Jan Palachs Totenmaske. Das menschliche Antlitz des Sozialismus[1]
Von Sabine Stach
Als sich im vergangenen Jahr die Selbstverbrennung Jan Palachs zum 40. Mal jährte, wurde – wie bei Jubiläen üblich – Rückschau gehalten und nach dem „Sinn“ seiner Tat gefragt. Fragen wurden laut, ob sein „Opfer“ nicht letztlich vergebens gewesen sei.[2] Er hatte sein Leben eingesetzt, um die Bevölkerung „wachzurütteln“, um ein Zeichen zu setzen gegen die von ihm empfundene beginnende Resignation nach der Niederschlagung des Prager Frühlings. Tatsächlich erschütterte sein Tod im Januar 1969 die ganze Nation, Tausende versammelten sich ihm zu Ehren und ließen sein Begräbnis zu einer Massendemonstration werden. Dennoch wurden die Forderungen Palachs nicht erfüllt. Die meisten Menschen gingen wieder zum Alltag über, die staatlich verordnete „Normalisierung“ begann sich auch im Privaten rasch durchzusetzen.
Der Name „Palach“ geriet zwar keineswegs in Vergessenheit, ein offizielles Gedenken fand jedoch nicht statt. Vielmehr wurde seine Tat zu einem für Staat und Partei unbequemen 'lieu de mémoire', der auch über dissidente Kreise hinaus Identifikationspotential für die bot, die große Hoffnungen in den Reformprozess gesetzt hatten. Erst nach dem politischen Umbruch 1989 fand er Eingang in die staatliche Erinnerungskultur, die hier anknüpfen konnte. Eine geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema entwickelte sich erst in den letzten Jahren. So versammelt das anlässlich des Jahrestages 2009 herausgegebene Kompendium „Jan Palach `69“ neben neuesten Forschungen bisher unveröffentlichte Dokumente sowie zahlreiche Reflexionen namhafter tschechischer Intellektueller. Ganz im Sinne der Debatte um den Sinn der Tat stellen sich die Herausgeber hinter die These des Prager Philosophen Ladislav Hejdánek, nach der Palachs Tat letztlich folgenlos geblieben sei, weil die Zeitgenossen ihrer „geschichtlichen Verantwortung“ nicht gerecht geworden seien. So liege in Palachs Tat eine moralische Verpflichtung, die bis heute zu kritischem Engagement, zum Eingreifen in den Lauf der Geschichte, aufrufe.[3]
Es ist jedoch nicht allein der Name „Palach“, der eine solche ethische Forderung transportiert, es sind vor allem die Bilder von Jan Palachs Gesicht, die heute fest zum tschechischen Bilderbestand des 20. Jahrhunderts gehören und den Erinnerungsort „Palach“ maßgeblich prägen – allen voran der Abdruck seines Gesichts: die Totenmaske. Sie wurde zur Vorlage für mehrere Denkmäler und fungiert bis heute als „mächtiger moralischer Spiegel“[4].
Die Selbstverbrennung
Knapp fünf Monate nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Armeen in der Tschechoslowakei begab sich Jan Palach, Geschichtsstudent an der Prager Karlsuniversität, am 16. Januar 1969 auf den Wenzelsplatz im Herzen der Stadt. Er übergoss sich mit Benzin und entzündete sich selbst, um seinem Protest gegen die Okkupation und deren Folgen auf drastische Weise Ausdruck zu verleihen, um die Menschen zu mahnen, nicht im Protest nachzulassen. Für seine Tat wählte er einen der geschichtsträchtigsten Orte Prags, den Wenzelsplatz, aus. Er entzündete sich zwischen dem Nationalmuseum und der Statue des Nationalheiligen Wenzel. Die Interpretation überließ er dabei keinem Zufall: Am Ort des Geschehens hinterließ er einen Brief, in dem er die Aufhebung der wieder eingeführten Zensur sowie die Einstellung des Propagandablattes Zprávy forderte und zum Generalstreik aufrief. Für den Fall, dass diese Forderungen nicht erfüllt würden, kündigte er die Verbrennung weiterer Freiwilliger an. Am 19. Januar 1969 erlag Jan Palach seinen schweren Verletzungen.
