Kokoškins Europa

Als Fedor F. Kokoškin im Februar 1906, inmitten des Wahlkampfes zu den ersten Russischen Dumawahlen auf nationaler Ebene, in den liberalen „Russkie Vedomosti“ seinen Artikel „Die Konstitutionell-Demokratische Partei vor dem Gericht des 17. Oktobers“ veröffentlichte, war er in der russischen Öffentlichkeit kein Unbekannter. 1871 als Sohn eines alten russischen Adelsgeschlechtes in Cholm geboren, hatte er sich nach einem Studium des Rechts in Moskau, Heidelberg und Paris zunächst als Staatsrechtsdozent an der Moskauer Universität einen Namen gemacht. Er schloss sich bald als aktives Mitglied der liberalen Oppositionsbewegung an, die vor allem seit 1904 mit öffentlichkeitswirksamen Kundgebungen zum Druck auf die Regierung beitrug. In der im Oktober 1905 gegründeten „Konstitutionell-Demokratischen Partei“, die sich auch „Partei der Volksfreiheit“ nannte, und deren Mitglieder kurz als „Kadetten“ bezeichnet wurden, gehörte Kokoškin zum Zentralkomitee und somit zu den Führungspersönlichkeiten. [...]

Kokoškins Europa[1]

Von Benjamin Beuerle

I. Einführung

Als Fedor F. Kokoškin im Februar 1906, inmitten des Wahlkampfes zu den ersten Russischen Dumawahlen auf nationaler Ebene, in den liberalen „Russkie Vedomosti“ seinen Artikel „Die Konstitutionell-Demokratische Partei vor dem Gericht der Union des 17. Oktobers“ veröffentlichte, war er in der russischen Öffentlichkeit kein Unbekannter. 1871 als Sohn eines alten russischen Adelsgeschlechtes in Cholm geboren, hatte er sich nach einem Studium des Rechts in Moskau, Heidelberg und Paris zunächst als Staatsrechtsdozent an der Moskauer Universität einen Namen gemacht. Er schloss sich bald als aktives Mitglied der liberalen Oppositionsbewegung an, die vor allem seit 1904 mit öffentlichkeitswirksamen Kundgebungen zum Druck auf die Regierung beitrug. In der im Oktober 1905 gegründeten „Konstitutionell-Demokratischen Partei“, die sich auch „Partei der Volksfreiheit“ nannte, und deren Mitglieder kurz als „Kadetten“ bezeichnet wurden, gehörte Kokoškin zum Zentralkomitee und somit zu den Führungspersönlichkeiten.[2]

Vorausgegangen waren dieser Parteigründung seit Jahresanfang 1905 monatelange dramatische revolutionäre Ereignisse. Diese nötigten den Zaren am 17. Oktober desselben Jahres, zeitgleich zum Gründungsparteitag der Kadetten, zu einem Manifest, in dem er eine Verfassung und ein frei gewähltes Parlament versprach, dessen Zustimmung zu allen Gesetzen erforderlich sein sollte. Auch wenn die zaristische Regierung in der Folge keinen Schritt unversucht ließ, um in der konkreten Ausgestaltung dieser Versprechen die Zugeständnisse an die Oppositionsbewegung auf ein Minimum zu beschränken, bedeutete dies das Ende des autokratischen Russlands. Die Erwartungen an das erste frei gewählte nationale Parlament in der russischen Geschichte, das im April 1906 zusammentreten sollte, waren hoch. Dementsprechend engagiert agierten die noch jungen antretenden Parteien. Der Wahlkampf wurde auf zahlreichen Parteiversammlungen, Kundgebungen, in Broschüren und nicht zuletzt in Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln ausgetragen. Da sich die revolutionären Parteien (Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre) gegen eine Teilnahme an den Wahlen entschieden hatten und sich die rechten Parteien erst in der Formierung befanden, fand die Hauptauseinandersetzung zwischen den beiden Parteien statt, in die sich die liberale Oppositionsbewegung inzwischen aufgespalten hatte: Die „Union des 17. Oktobers“, deren Protagonisten kurz „Oktobristen“ genannt wurden, sah mit dem zaristischen Manifest und insbesondere den darin versprochenen Grundfreiheiten ihre Ziele erreicht und sprach sich für eine starke Monarchie im Rahmen der neuen Verfassung aus. Dagegen war der 17. Oktober für die Kadetten nur der Anfang. Sie strebten ein parlamentarisches System an, wobei anfangs innerhalb der Partei umstritten war, ob eine parlamentarische Monarchie oder eine Republik vorzuziehen sei.[3]

Wir erfahren aus Kokoškins Text, dass er sich gegen eine Schrift der „Union des 17. Oktobers“ wendet, nicht jedoch, wer diese Schrift verfasst hat. Dabei war dieser Autor klar auf der oktobristischen Schrift vermerkt,[4] und auch er stellte in der russischen Öffentlichkeit der Zeit eine bekannte Größe dar: Vladimir I. Ger’e, zu dieser Zeit bereits knapp 70 Jahre alt, war ein bekannter Historiker an der Moskauer Universität, der sich vor allem mit Werken zur Französischen Revolution einen Namen gemacht hatte. Wie Kokoškin hatte er während seines Studiums längere Zeit im westeuropäischen Ausland verbracht, allerdings mehrere Jahrzehnte früher: Anfang der 1860er Jahre besuchte er Universitäten in Deutschland, Italien und Frankreich. Beide, Kokoškin und Ger’e, kannten sich somit in Westeuropa gut aus, beide waren angesehene Gelehrte auf ihrem Feld, und beide waren zudem schon vor der Revolution – Ger’e bereits seit den 1870er Jahren – politisch und gesellschaftlich engagiert.[5]

