielen hingegen nicht unter die Kategorie eines ‚Mittelmeerstaates‘ und somit aus dem gemeinsamen Partnerschaftskonzept heraus. Damit stand von Anfang an der Handlungsfähigkeit der EU im Rahmen der GASP ein heterogenes Gemisch aus Staaten unterschiedlicher politischer und kultureller Orientierung gegenüber, deren Gemeinsamkeit – abgesehen von der geografischen Zugehörigkeit zum Mittelmeerbecken – sich weitgehend aus der geopolitischen Nähe zur EU ergab. Es ging also um das strategische Glacis der EU, nicht um die gleichberechtigte Teilnahme zweier Staatengemeinschaften und ihrer Mitgliedstaaten bzw. der Staaten zweier geografischer Regionen an einem gemeinsamen diplomatischen Projekt. Nur oberflächlich betrachtet folgte also die EMP dem dualen Ansatz des EAD, der es in der Tat unternommen hatte, die Mitgliedstaaten der beiden großen Staatengemeinschaften nördlich und südlich des Mittelmeeres in einem institutionalisierten Verhandlungsrahmen zusammenzuführen, jedoch an inneren und äußeren Spannungen zerbrochen war. Realiter war die EMP ein multilaterales diplomatisches Instrument zur Stabilisierung des geopolitischen Vorfeldes der EU.
Die strukturelle Unausgeglichenheit spiegelte sich auf der inhaltlichen Ebene wider. Die Erklärung von Barcelona präsentierte sich als ein gemeinsames Programm aller beteiligten Staaten. Inhaltlich überwogen jedoch die Wünsche der EU, wie die Menschenrechtsthematik, Rechtsstaatlichkeit und Migrationskontrolle. Wenn auch die diplomatische Form den Eindruck erwecken mochte, gemeinsam beschlossene Ziele sollten in die Tat umgesetzt werden, so ist es doch weitgehend eine europäische Reformagenda, der die ‚mediterranen‘ Staaten mangels realistischer Alternativen zustimmten. Formal freilich vereinte sie nicht nur die Interessen der EU, sondern auch die der Maghrebstaaten und der anderen Mittelmeeranrainer. Welche Schwierigkeiten resultierten aus dieser Konstellation? Schon in der Präambel wurden die divergierenden Interessen der Teilnehmerstaaten in Kompromissformeln zusammengefasst - ein Fakt, der bereits zeitgenössischen Beobachtern auffiel. Explizit wurde in Richtung der nicht beteiligten USA klargestellt, dass die EMP den Friedensprozess im Nahen Osten, und damit den amerikanischen Führungsanspruch, lediglich unterstützen, auf keinen Fall aber ersetzen wolle. An dieser Achillesferse wurde die EMP denn auch getroffen, als sich Ende des Jahrzehnts der Konflikt um das Heilige Land wieder verschärfte.
Widersprüchliche Bestimmungen und Zielkonflikte im DetailBeispielhaft seien drei Politikfelder herausgegriffen, welche die widersprüchliche duale Struktur des Dokumentes besonders gut verdeutlichen:
1.) Menschenrechte, Rechtsstaat, Demokratie und gesellschaftlicher Pluralismus,
2.) Rüstungskontrolle und Nichtweiterverbreitung nichtkonventioneller Waffen,
3.) Demografische Entwicklung, Arbeitsmarkt und Migration.
Die ersten beiden Politikfelder finden sich schwerpunktmäßig im ersten Korb, der so genannten „Politischen Partnerschaft und Sicherheitspartnerschaft“[7]. Das dritte Politikfeld gehört zum dritten Korb, der „Partnerschaft im sozialen, kulturellen und menschlichen Bereich“[8]. Die ausgewählten Politikfelder stellen dabei wichtige Bereiche der Kooperation dar, sind letztlich jedoch nur ein kleiner Ausschnitt aus der Fülle an Regelungen. Andere Felder, wie die geplante Freihandelszone im zweiten Korb, der „Wirtschafts- und Finanzpartnerschaft“[9], die nur ansatzweise zu einer wirtschaftlichen Öffnung und verstärkter Kooperation führte, oder die Förderung der Zivilgesellschaft im dritten Korb stehen ihnen an Bedeutung nicht nach und sind teilweise zum Gegenstand einer ganzen Forschungsrichtung geworden.