Wenngleich die Existenz einer ganzen Gruppe hinter Palach heute von Historikern bezweifelt wird, hatte der Protestakt doch weitreichende Folgen. Eine ganze Reihe von Nachfolgern im In- und Ausland entzündete sich in den folgenden Wochen selbst, unter ihnen zwei weitere Männer in der Tschechoslowakei: der Student Jan Zajíc sowie der Arbeiter und Familienvater Evžen Plocek. Beide ließen keinen Zweifel an ihrer politischen Motivation.
Weniger drastisch, aber umso zahlreicher schlossen sich viele Studenten dem Protest Palachs an: Bereits am Tag nach der Entzündung trat eine Gruppe junger Menschen, unter denen sich auch Jan Zajíc befand, in den Hungerstreik. Als Palachs Tod bekannt wurde, benannten demonstrierende Studenten den „Platz der roten Armee“ vor der Philosophischen Fakultät in „Jan-Palach-Platz“ um, indem sie die Straßenschilder entsprechend austauschten. Dies wurde freilich recht bald durch die Staatsführung rückgängig gemacht. Gleichzeitig versammelten sich Tausende Prager am Ort der Verbrennung, um Blumen niederzulegen und Kerzen zu entzünden. Berichte über die landesweiten Schweigeminuten, die Aufbahrung des Leichnams in der Universität, die Appelle führender Intellektueller, Jan Palach nicht nachzufolgen, und schließlich über das Begräbnis am 24. Januar 1969, an dem zehntausende Menschen teilnahmen, zeugen von der hohen Emotionalität, die der Tod des jungen Mannes hervorzurufen vermochte.
Die Totenmaske
In der Nacht, nachdem sein Tod publik geworden war, begab sich der Prager Bildhauer Olbram Zoubek[5] in das Gerichtsmedizinische Institut, wo Palachs Körper, bedeckt mit einer Staatsflagge, aufgebahrt war, um eine Totenmaske abzunehmen. Zutritt verschafft hatte ihm sein ehemaliger Mitschüler, der Arzt und Spezialist für Brandverletzungen, Vladimír Matejícek. Zurück in seinem Atelier fertigte der Künstler sofort fünf Gipspositive an. Eines davon befestigte er auf einer Holztafel und übergab es noch in derselben Nacht den auf dem Wenzelsplatz Mahnwache haltenden Studenten. Diese brachten die Maske am Sockel des Nationalmuseums an, der bereits über und über mit Blumen, Kerzen und Flaggen geschmückt war.[6] Eine zeitgenössische Fotografie von Dagmar Hochová zeigt die strahlend weiße Maske auf schwarzem Grund, die den Platz still und erhaben von seinem höchsten Punkt aus zu überblicken scheint. Sie ist umgeben von den am Sockel angebrachten „Hladovka“-Plakaten, die auf den Hungerstreik hinweisen. Eine weitere Aufschrift verkündet: „Besser aufrecht sterben, als auf Knien leben“.
Einige Tage später, als in der Kleinseitner Thomaskirche eine Gedenkmesse für Jan Palach abgehalten wurde, brachte der Theologe Tomáš Halík, damals Student und Mitorganisator der Messe, die Maske – verborgen unter seinem Mantel – in die Kirche. Von dort ging ihre heimliche Reise wieder zurück auf die Altstädter Moldauseite: Im Treppenhaus der Philosophischen Fakultät ersetzten die Studenten um Halík die Leninbüste durch Palachs Gesicht.[7]
Die Maske, von der Zoubek noch vier weitere Abgüsse (u. a. für Jan Palachs Mutter) angefertigt hatte, befindet sich heute in der anthropologischen Abteilung des Nationalmuseums, also nur wenige Meter vom Tatort und ihrem ersten Bestimmungsort entfernt. Sie diente als Vorlage für das Bronzedenkmal, das 1990 an der Philosophischen Fakultät am nun offiziell nach Jan Palach benannten Platz angebracht wurde. Eine Nachbildung der Totenmaske befindet sich heute ebenfalls an der Schule in Palachs Geburtsort Všetaty.