II. Kokoškins Westeuropa[6]

1. Die Stellung Westeuropas in den Schriften Kokoškins und Ger’es und den Debatten der Zeit

Diese Umstände können zum Verständnis von Kokoškins Textpassagen und den von ihm zitierten Abschnitten Ger’es beitragen. Diese sind allerdings bemerkenswert. Was in der Polemik Kokoškins und im Text Ger’es, mit dem sich erstere auseinandersetzte, zur Debatte stand, war nichts anderes als das Programm der konstitutionell-demokratischen Partei; ein Programm wohlgemerkt, in dem es ganz überwiegend um innenpolitische Themen – Verfassungsfragen, Agrarreform, Sozialgesetzgebung vorneweg – ging, und in dem Referenzen auf westliche Staaten im Wortlaut keinen Platz fanden.[7] Dagegen springt bei der Lektüre des Textes ins Auge, dass in der Auseinandersetzung Kokoškins mit seinem oktobristischem Widerpart der Verweis auf „Westeuropa“ als Ganzes sowie auf einzelne westeuropäische Staaten und Völker quasi omnipräsent war. Worum es auf diesen Seiten auch ging: um die generelle Ausrichtung des Parteiprogramms, um die Einstellung zur Monarchie, um die Frage nach der Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung, um die Sozialgesetzgebung oder um die Organisation der Partei selbst – Kokoškin bemühte in seiner Zurückweisung der oktobristischen Vorwürfe den Verweis auf westliche Beispiele, Modelle und Erfahrungen. Vielfach ging er damit seinerseits auf entsprechende Verweise Ger’es ein. Gleich zu Beginn, als es um die Frage geht, ob das kadettische Parteiprogramm als doktrinär und radikal (mithin in liberaler Sicht als abzulehnen) einzuschätzen ist oder nicht, wird als zentrale Streitfrage zwischen beiden Autoren zur Sprache gebracht: Geht das kadettische Programm weiter als bestehende westeuropäische Verfassungen oder nicht? Westeuropa ist somit der Maßstab, der an den konkreten russischen Fall gehalten wird, um ihn beurteilen zu können.

Erst dies erklärt auch die Schwere des von Kokoškin immer wieder gegen seinen Opponenten vorgebrachten Vorwurfes, dieser kenne sich mit den politischen Verhältnissen in Westeuropa schlecht oder gar nicht aus. Wer auch nur etwas mit der Staatsordnung und den Parteien Westeuropas bekannt sei, müsse doch wissen, dass das konstitutionell-demokratische Programm allenfalls in sozialpolitischer, nicht aber in konstitutioneller Hinsicht weiter links stehe als die bestehenden westeuropäischen Verfassungen, so schreibt Kokoškin und spricht damit gleichsam Ger’e ebenjene Kenntnisse ab. Wenn der Oktobrist sich mit der Geschichte der verfassungsgebenden Versammlungen im Westen befasst hätte, so wüsste er, dass diese Versammlungen dort die Macht bestehender Monarchien nicht geschmälert haben, stichelt er an anderer Stelle. Selbst ein Blick in eine beliebige populärwissenschaftliche Schrift hätte gereicht, um zu wissen, dass in verschiedenen westeuropäischen Ländern Steuern und Zölle regulär nur für jeweils ein Jahr festgelegt werden, heißt es weiter unten. Und, so schreibt Kokoškin in diesem Zusammenhang: Er – Kokoškin – wisse nicht, worüber er sich mehr wundern solle: Über Ger’es schlechte Kenntnis des kadettischen Parteiprogramms oder über seine offenbar gänzlich fehlende Kenntnis westeuropäischer Verfassungen. Was all diesen Passagen als Prämissen zugrundeliegt, ist zumindest dreierlei. In erster Linie der schon erwähnte Umstand, dass Westeuropa für Russland einen zentralen Referenzrahmen darstellt. Zum zweiten die Annahme, dass Russland aus westeuropäischen Erfahrungen lernen könne – was wiederum eine grundsätzliche Analogie zwischen westeuropäischen und russischen Gegebenheiten impliziert. Und schließlich der damit verbundene Grundsatz, dass schon die bloße Unkenntnis westeuropäischer Zustände, Erfahrungen und Praktiken einen politischen Akteur gleichsam disqualifiziert. Die letztgenannte Aussage Kokoškins ist in dieser Hinsicht besonders bezeichnend: Die Diskussion dreht sich um das kadettische Parteiprogramm (in dem, dies sei noch einmal betont, an keiner Stelle explizit von Westeuropa die Rede ist), doch Kokoškin hält es ausdrücklich für gleich „verwunderlich“, dass sein Gegner offensichtlich dieses Programm nicht richtig gelesen habe und dass er sich mit den westeuropäischen Verfassungen nicht auskenne – als ob es dieser selbstverständlich bedürfe, um das kadettische Parteiprogramm bewerten zu können. Diese zentrale Stellung westlicher Modelle wird auch im weiteren Verlauf des Textes deutlich.

2. Argumentationsmuster mit westlichen Referenzen

Sehen wir uns im Einzelnen an, welcher Art die Argumente waren, die Kokoškin und Ger’e unter Zuhilfenahme westlicher Referenzen anführten. Dies ist schon deshalb von Interesse, da es sich hierbei nicht um Einzelfälle handelte, sondern gleichsam um Argumentationsmuster, die in verschiedenen Variationen in politischen Debatten der Zeit, vor allem der folgenden elf Jahre bis 1917, immer wieder auftauchten. Insbesondere trifft dies auf drei von Kokoškin angeführte Argumente zu. Das erste dieser Argumente haben wir bereits angedeutet: Russland, so lautet es, ist rückständig, hinter Westeuropa in der Entwicklung zurückgeblieben. Es sollte deshalb der westeuropäischen Entwicklung nachfolgen – mit mehr oder minder großem Abstand – ihr jedoch keinesfalls vorgreifen. Wer dies dennoch versucht, beweist nur, dass er zu äußerster Radikalität bereit ist. Kokoškin weist diese in Ger’es Argumentation enthaltenen Prämissen durchaus nicht grundsätzlich zurück. Vielmehr bestreitet er bezüglich der Verfassungsfrage – als der zentralen Streitfrage an dieser Stelle –, dass das kadettische Parteiprogramm tatsächlich der westlichen Entwicklung vorausgreife. Hier kommt nun jedoch erstmals ein in dieser Beziehung bedeutsamer Umstand ins Spiel: Wenn auch immer wieder im Text „Westeuropa“ als Überbegriff explizit genannt wird, so stellt dieses doch auch in der Perspektive des Autors und seines Opponenten keinen monolithischen Block dar, sondern ist vielmehr durchaus heterogen. Reicht es vor diesem Hintergrund aus, einzelnen westlichen Staaten zu folgen, oder muss der Gesamtheit der westlichen Staaten nachgefolgt werden, um nicht in Radikalität und „Doktrinarismus“ – mithin Weltfremdheit – zu verfallen? Kokoškin lässt die Frage selbst unbeantwortet, sieht sich jedoch auch für den schwierigeren letztgenannten Fall gewappnet. Zwar gibt es laut seiner eigenen Aussage einen Staat, dessen Verfassung das kadettische Parteiprogramm gleichermaßen auf der linken Spur überholen möchte. Doch spricht Kokoškin diesem Staat und seinem Volk – den Ungarn – in seiner Polemik schlicht ab, wirklich zu Europa zu gehören. Die Ungarn kamen als nomadische Reiter nach Europa, sind folglich per se eine Art asiatischer Fremdkörper inmitten Europas. Asiaten in der Entwicklung voraus zu sein ist jedoch, so lässt sich die implizite Argumentation nachverfolgen, nicht nur nicht verwerflich, sondern gänzlich normal. Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass es oktobristische Vertreter bei dieser Deutung der Dinge nicht bewenden lassen wollten. In einer kurz darauf erschienen Replik eines anonymen oktobristischen Autors wurde darauf verwiesen, dass die Ungarn schon vor Jahrhunderten Grundlagen einer konstitutionellen Ordnung gelegt hätten, und dass ihre viel weiter zurückliegende Zugehörigkeit zu den Nomaden demgegenüber überhaupt keine Bedeutung habe.[8] Mit anderen Worten: Sie wurden von den Oktobristen ins Zentrum Europas gerückt, wo sie Kokoškin nicht sehen wollte.

