Die "Charta der deutschen Heimatvertriebenen" vom 5. August 1950

Die Proklamation der „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ am 5. August 1950 im Kursaal von Bad Cannstadt nimmt einen festen Platz in der Erinnerungskultur der deutschen Vertriebenenverbände ein. Regelmäßig zu den runden Jahrestagen, wie in diesem Jahr mit einem Festakt im Stuttgarter Schloss, wird ihr Charakter als ein Dokument von „unschätzbarer Bedeutung“ für Europa aufs Neue hervorgehoben. In der „Charta“ verzichteten die Vertreter der Landsmannschaften und der zentralen Vertriebenenverbände auf „Rache und Vergeltung“ für das erlittene Unrecht und proklamierten ihre Bereitschaft, sich am Aufbau eines neuen Europa zu beteiligen. [...]

Die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ vom 5. August 1950[1]

Von Jörg Hackmann

Die Proklamation der „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ am 5. August 1950 im Kursaal von Bad Cannstadt nimmt einen festen Platz in der Erinnerungskultur der deutschen Vertriebenenverbände ein. Regelmäßig zu den runden Jahrestagen, wie in diesem Jahr mit einem Festakt im Stuttgarter Schloss, wird ihr Charakter als ein Dokument von „unschätzbarer Bedeutung“ für Europa[2] aufs Neue hervorgehoben. In der „Charta“ verzichteten die Vertreter der Landsmannschaften und der zentralen Vertriebenenverbände auf „Rache und Vergeltung“ für das erlittene Unrecht und proklamierten ihre Bereitschaft, sich am Aufbau eines neuen Europa zu beteiligen. In ihrer Sicht handelt es sich um eine „Magna Charta“, die erst die Anerkennung der Flüchtlinge und Vertriebenen in der Bundesrepublik und ihre Integration in die Nachkriegsgesellschaft und so zugleich einen friedlichen Neuanfang in Europa ermöglicht habe. Publizisten wie Micha Brumlik und Ralph Giordano polemisieren allerdings schon seit längerem gegen die Glorifizierung dieser Erklärung und argumentieren, sie sei einseitig und nicht akzeptabel, da sie allein die deutschen Vertriebenen als Opfer des Zweiten Weltkriegs darstelle. Zudem habe den Unterzeichnern ein Anspruch auf Vergeltung gar nicht zugestanden, mithin könne darauf auch nicht verzichtet werden.

Die Argumente der Vertriebenenvertreter auf den Gedenkveranstaltungen und die Gegenargumente außerhalb der Festsäle sind schon seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, gleichsam rituell verfestigt, so dass sich die Frage stellt, wie lebendig denn diese Charta tatsächlich in der kollektiven Erinnerung in Deutschland und Europa ist. Dass das Problem, wie die Vertreibungen in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts der Extreme zu erinnern sind, in Deutschland eine hochpolitische Angelegenheit ist, machen die Debatten, die von dem Projekt eines „Zentrum gegen Vertreibungen“ des Bundes der Vertriebenen ausgingen, fast täglich deutlich. Die jüngsten Diskussionen lassen eine deutliche Zuspitzung erinnerungspolitischer Kontroversen erkennen, die Michel Endes Riesen Tur-Tur ähneln: je größer der Abstand, desto größer seine Ausmaße. Gleichzeitig zeigt sich, dass Bemühungen, diese Erinnerung in transnationale Formen zu fassen, bislang nicht recht erfolgreich waren. Diese Diskrepanz zeigt sich gerade an der Einschätzung der Charta der Heimatvertriebenen. Während sie für die Befürworter einer Erinnerungsinstitution in Berlin als Ausweis der europäischen Orientierung der Vertriebenen gilt, so wird sie in Polen praktisch nicht wahrgenommen: Obwohl in der polnischen Öffentlichkeit gewöhnlich die Aktivitäten des Bundes der Vertriebenen und ihrer Vorsitzenden bis in die jüngste Zeit sehr aufmerksam, und in der Regel viel genauer als in der deutschen, beobachtet werden, war die Veranstaltung zum 60. Jahrestag der Charta in der polnischen Presse dagegen kaum einer ausführlicheren Betrachtung wert; der ausführlichste Bericht stammte vom Korrespondenten der Presseagentur PAP. Ganz offensichtlich sieht man in der Charta in Polen kein Dokument, das für die Einschätzung der gegenwärtigen Politik der Bundesrepublik oder der Vertriebenenverbände von Bedeutung ist.