Was aber hatte dazu geführt, dass dem bis zum 16. Januar 1969 völlig unbekannten Studenten eine Ehre zuteil wurde, die sonst Staatsmännern und bedeutenden Persönlichkeiten vorbehalten bleibt? Totenmasken gehören zu den frühesten Zeugnissen in fast allen Kulturen. Sie hatten die Funktion, das Andenken des Verstorbenen zu ehren, seine Züge zu bewahren, aber auch Vorlagen für spätere Denkmäler zu schaffen. Ein wahrer Totenmaskenkult setzte im 19. Jahrhundert in bürgerlichen Wohnzimmern ein. Kopien von Masken großer Dichter und Denker sollten die geistige Verbundenheit mit den Dargestellten repräsentieren. Wenngleich nicht im privaten Raum ausgestellt und nicht bruchlos als Vorbild tauglich, diente auch Palachs Totenmaske einerseits einer solchen Präsentation von Verbundenheit, andererseits der Einbindung in das tschechische Heldenpantheon.
Jan Palachs Tat – ein Symbol, das auf fruchtbaren Boden fiel
Worin aber lag dieses „Heldenpotential“ begründet, das Palach zu einem nationalen „Märtyrer“ werden ließ? Eine Erklärung findet sich in Ladislav Holys Studie über die tschechische nationale Identität: Die Stärke eines Symbols hängt in erster Linie davon ab, wie es zu anderen Symbolen desselben symbolischen Zusammenhanges passt. Um die symbolische Bedeutung zu erahnen, die Jan Palachs Tod hatte und so die assoziative Wirkung seines Gesichtsabdruckes zu verstehen, sind daher verschiedene Aspekte in den Blick zu nehmen: die Symbolik des Ortes, die nationalen Konnotationen seiner Tat, aber auch das Bildgedächtnis der Zeitgenossen sowie die visuelle Kultur nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen.
Zunächst einmal war die Selbstverbrennung Palachs keineswegs ein spontaner Protestakt an einem beliebigen Ort gewesen. Für seine Tat hatte er nicht nur einen lebhaften, prominenten Platz inmitten Prags ausgewählt, sondern auch einen, der in der tschechischen Geschichte immer wieder Zeuge bedeutender Ereignisse geworden war. Auf dem Wenzelsplatz hatten bereits im 19. Jahrhundert zahlreiche Demonstrationen der tschechischen Nationalbewegung stattgefunden, hier wurden das Nationalmuseum und die Statue des böhmischen Landespatron Wenzel errichtet und nicht zuletzt rollten hier die sowjetischen Panzer in der Nacht zum 21. August 1968 ein. Mit der Wahl des Ortes stellte Palach selbst eine symbolische Beziehung einerseits zum tschechischen Patriotismus im Allgemeinen, andererseits zum Nationalheiligen Wenzel her. So liegt eine mögliche Lesart der Verbrennung in der Aktualisierung der Wenzelslegende: Wie der zum Symbol für die böhmische Staatlichkeit gewordene Märtyrer im 10. Jahrhundert von seinem Bruder ermordet worden war, fühlten sich auch die Tschechoslowaken von ihrem sowjetischen „Brudervolk“ hinterrücks überfallen und ihrer Souveränität beraubt.
Die Todesart, die der Student gewählt hatte, lag hingegen jenseits des tschechischen Erfahrungshorizontes. Wenngleich angenommen werden kann, dass wohl auch viele Tschechen und Slowaken von den Selbstverbrennungen vietnamesischer Mönche gehört hatten oder sogar das 1963 zum World Press Photo ausgezeichnete Foto von Malcolm Browne kannten, das die Selbstverbrennung eines buddhistischen Mönches in Saigon festhält, entzog sich seine Tat allen gewohnten Erklärungsmustern. In seinem Essay „Der Sinn des Opfers“ schrieb Jindrich Chalupecký 1969: „Etwas zutiefst Beunruhigendes liegt in Palachs Selbstverbrennung. Sie entzieht sich unserer Art zu Denken und zu Handeln“[8]. Diesen Gedanken führte er weiter, um die rituellen Muster des Palach-Gedenkens der Tage bis zum Begräbnis fassbar zu machen und zu beschreiben, in welcher Weise die Menschen von der Radikalität der Tat berührt wurden.