Ein zweites Argument, das in vielen Debatten der Zeit vorgebracht wird, nennt Kokoškin im Zusammenhang mit der Begründung für die Notwendigkeit der Monarchie: Überall werde die Frage nach der Staatsform durch „Traditionen, Gefühle und Sympathien der Mehrheit der Bevölkerung motiviert“. Was überall (sonst) geschehe, sei für Russland nur folgerichtig, so impliziert dieses oft auch nur als „überall im Westen“ oder „überall in Europa“ qualifizierte Argument. Das Pendant dazu lautet „nirgendwo“ bzw. „niemals“. Niemals habe im Westen eine verfassungsgebende Versammlung die Macht der Monarchie geschmälert, folglich werde es – so das implizite und wiederum auf Analogie zwischen Russland und Westeuropa aufbauende Argument Kokoškins – auch in Russland nicht geschehen. Während hinter dieser Form des Argumentes tatsächlich eine positive historische Erfahrung steht, erhielt es in manchen Debatten der Zeit auch eine andere Gestalt, in der gerade die im Westen fehlende Erfahrung ins Zentrum des Argumentes rückte. Zu wenig sei im Westen bislang das – kaum irgendwo wirklich angewendete – proportionale Wahlrecht erprobt, um in RusslandAnwendung finden zu können, so heißt es etwa in einer Schrift von Vodovozov aus dem Frühjahr 1905.[9] In die Kategorie des „Überall“-Argumentes gehört schließlich auch das einschränkende Argument, in „vielen Staaten“ bzw. in der „Mehrheit der Staaten“ – in Westeuropa – werde etwas auf diese oder jene Weise gehandhabt, was offensichtlich als geeignet angesehen wird, um diversen Argumenten gegen die entsprechende Maßnahme den Wind aus den Segeln zu nehmen. In „vielen Staaten“ werden die Steuern und Zölle für ein Jahr festgesetzt, so Kokoškin, und führt in diesem Falle das Argument auch noch explizit aus: Frankreich und Belgien gehören zu diesen Staaten, diese stehen stärker da als der Russische Staat, folglich kann eine entsprechende Budgetregelung für den Staat nicht schädlich sein – wie es Ger’e angenommen hatte.

Es sei dazu gesagt, dass oftmals auch nur ein einziges westliches Referenzland als positives – oder auch negatives – Beispiel genannt wurde und dass auch dieses als valides Argument angesehen wurde. Doch waren diejenigen, die gleich auf „viele Staaten“ oder gar alle („überall“) verweisen konnten, demgegenüber natürlicherweise im Vorteil. Wer nur ein Land als Beispiel anführte bzw. anführen konnte, sah sich oft unweigerlich durch den politischen Gegner mit einem westlichen Gegenbeispiel bzw. mit dem Vorwurf konfrontiert, dass dieses eine Land nicht repräsentativ für westliche Zustände sei. Auch hier kam die Heterogenität westlicher Zustände zum Tragen. Kokoškins Verweis darauf, dass „zum Beispiel die Schweizer“ Verfassung wesentlich weiter gehe als das, was die Kadetten in ihrem Programm vorsähen, wurde entsprechend in der schon erwähnten zweiten oktobristischen Gegenschrift mit dem Argument gekontert, wenn die Schweizer Verfassung weiter gehe als das kadettische Parteiprogramm, sei dies noch kein Beweis für dessen fehlende Radikalität. Wie im Falle der Ungarn bestand hier ein Disput über die Frage, wie einzelne europäische Staaten – in diesem Falle die Schweiz – zu bewerten und einzuschätzen seien.

Ein drittes in dem Text Kokoškins ersichtliches Argument, das in vielen Debatten der Zeit angewandt wurde, bestand schließlich in dem Verweis auf Aussagen oder Taten bestimmter herausragender Persönlichkeiten Westeuropas, die gleichsam die Rolle von Kronzeugen für eine Maßnahme oder Aussage einnahmen. Mitunter wurden diese Kronzeugen gezielt so gewählt, dass der Verdacht ausgeschlossen werden konnte, sie stünden dem eigenen politischen Lager (besonders) nahe. In Kokoškins Fall sehen wir eine solche Form des Argumentes bezüglich der Frage, ob die Monarchie ein Selbstzweck oder nur ein Mittel zum Wohl des Volkes sei. Letzteres war in mehreren kadettischen Schriften und Erklärungen zu lesen, was Ger’e kritisiert hatte. Hier wird nun seitens Kokoškins Ludwig XIV. bemüht, der selbst gesagt habe, dass seine Macht ein Mittel für dieses „höchste Ziel“ sei. Wenn dies der Sonnenkönig, der Inbegriff absolutistischer (von den Kadetten abgelehnter) Macht sagte und damit gleichsam die Absolutheit seiner Macht relativierte, konnte es, so das implizite Argument, schwerlich ehrrührig sein, Ähnliches zu äußern. In entsprechender Weise wurde z.B. von liberalen Regierungsgegnern in Auseinandersetzungen mit Regierungsvertretern des Öfteren Bismarck zitiert, der proliberaler Attitüden nicht verdächtig war. In die gleiche Argumentenkategorie gehörte im Übrigen die Gleichsetzung von Maßnahmen des politischen Gegners mit solchen von westlichen Persönlichkeiten, die dem Gegner mit Sicherheit zuwider waren. So kritisierten kadettische Vertreter in der 1. Duma die harten Repressionsmaßnahmen der Regierung gegen Revolutionäre und Aufständische, indem sie jene mit der jakobinischen Terreur während der französischen Revolutionsjahre gleichsetzten.