Vor dem Hintergrund dieser divergierenden Einschätzungen, die in der Charta der Heimatvertriebenen entweder ein Dokument von zentraler europäischer Bedeutung oder eine eher nebensächliche und zudem unglaubwürdige Erklärung sehen, ist die Quelle einer genaueren Analyse wert. Der Form nach handelt es sich um ein urkundenähnliche Erklärung, die aus fünf Abschnitten besteht: einer Präambel, Selbstverpflichtungen der Unterzeichner, einer Begründung des „Rechts auf Heimat“, daraus abgeleiteten Forderungen und abschließend einem Aufruf an die „Völker der Welt“. In der grafischen Gestaltung des Originals[3] sind die Wörter „feierliche Erklärung“ und – noch kräftiger – „Recht auf Heimat“ hervorgehoben. Die Präambel beruft sich auf Gott, das christliche Abendland und das deutsche Volkstum sowie eine nicht näher erläuterte „gemeinsame Aufgabe aller europäischen Völker“. Die Verfasser reklamieren für sich den Anspruch, als „erwählte“ Vertreter der Vertriebenen aufzutreten und ein „Grundgesetz“ mit Rechten und Pflichten zu verkünden.

Von den drei proklamierten Selbstverpflichtungen sind zwei – das Schaffen eines geeinten Europa und Mitwirkung am Wiederaufbau – eher floskelhaft, wenn man nicht annimmt, dass ein selbstgewähltes Ausharren in Flüchtlingslagern eine ernsthafte Alternative war. Damit enthält folglich nur der erste Punkt eine materielle Aussage: den Verzicht auf Rache und Vergeltung. Neben dem immer wieder betonten Gewaltverzicht, der zweifelsohne eine wichtige Anpassungsleistung an die Politik der Bundesrepublik darstellte, sind – nicht zuletzt im Unterschied zur „neuen Ostpolitik“ – noch zwei andere Punkte hervorzuheben, die die Leistung dieser Erklärung begrenzt haben: Rache und Vergeltung sind als Handeln in modernen Gesellschaften nur in einem rechtsfreien Raum und als Selbstjustiz auf zuvor zugefügtes Unrecht denkbar. Verzicht beinhaltet darüber hinaus, wie bereits angedeutet, dass es einen zugrundeliegenden Rechtsanspruch oder eine politische Option geben muss, die nicht in Anspruch genommen wird. Da letztere nicht gegeben war, eröffnen sich drei Aspekte in der Deutung dieses Verzichts: Er unterstellt erstens, dass die diejenigen, die für die Vertreibung verantwortlich waren, sich von den Prinzipien Rache und Vergeltung haben leiten lassen. Zweitens wird die Auseinandersetzung mit dem erlittenen Unrecht mit rechtlichen Mitteln geführt, und drittens stellt sich die Frage nach einer Wiedergutmachung.

Worin der Rechtsanspruch besteht, auf den sich die Verfasser berufen, wird aus den folgenden Sätzen deutlich, die den Verlust der Heimat thematisieren. „Heimat“ ist religiös fundiert, da „von Gott gegeben“. Die Vertreibung aus der Heimat sei mit Mord vergleichbar. Das Recht auf die Heimat müsse daher als Grundrecht der Menschheit anerkannt und für die Vertriebenen verwirklicht werden. Die daraus abgeleiteten Forderungen zielen auf die Zwischenzeit bis zur Realisierung dieses Menschenrechts, sie gelten der rechtlichen und faktischen Gleichstellung der Vertriebenen, einem Lastenausgleich und der Integration in das Nachkriegsdeutschland. Bis hierher kann man darin die bundesdeutsche Sicht auf die deutsche Frage nach dem Zweiten Weltkrieg sehen, die bis zu einem endgültigen Friedensvertrag offen sei. Die darauffolgende Anrufung der „Völker der Welt“ geht jedoch über die bundesdeutsche Innenpolitik hinaus und reklamiert eine Mitverantwortung aller Nationen an dem Schicksal der Vertriebenen als den „vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen“. Die Nationen sollten sich ihrer christlichen Verantwortung stellen und sich für die Lösung des Vertriebenen- und Flüchtlingsproblems weltweit einsetzen. Unterstreichen sollte diesen Appell an die Weltöffentlichkeit seine Veröffentlichung in 19 Sprachen, unter anderem auch in Estnisch, Weißrussisch und Bulgarisch.