1.) Menschenrechte, Rechtsstaat, Demokratie und gesellschaftlicher PluralismusBereits in der Präambel zeigten sich die unterzeichneten Staaten davon überzeugt, dass es „erforderlich ist, für die Stärkung der Demokratie und die Wahrung der Menschenrechte“[10] Sorge zu tragen. In der Politischen Partnerschaft präzisierten sie das dahingehend, dass „die Menschenrechte und Grundfreiheiten zu achten und zu gewährleisten, daß diese Rechte und Freiheiten einschließlich des Rechts auf freie Meinungsäußerung, des Rechts, friedliche Vereinigungen zu bilden, und der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, ohne Diskriminierung aufgrund von Rasse, der Nationalität, der Sprache, der Religion oder des Geschlechts von jedem einzelnen sowie gemeinsam mit anderen Mitgliedern derselben Gruppe wirklich und in legitimer Weise wahrgenommen werden können“. Daneben sicherten sie zu, „in ihrem politischen System Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu entwickeln“, vereinbarten den Informationsaustausch über Menschenrechte, Grundfreiheiten, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, sprachen sich für „Vielfalt und den Pluralismus“ in ihren Gesellschaften aus und traten für „eine angemessene Ausbildung in Fragen der Menschenrechte und der Grundfreiheiten“ ein. In der Zusammenschau konnte der Eindruck eines allseits geteilten Menschenrechtsanliegens entstehen, dessen Verwirklichung durch die Regierungen vor allem gesellschaftliche Unzulänglichkeiten im Wege stünden. Ein gründlicherer Blick auf die Einzelbestimmungen musste jedoch Fragen aufwerfen. Bei diesen klassischen Menschenrechten der so genannten ersten Generation, also vorrangig zum Schutz gegen staatliche Willkür, schien es sich doch weitgehend um ein Anliegen der EU-Seite zu handeln. Zwar fanden sich die entsprechenden Grundrechtskataloge auch in den meisten Verfassungen der ‚mediterranen‘ arabischen Staaten und konnte insofern formal auf sie Bezug genommen werden. Dass jedoch autoritäre muslimische Regime wie Ägypten oder Syrien ernsthaft daran dachten, Religionsfreiheit zu gewähren oder das Recht, „friedliche Vereinigungen zu bilden“, also z.B. freie Gewerkschaften, durfte prinzipiell bezweifelt werden. Die präzisierende Formulierung, dass diese Freiheiten „von jedem einzelnen sowie gemeinsam mit anderen Mitgliedern derselben Gruppe wirklich und in legitimer Weise wahrgenommen werden können“, legt denn auch nahe, dass hier die europäische Seite ganz bewusst ‚wasserdichte‘ Formulierungen eingebaut hatte, um die eigenen Zweifel zu zerstreuen. Denn Rechtsstaat und Demokratie waren keine ernsthaften Ziele der Herrschenden in den arabischen Mittelmeerländern, wie jedem politischen Beobachter bewusst sein musste. Wenn sie sich auch deklamatorisch zu demokratischen Zielen bekennen mochten, wie seit Jahrzehnten demonstrativ der ägyptische Staatspräsident ?usni Mubarak (seit 1981), so beabsichtigten die arabischen Regierungen keineswegs, echte politische Partizipation zu gewähren. Demokratische Lippenbekenntnisse sollten das Ausland beeindrucken und nach innen als Legitimationsersatz dienen.