3. Formen der Negierung des westlichen Modellcharakters

Während die bisher genannten Argumente – jedenfalls in der von Kokoškin angeführten Form – jeweils nicht nur vom Westen als Referenzrahmen, sondern auch als direktes Modell für Russland ausgingen, wurde dieser Modellcharakter an mehreren Stellen von Kokoškin selbst auch explizit infrage gestellt. Im einen Fall nehmen westliche Beispiele dabei schlicht die Form eines Negativmodells ein: Eine Monarchie darf kein Selbstzweck sein, da diejenigen westlichen Staaten (im alten Griechenland und in „Italien“), in denen dies der Fall war, in schlimme Despotien ausarteten. Dahinter steht der – nicht ausgesprochene, jedoch in vielen Diskussionen der Zeit auftauchende – Gedanke, dass Russland auch aus negativen Erfahrungen westlicher Staaten seine Lehren ziehen könne, indem die hinter diesen Erfahrungen stehenden Maßnahmen vermieden werden.[10]

An zwei weiteren Stellen lehnt Kokoškin die Übernahme westlicher Modelle in Teilfragen ab. Es fällt auf, dass er dies an beiden Stellen ausdrücklich mit der Negierung der ansonsten angenommen Analogie zwischen Russland und den westlichen Staaten erklärt und rechtfertigt. Gerade diese von ihm offensichtlich für notwendig befundene explizite Rechtfertigung unterstreicht den Ausnahmecharakter dieser Stellen und damit einmal mehr die im Allgemeinen gegebene Anerkennung des westeuropäischen Referenzrahmens. Der erwähnte herrschende Diskurs wird auf diese Weise von ihm generell gerade nicht in Frage gestellt. Sehen wir uns beide Stellen im Einzelnen an. Sozialpolitisch sei, so gibt Kokoškin zu, das kadettische Programm weitergehend als das, was von westlichen liberalen Parteien gefordert werde. Tatsächlich war dies angesichts der von den Kadetten vertretenen Forderungen etwa nach Enteignungen von Grundbesitzern zur Landumverteilung an arme Bauern, einem 8-Stunden-Tag und einer staatlichen Versicherung für Arbeiter ohne Beiträge derselben kaum zu bestreiten. Doch ist dies aus Kokoškins Sicht zu rechtfertigen, da die sozialpolitische Situation in Russland eine besondere sei: Die Bauern haben erst rund vier Jahrzehnte zuvor erstmals Privatland erhalten, das von den Gutsbesitzern abgetrennt werden musste, und die soziale Frage ist in Russland erst in allerjüngster Zeit, mit dem Ende der Autokratie, aufgekommen. Kokoškins Gedankengang an dieser Stelle, zunächst nicht unmittelbar eindeutig, erschließt sich mit Blick auf den Rest des Textes. Russland, in dem die Bauern überhaupt erst vor rund 40 Jahren erstmals eigenes Land erhielten und die soziale Frage lange nicht beachtet wurde, liege in sozialer und sozialpolitischer Sicht so stark hinter dem Westen zurück, dass hier radikale Maßnahmen gerechtfertigt und nötig sind, um den großen Abstand zu überbrücken. Die zweite Textpassage, in der Kokoškin auf sozialpolitische Fragen eingeht, weist klar auf diese Deutung hin: Bezüglich der Einführung und Organisation einer staatlichen Arbeiterversicherung (d.h., einer Unfall- und Krankenversicherung für Arbeiter) hatte Ger’e Anstoß an dem Umstand genommen, dass das kadettische Programm hier keine Beiträge der Arbeiter selbst vorsah, und auf das deutsche Beispiel mit den dort obligatorischen Beiträgen der Arbeitnehmer verwiesen. Sowohl er als auch der anonyme Autor der weiteren oktobristischen Erwiderungsschrift auf Kokoškin betonen dabei die wirtschaftliche Rückständigkeit Russlands, die dem Staat erst recht nicht erlaube, ohne die Beiträge der Arbeiter auszukommen. Kokoškin unterstreicht hier seinerseits den Umstand der wirtschaftlichen Rückständigkeit Russlands, zieht hieraus jedoch den umgekehrten Schluss: Weil die Löhne in Russland sehr viel niedriger als in Deutschland sind, sei den Arbeitern das Abführen von Beiträgen ihrerseits nicht zuzumuten.

4. Repräsentationen Westeuropas

Hier wie andernorts wird deutlich, dass es zwischen Kokoškin und seinen oktobristischen Opponenten durchaus grundlegende Gemeinsamkeiten in ihrer Sichtweise auf Westeuropa gab. Dieses erschien jeweils der russischen Entwicklung (in politischer, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht) voraus und hatte diejenigen Institutionen hervorgebracht, die auch Russland für seinen Staat gebrauchen bzw. neu einführen musste. Eine Verfassung und grundlegende Bürgerrechte gehörten aus Sicht beider Opponenten dazu. Russland musste natürlicherweise in der Regel der westeuropäischen Entwicklung folgen – bis hierhin waren sich die Diskutanten einig. Unumstritten war unter ihnen offensichtlich auch, dass damit unter Erklärungs- und Rechtfertigungszwang stand, wer in einzelnen Fragen doch vom europäischen Modell abweichen wollte. Vor allem herrschte zwischen ihnen grundsätzliche Einigkeit, dass der Verweis auf westeuropäische Praktiken und Erfahrungen ein valides Argument in Diskussionen bezüglich konkreter russischer Politik darstellte. Weder in Kokoškins Schrift noch in denen der Oktobristen war so das theoretisch problemlos denkbare Argument aufzufinden, dass der Verweis auf Westeuropa überhaupt nichts zur Sache tue, weil es sich doch schließlich um russische Politik handele.

Uneinig waren sich die politischen Kontrahenten jedoch sowohl bezüglich der Sichtweise auf einzelne westeuropäische Staaten und Umstände als auch bezüglich der aus diesen konkreten westeuropäischen Erfahrungen und Praktiken zu ziehenden Schlüsse. Die oben genannten Auseinandersetzungen über das Wesen der Schweiz, welche Kokoškin im Zentrum, die Oktobristen jedoch gleichsam am Rande Europas verorteten, und Ungarns, bei dem es sich umgekehrt verhielt, machen dies deutlich. Gleiches gilt für den Disput um die konkreten Schlussfolgerungen aus der beiderseits anerkannten Rückständigkeit Russlands gegenüber Deutschland in sozialer und sozialpolitischer Hinsicht. Kokoškins Europa war das der zeitgenössischen parlamentarischen Demokratien – Großbritannien, Norwegen und Belgien, mit Abstrichen auch Frankreich und die Schweiz –, kombiniert mit sozialstaatlichen Elementen, wie sie im deutschen Reich entwickelt worden waren und die aus seiner Sicht aufgrund der besonderen russischen Verhältnisse erweitert werden mussten. Ger’e dagegen sah den Höhepunkt der Zivilisation in jenen europäischen Staaten erreicht, in denen eine Konstitution und gewisse Grundfreiheiten mit einer starken Monarchie kombiniert vorlagen – wie dies zu seiner Zeit in Deutschland, mit Abstrichen auch in Italien oder im Habsburgerreich der Fall war.