Ganz anders lagen freilich die Intentionen des Regimes, wenn es auf das Nicht-Tschechische, Fremde der Tat verwies. In einer Erklärung der Slowakischen Regierung[9] ist die Rede von einer „tragische[n] Tat, deren Wesen – wie unsere ganze Gesellschaft fühlt – unserer Lebensphilosophie, den ethischen Normen, der Lebenseinstellung unserer Bürger entschieden widerspricht“[10]. Ihr lag daran, jede symbolische Anknüpfung zu bremsen, um die Schöpfung eines neuen Märtyrers zu verhindern. Die Diffamierung der Tat als dem symbolischen und moralischen Wertesystem der eigenen Nation völlig fremd blieb jedoch nichts als ein hilfloser Versuch, auf die beginnende Mythisierung zu reagieren und macht die Bedeutung, die in der Eingliederung in ein solches nationales Narrativ liegt, nur umso augenfälliger.
So ist es schließlich der – vielleicht etwas zu eingängige und plakative, aber bereits bei Palachs Begräbnis explizit artikulierte – Bezug auf die Verbrennung von Jan Hus, der genau das Gegenteil bewirken konnte, nämlich die Tat Palachs im nationalen Geschichtsbild zu verankern und somit seine Aufnahme in das tschechische Heldenpantheon zu legitimieren. Hus’ Worte „Pravda vítezí“ („Die Wahrheit siegt“), die auch Palachs Todesanzeige schmückten und bis heute Wahlspruch des tschechischen Präsidenten sind, rücken die Selbstverbrennung in das Licht des als Ketzer verbrannten Theologen.[11] Dessen Kampf für die Wahrheit war zum Ausgangspunkt der hussitischen Periode geworden, die der Nationalhistoriker František Palacký als die bedeutendste Phase der tschechischen Geschichte interpretierte. Wenngleich sich der Märtyrer freilich nicht selbst verbrannt hatte, waren die Anknüpfungspunkte doch vielfältig: Wie der heilige Wenzel Opfer eines Verrats geworden war, war es auch Hus, als ihm das versprochene freie Geleit nach Konstanz verwehrt wurde. Ebenso verraten fühlten sich die tschechoslowakischen Anhänger des Prager Frühlings. Jan Hus steht als Symbol für den Einsatz des eigenen Lebens für die Wahrheit. Hier schließt die Interpretation von Palachs Tat an: Beide „Jans“ wagten es, sich bis zur letzten Konsequenz für ihre Überzeugungen einzusetzen.
Palach knüpfte mit seiner Tat an nationale Narrative, wie die des Heiligen Wenzel oder Jan Hus, an. Dankbar wurden diese Aspekte von Autoren und Künstlern aber auch den zahllosen trauernden Menschen aufgegriffen und rückten den vormals gänzlich unbekannten jungen Mann in eine Reihe mit den größten tschechischen Helden. Die Tat, deren Symbol die Totenmaske geworden ist, ließ sich auf diese Weise in einen Zusammenhang mit anderen Ecksteinen der tschechischen Nationalgeschichte stellen. So passte sich die von Palach selbstgewählte Metapher des Lichtes, das er als „Fackel Nr. 1“ entzündete, scheinbar bruchlos in die tschechische Geschichtsschreibung ein und schien die Zeit des „Temno“[12] mit der Gegenwart zu synchronisieren. Wohl in diesem Sinne hieß es auf dem Banner eines Studenten im Trauerzug zu Palachs Begräbnis: „Mit zunehmender Dunkelheit erstarkt das Licht der Fackel“.
Jan Palachs Gesicht – Archetyp des jungen Märtyrers
Neben der Totenmaske sind es im Wesentlichen drei Fotos, die die Erinnerung an Jan Palach bis heute bestimmen und seit 1969 immer wieder reproduziert wurden. Sie alle zeigen einen jungen Mann mit nachdenklichem Blick. Auf einem der Schwarz-Weiß-Bilder ist er fast noch als Kind zu sehen. Ein Lächeln umspielt seinen Mund. Es ist das Bild, das direkt nach der Tat als erstes in der Presse erschien. Das zweite – ebenfalls ein Passbild, hier wohl aus seinem Studentenausweis – ist das Portrait eines ernst in die Ferne blickenden, sensiblen Mannes mit weichen Gesichtszügen. Wer möchte, kann viel in diesem Gesichtsausdruck lesen. Anders das letzte der bekanntesten Bilder. Publiziert in verschiedensten Ausschnitten zeigt es Palach stehend dem Betrachter zugewandt. Seinen rechten Mundwinkel zum Ansatz eines Lächelns hochgezogen blickt er direkt in die Kamera, scheint in die Sonne zu blinzeln und strahlt eine Jugendlichkeit aus, die besagt: Ich habe noch viel vor in meinem Leben.