Die Charta wird in Publikationen der Vertriebenenverbände meist mit der stereotypen Erläuterung abgedruckt, die auf den repräsentativen Charakter des Dokuments verweisen soll. Sie sei in Gegenwart von Vertretern der Bundesregierung, der Parlamente und der Kirchen verkündet und auf Großkundgebungen in „allen Teilen“ Deutschlands bestätigt worden. Wenn es weiter heißt, sie sei von dem „unbekannten Heimatvertriebenen“ vorgetragen worden, so ist hier die intendierte Parallele zum Kult des „unbekannten Soldaten“ nicht zu übersehen – in Gegensatz zu ihm war der Name des Vortragenden allerdings nicht unbekannt. Zusammen mit der gewiss unzutreffenden Angabe, die Charta sei in ganz Deutschland öffentlich bekräftigt worden, ist hier eine Inszenierung zu erkennen, die die Erklärung als gleichsam offiziösen Staatsakt präsentieren sollte, der zudem eine dem Grundgesetz entsprechende Bedeutung habe. Abgeschlossen wurde die Verkündung der Charta auf der Veranstaltung in Bad Cannstadt mit dem Lied „Heilige Heimat“. Mit dieser Inszenierung korrespondiert die mit religiöser und nationaler Semantik gleichermaßen aufgeladene Sprache der Charta ebenso wie die Fixierung auf „Heimatvertriebene“ als Kollektivbegriff für Flüchtlinge, Vertriebene und Zwangsausgesiedelte. Dagegen bleibt der Text aber ausgesprochen ungenau in Benennung der Agenten und Ursachen, die zu der Situation der Vertriebenen geführt haben. Dazu heißt es nur ganz allgemein und unscharf, das letzte Jahrzehnt habe Leid über die Menschheit gebracht. Dass einige der Unterzeichner als höhere Funktionsträger im Nationalsozialismus mehr oder weniger direkt an der Produktion dieses Leids im besetzten Europa beteiligt waren, wurde freilich ausgeblendet – ebenso wie eine Kontextualisierung des Zweiten Weltkriegs nur an einer einzigen Stelle zu erkennen ist, wo es um einen Lastenausgleich für die Vertriebenen geht. Weder von der Judenvernichtung, den systematischen Morden in Polen und der Sowjetunion noch von Aussiedlungen und Vertreibungen auf deutschen Befehl hin während des Kriegs ist die Rede, allein der Hinweis auf das internationale Flüchtlingsproblem lässt einen größeren Kontext erahnen. So erscheint die Tatsache der Vertreibung als eine Art aus heiterem Himmel über die Betroffenen hereingebrochene Naturkatastrophe. Nun könnte man in der Charta im Hinblick auf das Beschweigen der Vergangenheit in Anknüpfung an Hermann Lübbe ein für die frühe Bundesrepublik zeittypisches Dokument sehen. Eine solche Interpretation greift aber doch zu kurz, denn die religiöse Deutung der Vertreibung aus der Heimat hätte durchaus Raum für ein zumindest allgemeines Thematisieren von Schuld gelassen, selbst wenn man nicht das Stuttgarter Schulbekenntnis der Evangelischen Kirche fünf Jahre früher zur Richtschnur nimmt. Die Andeutungen von Schuld und Läuterung in der Charta bleiben aber genauso unscharf wie die Andeutungen zum historischen Kontext.