Die unterschiedlichen Sichtweisen auf westeuropäische Zustände und Verhältnisse im Einzelnen blieben nicht ohne Bedeutung für die russische Politik, sondern führten vielmehr unterschiedliche politische Handlungsimperative mit sich. Dies hing wiederum mit gemeinsamen Grundannahmen Ger’es und Kokoškins zusammen, die unausgesprochen blieben, jedoch erst die gesamte Argumentationsstruktur in den Texten beider verständlich machen. Westeuropa war, bei allen negativen Erfahrungen, die es in der Vergangenheit gemacht haben mochte, in der Gegenwart ein insgesamt positives Modell, das für Fortschritt und Zivilisation stand. Russland, das sich mit dem Abschied von der autokratischen Ordnung vom Althergebrachtem gelöst hatte, verfügte in der Sichtweise der Diskutanten nur über dieses Modell für die weitere Orientierung. Es befand sich damit auf einem Weg, der dorthin führen musste, wo Westeuropa bereits stand. Vor diesem Hintergrund hatte der Disput um das Wesen und die Eigenheiten Westeuropas unmittelbare Implikationen für die russische Politik.

5. Erklärungsansätze

Wie lässt sich dieser zentrale Status Westeuropas in dieser wie in anderen Debatten der Zeit, die sich um Themen russischer Innenpolitik drehten, erklären? Zunächst: Die Westorientierung russischer Elitenangehöriger war für die russische Geschichte keine Neuigkeit. Die von Peter I. seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert betriebene radikale Europäisierungspolitik war in der Folge von seinen Nachfolgern und dem russischen Adel überhaupt – dem auch Ger´e und Kokoškin angehörten – aufgegriffen, weitergeführt und vielfach verinnerlicht worden. Ab dem 18., noch verstärkt seit Mitte des 19. Jahrhunderts, machten viele russische Adlige im Rahmen von Bildungsreisen und Studienaufenthalten auch eigene Erfahrungen mit dem westlichen Ausland und trugen diese nach Russland und in die dortigen Diskussionen zurück. Wie anfangs erwähnt, trifft auch dies auf Ger´e und Kokoškin zu, die jeweils für längere Zeit in Westeuropa studierten. Hinzu kam die außergewöhnlich hohe Zahl von Übersetzungen westlicher Werke – aus ganz unterschiedlichen Fachbereichen – ins Russische, was die Rezeption westlicher Modelle auch seitens derjenigen Russen beförderte, denen die Möglichkeit eigener Auslandsreisen verwehrt blieb.[11] Der Umstand der Anfertigung dieser zahlreichen Übersetzungen war seinerseits Ausdruck des großen Interesses russischer Gesellschaftsangehöriger an westlichen Zuständen, Rechtsformen und Praktiken. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte dieses Interesse nach der schweren Niederlage im Krimkrieg (1854-1856), die aus Sicht vieler russischer politischer Akteure die Rückständigkeit Russlands gegenüber dem Westen und die daraus resultierende Reformnotwendigkeit des Reiches klar zu Tage brachte. Vor diesem Hintergrund wollten bereits die hinter den Großen Reformen der 1860er Jahre stehenden aufgeklärten, juristisch gebildeten Bürokraten die russische Zukunft mit legislativen Mitteln entsprechend der europäischen Gegenwart gestalten.[12] So ist zunächst die Tradition russischer Westorientierung zu unterstreichen, in der die beschriebenen Argumentationen Kokoškins und Ger´es unzweifelhaft zu sehen sind.

Dennoch gehen diese Argumentationsmuster noch einen Schritt weiter. Für die Reformer der 1860er Jahre war das westliche Europa wohl zentrales Modell, jedoch in ihren Argumentationen noch nicht Maßstab aller Dinge. Es konnte dies nicht sein, da sich die liberalen Reformer seinerzeit konservativen Opponenten gegenübersahen, die das westliche Europa als Referenz nicht akzeptierten. Die Argumentationsweise Kokoškins und Ger’es setzt dagegen ein stillschweigendes Einverständnis zwischen den politischen Opponenten voraus, dass Westeuropa für die russische Innenpolitik einen gültigen und aussagekräftigen Referenzrahmen darstellt. Nicht nur der dem rechten Flügel der Oktobristen angehörende Ger’e, sondern auch unzweifelhaft konservative Mitglieder des Reichsrates und der Duma bedienten sich zwischen 1906 und 1917 ähnlicher Argumentationsmuster. Die Rezeption, eigene Interpretation und Nutzbarmachung der westlichen Referenzmodelle seitens der politischen Akteure für die jeweiligen russischen Fälle und Problemstellungen gingen hierbei in der Regel Hand in Hand. Auf der einen Seite zeugt dies vom langfristigen Erfolg der (an sich in der Öffentlichkeit des frühen 20. Jahrhunderts keinesfalls beliebten) „aufgeklärten“ Bürokraten. Die von ihnen vertretene dezidierte Westorientierung war in der politischen Öffentlichkeit des Russlands der konstitutionellen Ära kaum mehr umstritten, hatte mithin den Status eines quasi herrschenden Diskurses erlangt. Mit entscheidend hierfür war jedoch die Erschütterung der Autokratie durch die Revolution im Inneren sowie durch die verheerende Niederlage im Krieg gegen Japan. Vor diesem Hintergrund hatte das Vergangene und das Bestehende in Russland seine Rolle als Maßstab für das Geplante und das Zukünftige verloren. Die Krise machte einen neuen Referenzrahmen erforderlich, da der alte – oder jedenfalls Teile des alten – nicht mehr trug. Der Maßstab, der bei Kokoškin wie bei Ger’e zum Tragen kam, war das westliche Ausland.