Dieses Antlitz war freilich grundverschieden von dem, was nach der Verbrennung von Palachs Gesicht übriggeblieben war. Zoubek selbst beschreibt seine Erschütterung über den durch die Brandverletzungen entstellten Körper: „...sein Gesicht war ein großes Hämatom. Deshalb lässt sich in der Totenmaske keine Ähnlichkeit suchen, vielmehr handelt es sich um ein Dokument“[13]. Dennoch gleichen die Gesichtszüge der Maske denen auf den Portraits. Die Schriftstellerin Libuše Moníková, die in ihren Werken immer wieder Palach als herausragende tragische Gestalt der tschechischen Geschichte thematisiert und sogar den Autor der Totenmaske in ihrem Roman „Die Fassade“ als „Olbram Maltzahn“ auftreten lässt, beschreibt die Maske als Kompromiss zwischen dem realen Gesicht und „dem letzten Photo, das die Mutter gebracht hatte, noch ohne die Erfahrung der Okkupation in den Augen“[14].
In jedem Falle schuf der Künstler ein idealisiertes Antlitz, das – ebenso wie die publizierten Fotos – geeignet war, das Bild eines „unschuldigen Jungen“, der zum Opfer der Verhältnisse geworden war, zu generieren. Der Literaturwissenschaftler Martin C. Putna ordnet ihn dem „Archtetypen des jungen Märtyrers“ unter und will gar Ähnlichkeiten in den Gesichtszügen von Jan Palach und dem „antifaschistischen“ Helden Julius Fucík erkennen, der als Prototyp des jungen Märtyrers in der Tschechoslowakei gelten kann. Im Gegensatz zu Jan Palach zählte dieser zu den „offiziellen“ sozialistischen Helden, die als Propagandafiguren des Staates fungierten. Einer solchen Vereinnahmung entzog sich Palach durch seine Tat, dennoch eint sie das Narrativ der Jugendlichkeit, das maßgeblicher Teil ihrer Mythisierung ist. Analog zur Behauptung des Publizisten Ferdinand Peroutka, der in seiner Dekonstruktion des Fucík-Bildes davon ausgeht, dass der Märtyrer aus einer Reihe möglicher Helden eben wegen seiner Schönheit ausgewählt wurde,[15] lässt sich auch für Palach konstatieren, dass sein Bild exemplarisch für die Selbstverbrennungen nach 1968 steht. Die Gesichter von Jan Zajíc, Evžen Plocek aber auch des Polen Ryszard Siwiec, der sich bereits 1968 in Warschau selbst entzündet hatte, sind hingegen weit weniger präsent. Letztlich ist es nur das Porträt Palachs, das sich in das visuelle Gedächtnis eingeschrieben hat und ihn als säkularen „Märtyrer“ kennzeichnet.[16]
Die Jugend, die sich in Schönheit manifestiert, ist verbunden mit der Vorstellung von Reinheit und Unschuld, die das Opfer umso schwerwiegender und bedeutender erscheinen lässt. Verstärkt wird diese Vorstellung von der viel beschriebenen Introvertiertheit des Zwanzigjährigen, die mit der Stille korrespondiert, die das Gedenken an den Studenten sowohl auf dem Wenzelsplatz, als auch während der Schweigeminuten und zur Beerdigung Palachs prägte.[17]
Jan-Palach-Gedenken: Sprachlosigkeit und Ohnmacht
Wenngleich die Trauer um Jan Palach, der sich Tausende anschlossen, zu einer Manifestation gegen den Einmarsch wurde und als solche auch vom Staatssicherheitsdienst genau dokumentiert und überwacht wurde, unterschied sich diese Art des Protestes doch fundamental von dem, der seit August 1968 in den Straßen des gesamten Landes zu beobachten war. Bilder der Zeit zeigen Stadtbewohner, die mit Soldaten der Warschauer-Pakt-Armeen diskutieren, sich den Panzern in den Weg stellen, sie bemalen und „schmücken“. Eine teils derbe, teils ironische Protestkultur hatte sich auf Plakaten und Graffiti entwickelt, die überall im öffentlichen Raum auftauchten und auf Tschechisch aber auch Russisch die Besatzer in provokanten Worten zum Abziehen aufforderten.