Wenn solche zeithistorischen oder religiösen Bezüge zum Zweiten Weltkrieg gänzlich fehlen, dann muss man doch annehmen, dass das kein Zufall war und dass der Charta ein recht genau zu bestimmendes politisches Profil zugrunde lag. Zum einem ging es um ein Dokument, das grundlegende Rechte der Vertriebenen sichern sollte – nur so gibt die von den Verfassern beanspruchte Parallele zur „Magna Charta“ überhaupt einen Sinn. Zum anderen sollte sie den Anspruch der Vertriebenenverbände auf politische – auch internationale – Repräsentation der Vertriebenen reklamieren. Hier war insbesondere Linus Kather, der Vorsitzende des Zentralverbandes der vertriebenen Deutschen[4], versucht, eine Zentralisierung der Vertriebenen unter seiner Führung und auf Kosten der einzelnen ostdeutschen Landsmannschaften durchzusetzen. In diesem Kontext wurde, wie es Pertti Ahonen[5] zutreffend beobachtet hat, das „Recht auf die Heimat“ – und zwar mit dem bestimmten Artikel – zu einem Dreh- und Angelpunkt für die unterschiedlichen Interessen, sowohl der Repräsentanten der Vertriebenenverbände als auch der politischen Parteien mit Ausnahme der KPD.

Die religiös-naturrechtliche Ummantelung von „Heimat“ und ihre Verwendung ohne jede historisch-politische Kontextualisierung bot mehrfachen Nutzen: Zum einen wurde von Beginn an die Frage nach den praktischen Konsequenzen dieser Beschwörung des Rechts auf „die“ Heimat verhüllt, insbesondere wie es realisiert werden sollte, ob durch erneuten Anschluss der Regionen an Deutschland, durch individuelle oder kollektive Rückkehr der Vertriebenen in ihre Herkunftsgebiete, oder allein durch die Bewahrung von Kultur und Traditionen. Auf den Versammlungen von Vertriebenen waren Forderungen wie „Gebt uns die Heimat wieder!“ häufig. Dagegen führte der Flüchtlingsminister Lukaschek in Stuttgart am 6. September 1950 aus, „der Tag der Heimkehr werde nur dann kommen, wenn die Vertriebenen in der westdeutschen Bevölkerung aufgegangen seien.”[6] Die Ambiguität des Heimatbegriffs ließ unterschiedliche Deutungen zu und trug so dazu bei, politische Widersprüche auszublenden. So sprach die SPD in Erklärungen Anfang der 1950er Jahre etwa von „Heimatrecht im Osten“ und „Lebensrecht im Westen“.[7] Zum anderen war der Rekurs auf das Heimatrecht geeignet, eine über die Grenzen Deutschlands von 1937 hinausgehende Klammer zu schaffen, die die recht heterogenen Gruppen, wie etwa die früheren deutschen Minderheiten und die Bevölkerung der deutschen Ostprovinzen, zusammenfassen konnte. Zudem wurde die Forderung nach Rückkehr entindividualisiert und der Rechtsanspruch zu einer Angelegenheit der deutschen Nation erklärt, die nicht auf die Generationen der unmittelbar Betroffenen beschränkt blieb. Und nicht zuletzt bot sich Heimat als idealisierter Raum ursprünglicher Unschuld als geeignete Folie für die Selbstdeutung der Vertriebenen als Opfer an, wie man in Anknüpfung an Celia Applegate[8] formulieren könnte.

Der Absolutheit, mit der das Heimatrecht in der Charta proklamiert wurde, widersprach freilich die Tatsache, dass es weder von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen gedeckt wurde noch in das bundesdeutsche Grundgesetz Aufnahme gefunden hatte. In der Erklärung der Menschrechte vom 10. Dezember 1948 ist in Art. 13 zwar von einem Recht auf Rückkehr in das eigene Land die Rede, das dann in der UN-Resolution 194 zu Palästina konkretisiert wurde. Diese Formulierungen beziehen sich auf individuelle Ansprüche auf Rückkehr und Besitzrestitution oder -kompensation, nicht jedoch auf eine Restitution von Territorien, die in dem „Recht auf die Heimat“ zumindest potentiell einbegriffen war. In den Beratungen des Parlamentarischen Rates war Anfang 1949 ein Antrag auf Aufnahme des Heimatrechts in das Grundgesetz abgelehnt worden.