III. Ausblick und Schluss

Kokoškins öffentlich geführter Schlagabtausch mit Ger’e über das Wesen Westeuropas und die hieraus für Russland zu ziehenden Schlüsse war nicht der erste seiner Art, und ihm folgten in den nächsten Jahren zahlreiche weitere: Die knapp zwölf Jahre, in denen das konstitutionelle Russland zu Anfang des 20. Jahrhunderts bestand, waren eine Zeit intensiver Diskussionen und Debatten um eine Vielzahl politischer Reformfragen. Auch nachdem die zaristische Regierung Ende 1906 ihre Macht wieder weitgehend stabilisiert hatte, hielten die Diskussionen um den weiteren Weg Russlands an. Sie wurden in der Duma und im neuformiertem Reichsrat, in Broschüren, Pamphleten, Zeitschriften- und Zeitungsartikeln öffentlich ausgetragen. In den meisten dieser Debatten kam es zu ähnlichen Stellvertreterauseinandersetzungen um westliche Erfahrungen, Praktiken und Sichtweisen in zahlreichen Variationen.[13] Wie der Westen gesehen wurde und welche Schlüsse hieraus gezogen wurden, variierte stark, abhängig von der politischen Ausrichtung und Partei des jeweiligen Akteurs, der behandelten Reformfrage und den sich wandelnden Kontexten. Für die überragende Mehrzahl der russischen politischen Akteure auf nationaler Ebene in dieser Zeit – ob liberaler, konservativer oder sozialistischer Prägung – stellten jedoch Westeuropa, Europa oder auch (weitergehend) der Westen eine nicht zu vernachlässigende Größe als Maßstab und Referenz dar. Was bei der Auseinandersetzung um die Deutung der westeuropäischen Gegenwart und Vergangenheit auf dem Spiel stand, war deshalb die Gestaltung der russischen Zukunft.

Als Fedor F. Kokoškin Anfang Januar 1918, in einem Gefängniskrankenhaus liegend, zusammen mit seinem Parteifreund A.I. Šingarev von bolschewistischen Soldaten ermordet wurde, und die Täter ungestraft blieben, war dies auch in dieser Hinsicht ein Fanal: Kokoškins Europa hatte in Russland keine Zukunft mehr.


[1] Essay zur Quelle: Kokoškin, Fedor F., Die Konstitutionell-Demokratische Partei vor dem Gericht der Union des 17. Oktobers.

[2] Šelochaev, V.V., Fedor Fedorovic Kokoškin, in: Meždunarodnyj Istoriceskij Žurnal 8 (März-Apr. 2000). In: <http://history.machaon.ru/all/number_08/istori4e/kokoshkin_print/index.html> (17.08.2010).

[3] Vgl. Ascher, Abraham, The Revolution of 1905, 2 Bde, Stanford 1988/1992; hier insbes. Bd. 1: Russia in Dissaray, S. 226-238 und Bd. 2: Authority Restored, S. 42-54.

[4] Ger´e, V.I., Cego že chocet Konstitucionno-Demokraticeskaja Partija? Ot Sojuza 17 Oktjabrja, Moskva 1906.

[5] Kulikov, S.V., Vladimir Ivanovic Ger´e, in: V.V. Šelochaev (u.a.) (Hgg.): Gosudarstvennyj Sovet Rossijskoj Imperii 1906-1917. Enciklopedija, Moskva 2008, S. 52-54.

[6] „Westeuropa“ (zapadnaja Evropa) ist hier und im Folgenden ein Quellenbegriff. Der bei anderen Autoren der Zeit auch schlicht als „Europa“ (Evropa) bezeichnete Begriff meinte hier die Gesamtheit der westlich Russlands liegenden europäischen Staaten.

[7] Konstitucionno-demokraticeskaja partija (Partija Narodnoj Svobody), Postanovlenija II-go Sezda 5-11 janvarja 1906 g. i Programma, S.-Peterburg 1906.

[8] Otvet na stat´ju g. F. Kokoškina: "Konstitucionno-Demokraticeskaja partija pered sudom Sojuza 17-go Oktjabrja" (Russkija Vedomosti N°N° 44 i 45), Moskva 1906, S. 4f.

[9] V.V. Vodovozov, Vseobšcee izbiratel´noe pravo i primenenie ego k Rossii, in: Pravo 1905, 2432-2445; 2570-2578; 2782-2790, Sp. 2433.

[10] Vgl. hierzu Hildermeier, Manfred, Das Privileg der Rückständigkeit. Anmerkungen zum Wandel einer Interpretationsfigur der neueren russischen Geschichte. In: Historische Zeitschrift 244 (1987), S. 557-603.

[11] Vgl. Wachtel, Andrew, Translation, Imperialism, and National Self-Definition in Russia, in: Gaonkar, Dilip Parameshwar (Hg.), Alternative Modernities, London 2001, S. 58-85, bes. S. 61-72.

[12] Vgl. hierzu Baberowski, Jörg, Autokratie und Justiz. Zum Verhältnis von Rechtsstaatlichkeit und Rückständigkeit im ausgehenden Zarenreich 1864-1914, Frankfurt 1996, v.a. S. 39-60.

[13] Mit der Stellung und dem Inhalt westlicher Referenzen in verschiedenen zentralen Reformdebatten dieser Zeit beschäftigt sich ausführlich eine Dissertation des Autors, die sich derzeit in Vorbereitung befindet.


Literaturhinweise
  • Ascher, Abraham, The Revolution of 1905, 2 Bde, Stanford 1988/1992.
  • Baberowski, Jörg, Autokratie und Justiz. Zum Verhältnis von Rechtsstaatlichkeit und Rückständigkeit im ausgehenden Zarenreich 1864-1914, Frankfurt 1996.
  • Hildermeier, Manfred, Das Privileg der Rückständigkeit. Anmerkungen zum Wandel einer Interpretationsfigur der neueren russischen Geschichte. In: Historische Zeitschrift 244 (1987), S. 557-603.
  • Kulikov, S.V., Vladimir Ivanovic Ger´e, in: V.V. Šelochaev (u.a.) (Hgg.), Gosudarstvennyj Sovet Rossijskoj Imperii 1906-1917. Enciklopedija, Moskva 2008, S. 52-54.
  • Šelochaev, V.V., Fedor Fedorovic Kokoškin, in: Meždunarodnyj Istoriceskij Žurnal 8 (März-Apr. 2000). In: <http://history.machaon.ru/all/number_08/istori4e/kokoshkin_print/index.html> (18.08.2010).

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Deutsche Fassung[2]

„Was will denn die Konstitutionell-Demokratische Partei?“ – dies ist der Titel einer unlängst erschienenen fünf-Kopeken-Broschüre, auf deren Einband gedruckt steht: „Von der Union des 17. Oktobers“. [...]