Die tiefe Ernsthaftigkeit der Totenmaske nimmt sich inmitten dieser Bildkultur fast seltsam aus. Als wäre sie das zurückgebliebene Requisit eines Pantomime-Darstellers, steht sie für die Sprachlosigkeit und Stille, die der Tat Palachs folgten. Sie wurde zum übergreifenden Symbol für die Ohnmacht, die die Befürworter des Prager Frühlings nach den Augustereignissen empfanden und für die Unmöglichkeit der verbalen Artikulation angesichts eines derart drastischen symbolischen Aktes. Gleichzeitig fungierte sie als sakrales Objekt der „heiligen Zeit“, die zwischen Verbrennung und Begräbnis lag. So beschreibt Chalupecký diese von Schweigen geprägten Tage als Teil eines archaischen Rituals, das der Opferung des „unschuldigen Jungen“ folgte.
Damit reiht sich die Totenmaske – aus Gips und aus Bronze - unter die Orte, die dem Gedenken an Jan Palach gewidmet sind und waren. Zumindest bei den Prager Denkmälern und Gedenksteinen handelt es sich fast ausschließlich um eher unscheinbare Orte und Werke, die große Gesten scheuen. So entschied sich Olbram Zoubek, der Urheber der Totenmaske, der auch das Grab Palachs mit einem Kunstwerk schmücken sollte, gegen seine ursprüngliche Idee einer stehenden Skulptur und fertigte eine bronzene Grabplatte an, auf der in Lebensgröße das Relief eines menschlichen Körpers bzw. dessen Reste erkennbar sind – durchzogen von Furchen, Rissen, Brandnarben.[18] Ebenso erinnert seit dem 16. Januar 2000 etwa an der Stelle, an der Palach sich selbst entzündete, ein eher unauffälliges Denkmal an ihn. Entworfen von Barbora Veselá, Cestmír Houska und Jirí Veselý ist ein Kreuz in den Boden eingelassen. Sanft wölbt es sich über zwei kleine Hügel im gepflasterten Boden, die an frische Gräber aber auch die letzten Ausläufer großer Wellen erinnern. Das Kreuz trägt lediglich die Namen und Lebensdaten Jan Palachs und Jan Zajíc`. In der Größe einer menschlichen Figur, den rechten Rand durch eine offene, flammenartige Struktur aufgebrochen, ist es erst zu sehen, wenn man sich bereits in unmittelbarer Nähe befindet. Es markiert den Punkt in der Nähe des Museums, an dem sich Palach in Brand gesteckt haben soll, sowie die Richtung, in die er dann als „lebendige Fackel“ lief. Auch die anderen Prager Erinnerungsorte entbehren jedes Pathos. Etwas unterhalb des genannten Denkmales befindet sich auf dem Wenzelsplatz ein weiterer Gedenkstein für Jan Palach und Jan Zajíc, der die Gesichter der beiden jungen Männer trägt und dem Gedächtnis aller Opfer des Kommunismus gewidmet ist.
Die Orte des Palach-Gedenkens damals wie heute haben eines gemeinsam: Sie verweisen auf die zeichenhafte Tat, ohne selbst deren große Geste zu zitieren. Diese Unscheinbarkeit der Denkmäler illustriert, was der Prager Essayist Václav Cílek mit seiner Interpretation Palachs als „öffentlichem Privatissimum“ der Tschechen meint. Die Erinnerung an seine Selbstopferung wecke bei Palachs Zeitgenossen bis heute schmerzhafte und gleichzeitig quasi-religiöse Gefühle, die die Scheu erklären, darüber zu sprechen.[19] Symbolische Äußerungen stellen somit ein Mittel zur Kompensation der fehlenden Worte dar.