Das Recht auf Heimat in der Charta war jedoch nicht nur eine Aufladung des allgemeinen Rechts auf Rückkehr mit der Semantik des in das 19. Jahrhundert zurückreichenden deutschen Heimatdiskurses, sondern es ist in erster Linie im Kontext rechtlich-politischer Debatten zu sehen, die nach dem Ersten Weltkrieg geführt wurden. Mit dem Zerfall der Imperien in Mittel- und Osteuropa war die rechtliche Lage der deutschsprachigen Bevölkerung jenseits der Grenzen des Deutschen Reichs und Österreichs zu einem Motor der Entwicklung von Minderheitenrecht geworden. Mit den Umsiedlungen der deutschen Minderheiten aus diesen Regionen seit 1939 sowie den Konsequenzen des Münchener Abkommens von 1938 hatten diese Debatten sowohl in der deutschen wie internationalen Diskussion stark an Bedeutung verloren, auch wenn das Thema in späteren Jahren wiederholt von Institutionen der deutschen Vertriebenen angeschnitten wurde. Ebenso gab es einen impliziten Zusammenhang zu dem zweiten zentralen Schlagwort seit Versailles, dem Recht auf Selbstbestimmung, das in der Charta ebenfalls nicht erwähnt wurde, in den Debatten über das Heimatrecht der Vertriebenen aber immer wieder auftauchte. Das spricht dafür, dass das Heimatrecht als Rechtsanspruch nach 1945 den Raum einnahm, den zuvor die Debatten über die rechtliche Lage der Deutschen im östlichen Mitteleuropa ausgefüllt hatten. Zu erkennen ist das etwa an der Person des aus Prag stammenden Hamburger Völkerrechtlers Rudolf Laun: Er war seit 1917 einer der Ideengeber für die Entwicklung des Minderheitenrechtes im deutschen Kontext gewesen und befasste sich 1951 auf dem ersten Bundeskongress der Vereinigten Ostdeutschen Landsmannschaften nun mit dem Recht auf Heimat, das er dort ganz in der Diktion der Charta einen „der heiligsten Werte, die der Mensch auf dieser Erde hat“,[9] nannte und bezeichnenderweise an zwei Stelle Vergleiche zur Situation der Juden zog: So verwies er zum einen auf den Stellenwert der Heimat in der jüdischen Diaspora seit dem ersten nachchristlichen Jahrhundert und meinte zum anderen, dass die deutschen Vertriebenen ebenso einen Anspruch auf Wiedergutmachung hätten wie die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. Dort und auch etwa in der Frage der Sudetengebiete wird deutlich, dass es Laun in erster Linie um juristische Absicherung von Rechtsansprüchen ging, hinter der Forderungen nach europäischer Verständigung und Aussöhnung zurückblieben.

Wenn mit Axel de Vries und Rudolf Lodgman von Auen politische Repräsentanten der deutschen Minderheiten in Estland und der Tschechoslowakei vor dem Zweiten Weltkrieg sich nun für das Recht auf Heimat einsetzten, so zeigte sich auch daran die Verschiebung der Diskussionsachsen: Fragen von Minderheitenrecht waren für die deutsche Bevölkerung im östlichen Europa angesichts ihrer Aussiedlung kaum noch von Belang, an ihre Stelle trat nun ein wie auch immer geartetes Recht auf Rückkehr an die früheren Wohnorte.

Dass es den Vertriebenenfunktionären in den Formulierungen der Charta keineswegs nur um das individuelle Recht auf Rückkehr in Anknüpfung an die UN-Menschenrechtserklärung, sondern auch um die Rückgabe verlorener Territorien ging, lässt sich an zahlreichen Indizien ablesen: So wurde die Charta am Vorabend des ersten „Tags der Heimat“ verkündet, der am fünften Jahrestag des Endes der Potsdamer Konferenz gegen deren Beschlüsse protestieren sollte – dieser zeitliche Zusammenhang besteht bis heute. Zudem haben nicht nur einzelne Landsmannschaften, sondern auch zumindest einige der Unterzeichner vor und nach Stuttgart immer wieder die territoriale Restitution ihrer Regionen gefordert. So forderte Kather in Stuttgart, die ostdeutschen Regionen müssten eine eigene Vertretung im Europarat erhalten. Die pommersche Landsmannschaft hatte nur wenige Monate zuvor proklamiert, sie sei „die staatsrechtliche Körperschaft des aus seiner Heimat vertriebenen und seines Staatsgebietes beraubten Staatsvolkes des Landes Pommern.“ Die Diskussionen unter den Sudetendeutschen lassen ebenfalls deutlich erkennen, dass eine erneute Angliederung der Region an Deutschland die Konsequenz des Heimatrechts sein müsse.