Die Anklageschrift beginnt mit eben jenen Vorwürfen des „Doktrinarismus“, wobei das Material für sie aus der Eröffnungsrede P.N. Miljukovs[3] auf dem Gründungsparteitag gezogen wird. [...] der Autor ertappt P.N. Miljukov v.a. bei dem „äußerst wichtigen Eingeständnis“, dass das Programm der konstitutionell-demokratischen Partei unzweifelhaft das linkeste von allen sei, welche von analogen politischen Gruppen Westeuropas vorgewiesen wird“, und, ruft, nachdem er solcherart den Beschuldigten bei seinen eigenen Worten ertappt hat, pathetisch aus: „Und so soll Russland, das der eigenen politischen Entwicklung nach weit hinter Europa zurückgeblieben ist, das dem Einfall der asiatischen Nomaden zu jener Zeit ausgesetzt war, als im Westen der Anfang konstitutioneller Institutionen gelegt wurde, soll Russland so mit der Einführung einer solchen Verfassung beglückt werden, wie es sie auch in Europa dem Grade ihres Radikalismus nach nicht gegeben hat!“. Bemerken wir als Erstes, dass es für jeden, der auch nur etwas mit der Staatsordnung und den politischen Parteien Westeuropas bekannt ist, klar ist, dass das oben genannte „Eingeständnis“ P.N. Miljukovs sich auf das soziale Programm der Partei der Volksfreiheit bezieht, und nicht auf die von ihr geplante Verfassung. Tatsächlich stehen die konstitutionellen Demokraten bezüglich der sozialen Reformen in Vielem weiter links, als die radikalen Parteien Westeuropas, was ja auch in einem Land nicht anders sein kann, wo noch vor 45 Jahren den Bauern Ländereien mittels Enteignung von den Grundbesitzern zugeteilt worden sind, und wo die soziale Frage in ihrem vollen Umfang gleichzeitig mit dem Übergang vom absolutistischen Regime zur politischen Freiheit aufgekommen ist. Doch was das eigentlich konstitutionelle Programm der Partei angeht, fordert sie natürlich nicht nur nichts, was es „auch in Europa nicht gegeben hat“, sondern steht sogar rechter als viele der europäischen Verfassungen (zum Beispiel die Schweizer) und ist nur in einigen Punkten (namentlich bezüglich des allgemeinen Wahlrechts) im Vergleich mit der Verfassung etwa der Ungarn voraus, die nicht nur „dem Einfall der asiatischen Nomaden ausgesetzt waren“, sondern auch selbst in Europa in der Eigenschaft solcher Nomaden erschienen sind. Gleichwohl erschreckt das politische Programm der konstitutionell-demokratischen Partei den Verfasser der Broschüre als „letztes Wort des politischen Radikalismus“. [...] Ihn bringt in tiefe Empörung, dass in einer der Adressen der Partei an die Wähler die Notwendigkeit der Monarchie durch Traditionen, Gefühle und Sympathien der Mehrheit der Bevölkerung motiviert wird. Ja, durch was anderes wird die Frage nach Monarchie oder Republik denn überall entschieden, wenn nicht durch diese Traditionen und Sympathien? Wenn man auf einem anderen Standpunkt stünde und diese oder jene Regierungsform als absolut beste Regierungsform ansähe, so müsste doch mit den Moskovskie Vedomosti die Errichtung der Monarchie in der Schweiz und in den Vereinigten Staaten gefordert werden. Für den Autor stellt es sich, weiterhin, auch als empörend dar, dass, nach dem Verständnis der konstitutionell-demokratischen Partei, das Prinzip der konstitutionellen Monarchie „nur ein Mittel ist, aber kein Ziel“. [...] Es ist unzweifelhaft, dass jede Regierungsform ein Mittel für jenes Ziel ist, das man Volkswohl nennt. Selbst Ludwig XIV. hat seine Macht als Mittel für das höchste Ziel anerkannt. Wer annimmt, dass die Monarchie sich selbst als Ziel dienen kann, findet eine Verwirklichung seines Ideals allenfalls in der Epoche patrimonialer Monarchie oder in den schlimmsten Zeiten altgriechischer oder italienischer Despotien.

Doch als Hauptbeweis für den verdeckten Republikanismus der Partei der Volksfreiheit sieht ihr Ankläger das „Bestreben, Russland um jeden Preis eine verfassungsgebende Versammlung aufzuzwängen“. Seiner Meinung nach können solches nur republikanische Parteien fordern, da die „Bedingung der zaristischen oder überhaupt monarchistischen Macht die Kontinuität der Macht ist. Eine verfassungsgebende Versammlung ist doch die Verkündung des Prinzips der Macht des Volkes, die mit einer beständigen Monarchie unvereinbar ist. [...]“ Offensichtlich stellt sich die verfassungsgebende Versammlung der Phantasie des Autors als Art von Institution dar, die mit unbegrenzter Machtfülle ausgestattet ist und neben sich keinerlei andere Macht im Lande duldet. Nach seiner Vorstellung schafft der Fakt selbst einer Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung die Monarchie ab, die danach nur durch diese Versammlung wieder eingerichtet werden kann. Wir können den Verfasser der Broschüre beruhigen. Seine Ängste sind nur die Frucht einer erschreckten Phantasie. Wenn er die Mühe auf sich genommen hätte, sich mit der Geschichte der verfassungsgebenden Versammlungen im Westen bekannt zu machen, so hätte er sich überzeugt, dass niemals auch nur eine von ihnen eine Monarchie gestürzt oder die Kontinuität der monarchistischen Gewalt zerstört hat, und wenn dies auch irgendwelche Repräsentativversammlungen gemacht haben, so gerade keine verfassungsgebende, sondern gewöhnliche gesetzgebende. In der Geschichte kann man zwei Arten von verfassungsgebender Versammlung aufzeigen. Einige von ihnen wurden nach einem vollzogenen Staatsstreich durch eine provisorische revolutionäre Regierung einberufen, wie zum Beispiel die französische Versammlung von 1848. Solche Versammlungen waren tatsächlich mit allen Machtbefugnissen ausgestattete Lenker der Geschicke des Staates, doch überhaupt nicht deshalb, weil sie „verfassungsgebend“ hießen, sondern wegen des einfachen Grundes, dass im Moment ihrer Einberufung keinerlei andere gesetzgebende Macht im Land existierte. In einer solchen Lage befanden sich sowohl viele gesetzgebende Versammlungen, als auch sogar unsere Landesversammlungen in der Zeit der Wirren. Auf der anderen Seite kennen wir verfassungsgebende Versammlungen, die durch eine bestehende gesetzliche Regierung einberufen und durch sie wieder aufgelöst werden. Solcherart waren die verfassungsgebenden Versammlungen in Österreich und Preußen 1848 und der Gründungsreichstag des Norddeutschen Bundes von 1867, der die jetzige Verfassung des Deutschen Reiches errichtet hat. Denselben Charakter haben auch Spezialversammlungen, die, nach der Verfassung einiger Monarchien, zum Beispiel Griechenlands, Serbiens, Bulgariens, bei jeder Überarbeitung der Grundgesetze des Landes einberufen werden. Eine verfassungsgebende Versammlung des ersten Typs kann nur ein solches politisches Programm vorsehen, das als Mittel des Übergangs von der alten Ordnung zur neuen einen gewaltsamen Umsturz anerkennt. Doch wie es, zweifellos, dem Verfasser der erörterten Broschüre gut bekannt ist, ist die konstitutionell-demokratische Partei eine Partei des friedlichen Kampfes und deshalb kann sie, wenn sie sich für eine verfassungsgebende Versammlung ausspricht, nur eine Versammlung des zweiten Typs im Blick haben, was auch ausdrücklich auf der Petersburger Versammlung der Delegierten der Partei klargestellt worden ist. [...]