Es konnte daher nicht verwundern, dass sich diese Regime im Barcelona-Prozess hartnäckig gegen jede Form der Demokratieförderung und wirklichen Menschenrechtsschutz sträuben würden, und zwar dauerhaft und erfolgreich. Andererseits hatten diese so genannten ‚Mittelmeerdrittstaaten‘ auch ihre spezifischen Interessen in diesen Menschenrechtskatalog mit eingebracht. „Diskriminierung aufgrund von Rasse, der Nationalität, der Sprache, der Religion“ stellte ein Problem ihrer Emigrantengemeinden in Europa dar. Eine Handhabe gegen derlei Diskriminierungen konnte in Zukunft die Erklärung von Barcelona bieten. Während also die genannten Menschen- und Grundrechte deutlich den Charakter einer Wunschliste hatten, zu denen die eine oder andere Seite jeweils ihre eigenen Vorstellungen beisteuerte, zeichnete sich die Forderung nach gesellschaftlicher Vielfalt und Pluralismus durch ihre Vagheit, Dehnbarkeit und Interpretationsbedürftigkeit aus. Denn unter Pluralismus ließen sich natürlich genauso religiös gespaltene Rechtsordnungen mit ihrer Tendenz zur Diskriminierung der Minderheit verstehen wie der Parteienpluralismus des klassischen Demokratiemodells. Jeder konnte seine Forderungen unter diesem Slogan subsumieren. Während also die Erklärung von Barcelona das harmonische Bild einheitlicher politischer Zielvorstellungen entwarf, ließen die Forderungen näher betrachtet den politischen Dissens der Partnerstaaten deutlich durchschimmern. Folgenreicher als der Dissens sollte sich aber der dominierende Einfluss der EU auf die Abfassung der Zielvorstellungen und des Maßnahmenkatalogs auswirken, mit der Folge, dass sich die Europäer prinzipieller Meinungsverschiedenheiten noch nicht einmal bewusst wurden. Aus der Unterschrift unter das gemeinsame Dokument ergab sich aus ihrer Sicht eine tatsächliche Interessenidentität. Rückschauend lässt sich sagen, dass die EU zu vieles in einem einzigen Kraftakt erreichen wollte. Insbesondere übernahm sie sich dabei, politische Stabilität und Sicherheit und gleichzeitig Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu verwirklichen.[11] Manchen europäischen Diplomaten dürfte dieser Zielkonflikt bereits bewusst gewesen sein, als sie noch in Barcelona verhandelten, denn die perzipierte Bedrohung aus dem Süden wog sicherlich schwerer, als es die diplomatischen Formulierungen vermuten lassen.
2.) Rüstungskontrolle und Nichtweiterverbreitung nichtkonventioneller WaffenEbenfalls in den Bereich der politischen Partnerschaft fielen die Rüstungskontrolle und die Nichtweiterverbreitung. Die Unterzeichnerstaaten kamen überein, „die regionale Sicherheit zu fördern und für die Nichtverbreitung nuklearer, chemischer und biologischer Waffen einzutreten, indem sie sämtlichen internationalen und regionalen Nichtverbreitungsvereinbarungen und Übereinkünften […] beitreten und ihnen nachkommen und ihre Verpflichtungen […] auf dem Gebiet der Rüstungskontrolle, der Abrüstung […] zu erfüllen.“ Als konkretes Ziel strebten sie „im Nahen Osten eine beidseitig überprüfbare Zone an, die frei von nuklearen, chemischen und biologischen Massenvernichtungswaffen“ sein sollte. Selbst im Blick auf die konventionellen Waffen formulierten sie das hehre Ziel, „sich nicht über ihre legitimen Verteidigungsbedürfnisse hinaus mit Militärpotential auszustatten“. Am politischen Horizont sahen sie einen „Raum des Friedens und der Stabilität in der Mittelmeerregion“, der langfristig sogar in einen „Europa-Mittelmeer-Pakt“ einmünden könnte. Auch dieses Politikfeld war gekennzeichnet durch eine Aneinanderreihung von frommen Wünschen beider Seiten. Allerdings dürften sich im Bereich der Abrüstung der europäische und der arabische Wunschkatalog in etwa die Waage gehalten haben.