Vor diesem Hintergrund war der proklamierte Verzicht auf Vergeltung eben nicht nur eine „Leerformel“, wie Ralph Giordano meinte.[10] Er war auch nicht allein innenpolitisch – als Entrébillet in die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft – motiviert, sondern hatte insbesondere eine außenpolitische Dimension: Er richtete sich gegen die Kollektivschuldthese und kritisierte pauschal diejenigen, die die Aussiedlung der Deutschen mit den Kriegsereignissen erklärten oder rechtfertigten. Insofern war die Entkoppelung von Flucht und Vertreibung von der nationalsozialistischen Umsiedlungs- und Vernichtungspolitik durchaus intendiert und nicht zufällig. Die Stuttgarter Proklamation war schließlich keineswegs ein spontaner Akt, sondern die Grundlinien hatten sich bereits in einer in Eichstätt Ende 1949 von der sudetendeutschen Ackermanngemeinde initiierten Erklärung abgezeichnet, wo freilich die „Rückgabe der Heimat“ als Voraussetzung für den Verzicht auf Vergeltung postuliert wurde. Darüber ließ sich freilich mit den betroffenen Staaten keine Einigung erzielen, höchstens durch Kontakte zu Exilkreisen war das möglich, wie das am Vortrag der Veröffentlichung der Charta unterzeichnete Wiesbadener Abkommen zwischen der sudetendeutschen Landsmannschaft und Vertretern des tschechoslowakischen Exils zeigte.

Damit stellt sich die Frage nach den Wirkungen der Charta. Sie war offensichtlich von Beginn an geringer, als von den Initiatoren erwartet worden war. So ließ sich Adenauer, der auf den Programmzetteln stand, auf der Veranstaltung durch Vizekanzler Blücher (FDP) vertreten. Trotz des pathetischen Appells an die Weltöffentlichkeit und die Übersetzung der Charta in zahlreiche Sprachen blieb ihre Wirkung in erster Linie innenpolitisch begrenzt. Das lag nicht nur daran, dass die Alliierten nicht zu einer Revision der Grenzen Deutschlands bereit waren, sondern letztlich auch daran, dass das Abgehen von offen revisionistischen Forderungen ein Eckpunkt von Vergangenheitspolitik in der Ära Adenauer und Ausgangspunkt für die rechtliche und soziale Integration der Vertriebenen war; gleich, ob offen ausgesprochen oder nicht, eine politische Alternative bestand nicht, auch wenn Vertreter der Vertriebenen mit Verweis auf den Erfolg des BHE bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein im Frühjahr 1950 die Gefahr einer Radikalisierung an die Wand malten. Die in der Charta nachdrücklich lancierte Begriffsprägung „Heimatvertriebene“ hat sich nicht dauerhaft durchgesetzt, die 1957 neugegründete Zentralorganisation der Vertriebenen verzichtete auf den ersten Bestandteil des Kompositums. Zudem hat auch die Diskussion über das Recht auf Heimat seit den 1960er Jahren keine größere Resonanz außerhalb der Kreise der Vertriebenen gefunden. Der Theologe Karl Barth konstatierte etwa 1960: „Es gibt kein absolutes ‚Recht’ auf Heimat“.

Wichtiger war auf lange Sicht allerdings, dass der Rechtsanspruch der Vertriebenen einer Politik der Annäherung und Aussöhnung mit den osteuropäischen Nationen im Wege stand, die in den 1960er Jahren immer deutlicher in der Bundesrepublik, und nicht zuletzt innerhalb der beiden großen Kirchen, eingefordert wurde. „Versöhnung geht vor Rechtsanspruch“ – diese Forderung auf einer Demonstration von Theologiestudenten in Bonn 1966 brachte den Gegensatz auf den Punkt. Darin lag freilich auch ein politischer Konflikt, der bereits bis 1950 zurückreichte. Schon in der zeitgenössischen Kritik war der Charta eine Legitimation des Nationalsozialismus vorgeworfen worden, und in der „Ostdenkschrift“ der EKD über „die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“ wurde die Charta nicht erwähnt. Freilich gab es auch in den Vertriebenverbänden mitunter heftige Kritik an der Charta und schließlich trug die Polemik gegen die „Verzichtspolitik“ der SPD das ihre dazu bei, eine Verbindung zwischen dem Verzicht auf Rache und Vergeltung von 1950 und dem Gewaltverzicht von 1970 zu verhindern. Weder die religiöse Rhetorik noch das europäische Pathos der Charta mündeten so in praktischer Politik. Bis hin zu Helmut Kohls Auftritt vor den Vertriebenenverbänden im Kursaal von Bad Cannstadt anlässlich des 40. Jahrestags der Charta 1990, bei der die Zustimmung zur dauerhaften Regelung der deutsch-polnischen Grenze gleichsam oktroyiert und mögliche Widerstände mit staatlicher Unterstützung für die Kulturarbeit der Vertriebenen abgefedert wurden, war die Anerkennung der Verhältnisse und der Verzicht auf Rechtsansprüche keine freiwillige Leistung der Vertriebenenverbände.