Aktives Gedenken – Erinnern und Handeln
Einerseits kann Palachs „menschliches Antlitz“ als die Verdichtung des Gedenkens an seine Tat gelten, die sich als unpathetische, stille Geste den wortreichen Protesten gegen die Okkupation an die Seite stellt. Andererseits lag in ihm eine Mahnung. Mit der Totenmaske schuf Zoubek einen „moralischen Spiegel“, der dessen Betrachtern die eigene Verantwortung vorhielt, die Palachs Selbstopferung einforderte. In seinem Abschiedsbrief, der noch am Abend der Tat an den Hauswänden Prags plakatiert wurde, hatte der Student seine Motivation mit den Worten geschildert: „In Anbetracht dessen, daß sich unsere Völker am Rande der totalen Hoffnungslosigkeit befinden, haben wir beschlossen, […] das Volk dieses Landes […] wachzurütteln“. Seine – gemessen an der Größe der Tat verhältnismäßig bescheidenen – Forderungen richteten sich nicht nur an das Regime, vielmehr verlangte er von allen Menschen, im inneren Widerstand gegen die Besatzer nicht nachzulassen und sich für die Errungenschaften des Prager Frühlings einzusetzen.
Auch wenn die Forderungen Palachs keinen unmittelbaren Erfolg hatten, wurde sein Gesicht – festgehalten in der Totenmaske aber auch in den zahllos reproduzierten fotografischen Portraits – für die Zeitgenossen zu einem Symbol, das zur eigenen Verantwortung mahnte. So zierte es auch ein Flugblatt der Charta 77 und anderer Gruppen, die anlässlich des 20-jährigen Todestages zu Gedenkveranstaltungen aufriefen. Diese sogenannte „Palach-Woche“ im Januar 1989, in der die Polizei gewaltsam die Menschen auseinandertrieb, die kamen, um Blumen niederzulegen, gilt heute als Auftakt der „Samtenen Revolution“. In diesem Sinne – so der Grundtenor der tschechischen Debatten – findet die Frage nach dem „Sinn“ der Selbstverbrennung ihre Antwort im November 1989. Der Kreis scheint sich zu schließen, als Olbram Zoubek in den Tagen der Samtenen Revolution den Studenten in einem symbolischen Akt (zum zweiten Mal) einen Gipsabguss der Totenmaske überreichte, die er über all die Jahre in seinem Atelier versteckt gehalten hatte.
[1] Essay zur Quelle: Olbram Zoubek, Totenmaske Jan Palach, (1969 und 1990).[2] Vgl. Palachova zkratka na ceste do dejin, in: Lidové Noviny, 16.1.2009; aber auch bereits anlässlich des Jahrestages 2007: Pavlícek, Tomáš, Shorel Palach zbytecne?, in: Respekt, 28.1.2007.
[3] Blažek, Petr; Eichler, Patrik; Jareš, Jakub (Hgg.), Jan Palach '69, Praha 2009; Rezension zum Buch von Stach, Sabine, in: H-Soz-u-Kult, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2010-3-177> (24.09.2010).
[4] Mit diesen Worten charakterisierte Havel die Tat Palachs in seinem Brief an Alexander Dubcek vom 9. August 1969, in: Ders., Am Anfang war das Wort. Texte von 1969 bis 1990, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 9–32, hier S. 21.
[5] Zoubek, ein entfernter Verwandter der Familie Palach, fertigte ebenfalls die Bronze-Grabplatte an, die im Juli 1969 auf Palachs Grab auf dem Olšany-Friedhof installiert, jedoch bereits nach drei Wochen von Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes (Státní Bezpecnost - StB) wieder entfernt wurde. Nach mehrfachen Verhören durch den StB erhielt der Bildhauer Ausstellungs-, Verkaufs- und Reiseverbot und arbeitete die folgenden 20 Jahre als Restaurator in Ostböhmen.