Eine atomwaffenfreie Zone im Nahen Osten war eine alte Forderung der arabischen Nachbarstaaten von Israel. Eher schon musste man sich fragen, wie Israel dieser Zielvorstellung hatte zustimmen können; doch wohl am ehesten als sehr, sehr fernes Ziel. Auch hier also das gleiche Bild: Formal kamen alle Seiten überein, eine gemeinsame Anstrengung zu unternehmen, um die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen zu unterbinden. Dabei war freilich die nukleare Rüstungskontrolle im Sinne der Araber, die noch nicht über die technologische Infrastruktur für eigene Atomwaffenprogramme verfügten und diesen Paragrafen vor allem als Spitze gegen Israel verstehen mussten. Die Kontrolle der chemischen und biologischen Massenvernichtungswaffen war hingegen eher ein Anliegen der Europäer, die entsprechende Bestrebungen in der arabischen Welt fürchteten. Trotzdem wurden alle Forderungen in einem Katalog harmonisiert. Faktisch hatten die Europäer nie vor, etwa Israels Atomwaffenprogramm unter eine internationale Kuratel zu stellen, und auch Israel selber hatte gewiss nie ernsthaft beabsichtigt, seine Atomwaffen internationaler ‚mediterraner‘ Kontrolle zu unterwerfen oder gar auszuhändigen, es sei denn in besagter ferner rosiger Zukunft. Vielmehr sollte es in den folgenden Jahren regelmäßig Anzeichen dafür geben, dass sich ein euro-mediterraner Partnerstaat wie die Bundesrepublik Deutschland trotz seiner Unterschrift unter die Erklärung von Barcelona aktiv am Aufbau der israelischen atomaren Zweitschlagskapazität beteiligte. Knapp am Rande des Bruchs des Atomwaffensperrvertrags lieferten die deutschen Regierungen die nötige technische Infrastruktur gratis an die einzige nahöstliche Atommacht: zum Abschuss für Mittelstreckenraketen umgerüstete deutsche U-Boote. Eine ernsthafte Absicht, die formulierten Abrüstungsziele in ihrer Gesamtheit zu erreichen, brauchte weder der europäischen noch der arabischen oder gar der israelischen Seite unterstellt zu werden. Ganz abgesehen davon, dass die Europäer die geplante massenvernichtungswaffenfreie Zone nicht für sich, sondern allein für die nahöstlichen Partnerstaaten vorgesehen hatten. Soweit es in der EU also Atomwaffenstaaten gab, war deren Arsenal prinzipiell nicht betroffen.
3.) Demografische Entwicklung, Arbeitsmarkt und MigrationDie „Partnerschaft im sozialen, kulturellen und menschlichen Bereich“ gründete sich auf den Respekt vor den „kulturellen und zivilisatorischen Überlieferungen im gesamten Mittelmeerraum“, der durch den „Dialog zwischen diesen Kulturen“ gefördert werden sollte.[12] Das gegenseitige Kennenlernen sollte erleichtert werden, gerade auch durch den „Austausch von Personen“. Damit war die Frage der Migration angesprochen, die die EU-Staaten als Einwanderungsländer und die arabischen Mittelmeerstaaten als Auswanderungsländer betraf. Besonders die Ängste der Europäer vor einer massiven und unkontrollierten Einwanderung fanden ihren Niederschlag in einem umfangreichen Maßnahmenkatalog. Zwar wurde dabei auf neutrale Formulierungen Wert gelegt. Danach „würdigen sie die Bedeutung der Wanderungsbewegungen für ihre Beziehungen.“ Gleichzeitig machte jedoch die Forderung nach der „Verringerung des Wanderungsdrucks“ deutlich, dass die Europäer in der Wanderung eher eine Belastung denn einen Gewinn sahen. Folglich war es ihnen auch wichtig, „in der Frage der illegalen Einwanderung, eine engere Zusammenarbeit zu verwirklichen“ und insbesondere die Pflicht zur „Rückübernahme eigener Staatsangehöriger“ bekräftigen zu lassen. Dieser Punkt war zwar nach dem gängigen Muster allgemein gehalten, betraf in der Praxis jedoch fast nur die östlichen und südlichen Mittelmeeranrainer. Der Verpflichtung zur Rücknahme der eigenen Auswanderer wurde in unglücklicher Assoziation die Bekämpfung des Terrorismus, des Drogenhandels, der Kriminalität und der Korruption nachgeschoben. Diesen einseitigen Verpflichtungen der Mittelmeerstaaten standen „Berufsbildungsprogramme und Unterstützungsprogramme zur Schaffung von Arbeitsplätzen“ gegenüber, die freilich auf die besagte „Verringerung des Wanderungsdrucks“ abzielten. Die eher bescheidene Gegenleistung der EU bestand in dem Passus, „den Schutz aller Rechte, die den in ihren jeweiligen Hoheitsgebieten legal ansässigen Zuwanderern im Rahmen der bestehenden Rechtsvorschriften gewährt werden, zu gewährleisten“. Sprich, die EU-Staaten verpflichteten sich dazu, ihren bisherigen Verpflichtungen auch tatsächlich nachzukommen.