[N° 45, S. 4] [...] In der Broschüre der Union des 17. Oktobers gibt es noch eine äußerst seltsame Bemerkung bezüglich des politischen Programmes der konstitutionell-demokratischen Partei. Der Autor wirft diese Bemerkung beiläufig hin, doch charakterisiert sie in solchem Maße klar das Niveau seiner politischen Kenntnisse, dass auf sie eingegangen werden muss. Auf der 3. Seite wird gesagt, dass die Regierungsmacht, die im Programm der konstitutionell-demokratischen Partei angeblich etwas „Namenloses“ darstelle, durch eben jenes Programm zur völligen Ohnmacht verurteilt sei, „da Steuern, Zölle usw. nicht länger als für ein Jahr festgesetzt werden sollen“. Hieraus folgt, dass in einem schönen Jahr der Russische Staat sich als völlig wehrlos erweisen könnte.“ Wenn man diese Zeilen liest, weiß man nicht, worüber man sich [mehr] wundern soll: Darüber, dass der Autor so schlecht das Programm der konstitutionell-demokratischen Partei gelesen hat, oder darüber, dass er die westeuropäischen Verfassungen überhaupt nicht gelesen hat. Übrigens ist es noch nicht einmal nötig, die Verfassungen selbst zu studieren; es ist ausreichend, in ein beliebiges Staatsrechtslehrbuch oder sogar in eine der populären Broschüren der Ausgabe Donskaja Rec zu schauen, um zu erfahren, das in vielen Staaten, wie z.B. in Frankreich, in Belgien, die Steuern und Zölle für ein Jahr festgesetzt werden und sogar – was vermutlich den Autor in noch größeren Schrecken versetzt – jährlich der zahlenmäßige Bestand der Armee zur Abstimmung gestellt wird. Doch gibt es vollen Grund, zu behaupten, dass die Gefahr „sich als wehrlos zu erweisen“ diesen Staaten keinesfalls mehr droht, als unserem Vaterland in seiner jetzigen Lage. [...]

Eine andere Bemerkung [des Autors der Broschüre] betrifft die Arbeiterfrage und läuft darauf hinaus, dass die konstitutionell-demokratische Partei, wenn sie von einer staatlichen Versicherung der Arbeiter spricht, deren Beteiligung an den Beiträgen nicht erwähnt. Der Autor verweist hierbei auf das Beispiel Deutschlands und vergisst dabei offensichtlich den Unterschied bezüglich der Höhe des Arbeitslohnes des russischen und deutschen Arbeiters.

Doch die erstaunlichste Anschuldigung wird für den Schluss aufgehoben. Die Partei der Volksfreiheit wird nicht mehr und nicht weniger als darin beschuldigt, dass sie organisiert ist und dass sie beabsichtigt, ihre Kandidaten bei den Wahlen zur Staatsduma aufzustellen. Wie unglaublich es auch sein mag, wird doch eine solche Anschuldigung auf drei Seiten der Broschüre entwickelt. [...] [5] [...] Der Verfasser der Broschüre sieht es als eine schädliche und verdächtige Besonderheit der konstitutionell-demokratischen Partei an, dass sie vorhat, ihre Organisation auch nach den Wahlen beizubehalten. Ich weiß nicht, wie die Union des 17. Oktobers in diesem Falle vorhat, zu verfahren; vielleicht erschöpft sich ihre ganze Aufgabe darin, bestimme Kandidaten in die unmittelbar bevorstehende Duma einzubringen. Doch kenne ich auch nicht eine große organisierte politische Partei in Westeuropa, die sich nur für eine Wahlperiode organisieren und nach Beendigung der Wahlen rasch auseinanderfallen würde. Parteien existieren dort Jahrzehnte, und in England sogar Jahrhunderte. Überhaupt schlägt, wie ich es bereits gesagt habe, die Union des 17. Oktobers bei der Analyse der Organisation und der Wahltaktik der Partei der Volksfreiheit über das Ziel hinaus. Sie strebt dahin, den Schaden organisierter Parteien überhaupt zu zeigen, und müsste, wenn sie dieser Ansicht konsequent folgt, als erstes sich selbst auflösen. [...]



[1] Kokoškin, Fedor F., Konstitucionno-Demokraticeskaja partija pred sudom Sojuza 17-go Oktjabrja [= Die Konstitutionell-Demokratische Partei vor dem Gericht der Union des 17. Oktobers], in: Russkija Vedomosti, Nr. 44 (15.2.1906), S. 5 und 45 (16.2.1906), S. 4f.

[2] Übersetzung von Benjamin Beuerle.

[3] Pavel N. Miljukov war einer der Gründer und herausragenden Vertreter der Partei der Konstitutionellen Demokraten. Seit Frühjahr 1907 leitete er ihr Zentralkommitee, im selben Jahr übernahm er den Vorsitz ihrer Fraktion in der Duma. Zwischen März und Mai 1917 fungierte er als Außenminister der Provisorischen Regierung.


Für das Themenportal verfasst von

Benjamin Beuerle

( 2010 )
Zitation
Benjamin Beuerle, Kokoškins Europa, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2010, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1529>.
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