[6] Eine weitere Totenmaske soll der Gottwalder Bildhauer Antonín Chromek hergestellt haben. Diese gelangte jedoch nicht an die breite Öffentlichkeit. Dem Künstler wurde vorgeworfen, aus kommerziellen Vermarktungsinteressen gehandelt zu haben, wie er es schon 1943 mit dem Verkauf von Reinhard-Heydrich-Plaketten getan hat und dafür verurteilt worden ist. Vgl. D58, in: Palach '69, S. 521.
[7] An dieser Stelle befindet sich heute eine Büste von Tomáš Garrigue Masaryk.
[8] Chalupecký, Jindrich, Smysl obeti, in: Palach '69, S. 145.
[9] Am 28.10.1968 war - als einziger Erfolg des Reformprozesses – die Förderalisierung der CSSR in Kraft getreten. Die Tschechoslowakei bestand nunmehr aus zwei Teilrepubliken: der Tschechischen Sozialistischen Republik und der Slowakischen Sozialistischen Republik.
[10] Lederer, Jirí, Jan Palach. Ein biografischer Bericht, Zürich 1982, S. 144.
[11] Die Frage nach den Intentionen Palachs ist für die Betrachtung seiner geschichtskulturellen Bedeutung nicht relevant. Dennoch sei darauf verwiesen, dass die Autoren aller Biografien nicht müde werden, die symbolischen Konnotationen seines Todes auch auf sein Leben zu projizieren. So betonen sie die Verehrung des Geschichtsstudenten Palach für Jan Hus und sein Interesse für die Ereignisse in Vietnam.
[12] Der Begriff „temno“ (Dunkelheit) steht für die Epoche, die der Niederlage der böhmischen Stände in der Schlacht am Weißen Berge 1620 folgte.
[13] Kovár, Pavel, Jan Palach 40/20. Príbeh posmrtné masky, in: Reflex 03/2009 (14.1.2009), S. 45.
[14] Vgl. Moníková, Libuše, Die lebenden Fackeln, in: Die Zeit 49/5 (28.1.1994), S. 47–48; in überarbeiteter Version auch in: Dies: Prager Fenster, München 1994, S. 104–113, hier S. 111.
[15] Vgl. Peroutka, Ferdinand, Prípad Julia Fucíka, in: Ders: Budeme pokracovat, Toronto 1984, S. 117–122, hier S. 118.
[16] Vgl. auch die Einordnung Palachs in der kulturwissenschaftlichen Märtyrerforschung des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung (ZfL). Luckscheiter, Christian, Jan Palach, Prag 1969 – Selbstverbrennung als politische Manifestation, in: Weigel, Sigrid (Hg.), Märtyrer-Porträts. Von Opfertod, Blutzeugen und heiligen Kriegern, München 2007, S. 229-231.
[17] Beschreibungen der „großen Stille“ dieser Tage finden sich in vielen literarischen Verarbeitungen, so beispielsweise in der Schilderung des Schriftstellers Jaroslav Putík, Velké ticho, in: Listy – Týdeník Svazu cs. spisovatelu, roc. 2, c. 5, 6.2.1969, S. 1. Ein Film über das Begräbnis trägt ebenfalls den Titel „Ticho“ („Stille“).
[18] Die Grabplatte wurde bereits nach einigen Wochen durch Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes vom Grab entfernt und in einer nächtlichen Aktion eingeschmolzen. 1973 wurde Palach exhumiert und das Grab in dessen Geburtsort Všetaty verlegt, um den Prager „Pilgerort“ zu schließen. 1990 wurde es zurück nach Prag überführt.
[19] Cílek, Václav, Jan Palach: prostor a místo, in: Palach '69, S. 165–168, hier S. 166.
Literaturhinweise:
Blažek, Petr; Eichler, Patrik; Jareš, Jakub (Hgg.), Jan Palach '69, Praha 2009.
Chalupecký, Jindrich, Smysl Obeti, in: Palach '69, S. 145–149.
Hejdánek, Ladislav, Symbol a Skutecnost, in: Jan Palach '69, S. 150–156.
Holy, Ladislav, The little Czech and the Great Czech Nation. National identity and the post-communist social transformation, Cambridge 1996.
Kovár, Pavel, Jan Palach 40/20. Príbeh posmrtné masky, in: Reflex 03/2009 (14.1.2009), S. 45.
Lederer, Jirí, Jan Palach. Ein biografischer Bericht, Zürich 1982.