ResümeeDie drei besprochenen Politikfelder beleuchten den Gesamtcharakter der Erklärung von Barcelona nur exemplarisch. Verallgemeinernd kann der Erklärung trotz einzelner positiver Effekte ein übergroßer Optimismus, wenn nicht gar Blauäugigkeit, zum Vorwurf gemacht werden. EU und Mittelmeerdrittstaaten hatten darin ihre politischen Wünsche addiert und durch Unterschrift bekräftigt. Innere Spannungen und Widersprüche sowie das europäische Übergewicht bei diesen Forderungen wurden durch die Kunst der diplomatischen Formulierung überspielt. Es brauchte keiner hellseherischen Begabung, um das Scheitern der meisten Ankündigungen vorherzusagen. Eher verwundert die Frustration auf Seiten der EU über den Misserfolg und die kümmerlichen Ergebnisse. Was hatten sie denn erwartet? Zehn Jahre nach der Konferenz von Barcelona galt die EMP weitgehend als gescheitert. Der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy – seit 2007 im Amt – wollte sie gar endgültig zu Grabe tragen und durch eine Neuschöpfung ersetzen. Formal einigten sich die bisherigen euro-mediterranen Partnerstaaten zwar darauf, dass diese „Union für das Mittelmeer“ die EMP fortsetzen solle. In der Praxis der politischen Zusammenarbeit jedoch bedeutet die Nachfolgeorganisation in vielen Feldern einen Bruch mit mühsam erreichten kleinen Zielen, ohne dass absehbar wäre, ob ihr eine effektivere Fortführung oder gar Erweiterung dieser Projekte gelingen wird. Denn die alte EMP hatte doch eine zaghafte Dynamik auf der institutionellen Ebene, im Bereich von Netzwerken und vielfältigen persönlichen Kontakten, gerade der Zivilgesellschaften, in Gang gesetzt, selbst wenn sie weit davon entfernt war, die hochgesteckten Ziele ihrer Erklärung zu erfüllen. Ob die Radikalkur einer kompletten Restrukturierung und eines organisatorischen Neuanfangs die richtige Medizin war oder ob nicht ein mühsam – und mit vielen EU-Geldern – am Leben erhaltenes zartes Pflänzchen endgültig zertreten wurde, muss der Erfolg der „Union für das Mittelmeer“ in Zukunft zeigen. Das Schicksal des Euro-Arabischen Dialogs stimmt eher pessimistisch.
[1] Essay zur Quelle: Rat der Europäischen Union, Erklärung von Barcelona von der Europa-Mittelmeer-Konferenz (27. und 28. November 1995), in: Bulletin der Europäischen Union, 11 (1995); [Auszüge].