Stattdessen hat die Erklärung von 1950 durch die gänzliche Ausblendung deutscher Verantwortung für die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs einem nationalistisch verengten Opferdiskurs Vorschub geleitet, der in den letzten Jahren in der internationalen Diskussion über den Zweiten Weltkrieg zunehmend kritisch betrachtet worden ist.[11] Gerade durch das Verabsolutieren des eigenen Leids erweist sich die Charta als frühes Beispiel dafür, wie transnationales Gedenken nicht funktionieren kann.

So ist die Charta insgesamt ein Dokument, das zu einer europäischen Aussöhnung keine nachhaltigen Impulse geben konnte, und wenn überhaupt, dann vor allem eine innenpolitische Bedeutung hatte, die freilich nicht in ihrem ethischen Anspruch, sondern vor allem in den mit ihr verbunden materiellen Forderungen nach einem Lastenausgleich zu sehen ist. Insofern klafft zwischen dem Pathos in der Form und den politischen Ansprüchen eine merkliche Kluft, die die Politik der Vertriebenenverbände auch dann nicht überbrücken konnte, als die ursprünglichen Vorstellungen einer territorialen oder kollektiven Rückgewinnung der Heimat erodiert waren.



[1] Essay zur Quelle: Sprecher der Vertriebenenverbände, Charta der deutschen Heimatvertriebenen (Stuttgart, 5. August 1950).

[2] So die Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, am 5.8.2010. In: <www.bund-der-vertriebenen.de/files/steinbach-60.pdf> (15.10.2010).

[3] Originaldokument einsehbar in: LeMO, <http://www.hdg.de/lemo/html/dokumente/JahreDesAufbausInOstUndWest_erklaerungChartaDerHeimatvertriebenen/index.html> (15.10.2010).

[4] Zu Kather und den institutionellen Auseinandersetzungen s. Stickler, Matthias, "Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch". Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände 1949 - 1972 (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, 46), Düsseldorf 2004.

[5] Ahonen, Pertti, After the expulsion. West Germany and Eastern Europe, 1945 - 1990, Oxford 2003.

[6] Frankfurter Allgemeine Zeitung 7.5.1950, S. 3.

[7] Zit. bei Böke, Karin, Flüchtlinge und Vertriebene zwischen dem Recht auf die alte Heimat und der Eingliederung in die neue Heimat. Leitvokabeln der Flüchtlingspolitik, in: Böke, Karin; Liedtke, Frank; Wengeler, Martin, Politische Leitvokabeln in der Adenauer-Ära (Sprache, Politik, Öffentlichkeit, 8), Berlin 1996, S. 131-210, hier S. 187.

[8] Applegate, Celia, A nation of provincials. The German idea of Heimat, Berkeley 1990, S. 229.

[9] Laun, Rudolf, Das Recht auf die Heimat, in: Rabl, Kurt (Hg.), Das Recht auf die Heimat (Studien und Gespräche über Heimat und Heimatrecht, 2), München 1959, S. 95-118, hier S. 95.

[10] Giordano, Ralph, Die "Charta der deutschen Heimatvertriebenen" ist eine Farce!, In: Cicero 30.7.2010, <www.cicero.de/97.php?ress_id=9&item=5257> (15.10.2010).

[11] Zuletzt von Jan Piskorski und Jie-Hyun Lim in der polnischen Zeitschrift Wiez 53 (2010), Nr. 2-3, unter dem Titel “Wszyscy chca byc ofiarami? [Wollen alle Opfer sein?]”.



Literaturhinweise
  • Ahonen, Pertti, After the expulsion. West Germany and Eastern Europe, 1945 - 1990, Oxford 2003.
  • Danyel, Jürgen; Ther, Philipp (Hgg.), Flucht und Vertreibung in europäischer Perspektive (= Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Bd. 51, 2003, H. 1).
  • Piskorski, Jan M., Vertreibung und deutsch-polnische Geschichte. Eine Streitschrift (Veröffentlichungen der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Bundesverband 8), Osnabrück 2005.
  • Stickler, Matthias, „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“. Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände 1949 - 1972 (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, 46), Düsseldorf 2004.


Sprecher der Vertriebenenverbände, Charta der deutschen Heimatvertriebenen (Stuttgart, 5. August 1950)[1]

Im Bewußtsein ihrer Verantwortung vor Gott und den Menschen,

im Bewußtsein ihrer Zugehörigkeit zum christlich-abendländischen Kulturkreis,

im Bewußtsein ihres deutschen Volkstums und in der Erkenntnis der gemeinsamen Aufgabe aller europäischen Völker,

haben die erwählten Vertreter von Millionen Heimatvertriebener nach reiflicher Überlegung und nach Prüfung ihres Gewissens beschlossen, dem deutschen Volk und der Weltöffentlichkeit gegenüber

eine feierliche Erklärung

abzugeben, die die Pflichten und Rechte festlegt, welche die deutschen Heimatvertriebenen als ihr Grundgesetz und als unumgängliche Voraussetzung für die Herbeiführung eines freien und geeinten Europas ansehen.

1. Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung. Dieser Entschluß ist uns ernst und heilig im Gedenken an das unendliche Leid, welches im besonderen das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht hat.

2. Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können.

3. Wir werden durch harte, unermüdliche Arbeit teilnehmen am Wiederaufbau Deutschlands und Europas.

Wir haben unsere Heimat verloren. Heimatlose sind Fremdlinge auf dieser Erde. Gott hat die Menschen in ihre Heimat hineingestellt. Den Menschen mit Zwang von seiner Heimat zu trennen, bedeutet, ihn im Geiste zu töten. Wir haben dieses Schicksal erlitten und erlebt. Daher fühlen wir uns berufen zu verlangen, daß das

Recht auf die Heimat

als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit anerkannt und verwirklicht wird. Solange dieses Recht für uns nicht verwirklicht ist, wollen wir aber nicht zur Untätigkeit verurteilt beiseite stehen, sondern in neuen, geläuterten Formen verständnisvollen und brüderlichen Zusammenlebens mit allen Gliedern unseres Volkes schaffen und wirken.

Darum fordern und verlangen wir heute wie gestern:

1. Gleiches Recht als Staatsbürger nicht nur vor dem Gesetz, sondern auch in der Wirklichkeit des Alltags.

2. Gerechte und sinnvolle Verteilung der Lasten des letzten Krieges auf das ganze deutsche Volk und eine ehrliche Durchführung dieses Grundsatzes.

3. Sinnvollen Einbau aller Berufsgruppen der Heimatvertriebenen in das Leben des deutschen Volkes.

4. Tätige Einschaltung der deutschen Heimatvertriebenen in den Wiederaufbau Europas.

Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen empfinden. Die Völker sollen handeln, wie es ihren christlichen Pflichten und ihrem Gewissen entspricht. Die Völker müssen erkennen, daß das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen wie aller Flüchtlinge, ein Weltproblem ist, dessen Lösung höchste sittliche Verantwortung und Verpflichtung zu gewaltiger Leistung fordert.

Wir rufen Völker und Menschen auf, die guten Willens sind, Hand anzulegen ans Werk, damit aus Schuld, Unglück, Leid, Armut und Elend für uns alle der Weg in eine bessere Zukunft gefunden wird.

Stuttgart, den 5. August 1950


[1] Abschrift der Urkunde durch Jörg Hackmann. Original einsehbar in: LeMO, <http://www.hdg.de/lemo/html/dokumente/JahreDesAufbausInOstUndWest_erklaerungChartaDerHeimatvertriebenen/index.html> (15.10.2010).


Für das Themenportal verfasst von

Jörg Hackmann

( 2010 )
Zitation
Jörg Hackmann, Die "Charta der deutschen Heimatvertriebenen" vom 5. August 1950, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2010, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1532>.
Navigation