[2] Die prägnante Kurzformel entstammt dem Titel eines Zeitungsberichts: Stabenow, Michael [now.], Frieden, Wohlstand und Menschenrechte rund ums Mittelmeer. "Erklärung von Barcelona" beendet die Konferenz der Anliegerstaaten / Freihandelszone bis 2010, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.11.1995, S. 1f
[3] Speziell zu diesem Thema vgl. Grußendorf, Johan; Weiß, Andreas, Europarepräsentationen in der Begegnung mit dem Mittelmeerraum: Spanien, Frankreich und Deutschland im Vergleich. Berlin (voraussichtlich 2010) (Working Paper des Sonderforschungsbereichs SFB 640, „Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel“) (in Vorb.), <http://www.sfb-repraesentationen.de/working-papers> (25.07.2010).
[4] Barcelona Declaration. In: European Commission > Trade > Documents and Publications > Document search, <http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2005/july/tradoc_124236.pdf> (25.07.2010).
[5] So z.B. die deutsche Zusammenfassung „Erklärung von Barcelona und Partnerschaft Europa-Mittelmeer“. In: Europa. Zusammenfassungen der EU-Gesetzgebung, <http://europa.eu/legislation_summaries/external_relations/relations_with_third_countries/mediterranean_partner_countries/r15001_de.htm> (25.07.2010).
[6] Zu finden ist das Gründungsdokument der Union für das Mittelmeer auf der Homepage der französischen Ratspräsidentschaft 2008: Joint Declaration of the Paris Summit for the Mediterranean. Paris, 13 July 2008. In: ue2008.fr, <http://ue2008.fr/webdav/site/PFUE/shared/import/07/0713_declaration_de_paris/Joint_declaration_of_the_Paris_summit_for_the_Mediterranean-EN.pdf> (25.07.2010).
[7] „Erklärung von Barcelona“, veröffentlicht in: Bulletin der Europäischen Union, 11 (1995), S. 154f.
[8] Ebd., S. 157f.
[9] Ebd., S. 155-157.
[10] Ebd., S. 154.
[11] Vgl. Jünemann, Annette, Europas Mittelmeerpolitik im regionalen und globalen Wandel: Interessen und Zielkonflikte. In: Zippel, Wulfdiether (Hg.), Die Mittelmeerpolitik der EU, Baden-Baden 1999 (Schriftenreihe des Arbeitskreises Europäische Integration e. V., 44), S. 29–63, bes. S.46.
[12] Zur Problematik der Rede vom Dialog vgl. z. B. Stetter, Stephan, The politics of de-paradoxification in Euro-Mediterranean relations: semantics and structures of 'Cultural Dialogue', in: Mediterranean politics, 10 (2005), H. 3, S. 331–348. Für den Hinweis auf diesen Aspekt sei unserem Kollegen Andreas Weiß gedankt.
Literaturhinweise:
Chérigui, Hayète, La politique méditerranéenne de la France: entre diplomatie collective et leadership. Paris: L’Harmattan 1997 (Histoire et perspectives méditerranéennes).
Harders, Cilja, Kooperation unter Bedingungen der Asymmetrie – zehn Jahre Euro-Mediterrane Partnerschaft aus arabischer Sicht. In: Orient. Deutsche Zeitschrift für Politik und Wirtschaft des Orients, 3 (2005), S. 388-413.
Jünemann, Annette, Europas Mittelmeerpolitik im regionalen und globalen Wandel: Interessen und Zielkonflikte. In: Zippel, Wulfdiether (Hg.), Die Mittelmeerpolitik der EU, Baden-Baden 1999 (Schriftenreihe des Arbeitskreises Europäische Integration e. V.; 44), S. 29–63.
?????, ????? ?????: ??????? ????????. ????????? .. ??????? .. ????????. [???????:] ???? ???????? ???? .[????? ???? ????????? ??). [Mu?aimir, Usama Faruq, Die Mittelmeerkooperation: die Initiativen, die Problemfälle, die Zukunft. [Kairo:] Markaz al-ma?rusa 1998 (Internationale und regionale Angelegenheiten; 31)]
Stetter, Stephan, The Politics of De-Paradoxification in Euro-Mediterranean Relations: Semantics and Structures of 'Cultural Dialogue', in: Mediterranean Politics, 10 (2005), H. 3, S. 331–348.