„Es ist unsere Pflicht, es nicht zu vergessen“: Zur Entwicklung der Holocaust-Gedenkkultur im sowjetischen und post-sowjetischen Litauen[1]
Von Ekaterina Makhotina
Am 5. März 1989 trat Grigori Kanovic vor der jüngst gegründeten Jüdischen Kulturgemeinde Litauens auf. In einer flammenden Rede sprach der litauisch-jüdische Schriftsteller vom Neubeginn für das jüdische kulturelle Leben in Litauen und vom Aufbruch der Erinnerung an die Shoah, einer Erinnerung, die lange Jahre unterdrückt worden war. Das Motto seiner Rede – Geh und fürchte Dich nicht – ist ein Aufruf an die Bürger Litauens jüdischer Herkunft, an die wenigen Überlebenden und die aus der Sowjetunion zugezogenen jüdischen Immigranten, die Geschichte des jüdischen Schicksals während des Zweiten Weltkriegs ohne Furcht und Scham zu erinnern, diese gar als zentralen identitätsstiftenden Bestandteil der jüdischen Schicksalsgemeinschaft gelten zu lassen. In der bewussten Wahl und durch häufige Wiederholung des alttestamentarischen Satzes, mit welchem ursprünglich Gott dem jüdischen Vorvater Abraham Mut zugesprochen hatte, bekommt das Motiv des Weiterlebens des Jüdischen hier eine besonders starke Akzentuierung.
Der Zeitpunkt der Rede ist nicht willkürlich gewählt: Er korrespondiert mit dem Todestag von Josef Stalin am 5. März 1953 und mag für das „zweite Tauwetter“ in der Kultur- und Erinnerungspolitik ein Symbol setzen. Erst in der Glasnost’-Zeit unter Michail Gorbatschow wurde in der Sowjetunion die allmähliche Befreiung der Geschichtskultur von den Schranken der sowjetischen Ideologie möglich, die allmähliche Liberalisierung der Vergangenheitskommunikation löste eine Welle der „Veröffentlichungen“ von Erinnerungen aus, die im familiären Bereich aufbewahrt worden waren und auf der Ebene der Geschichtspolitik Tabus unterlagen. In Litauen, wie im Baltischen Raum allgemein, nahm die Gesellschaft die Möglichkeit einer Revision der lange Jahre vorherrschenden historischen Mythen besonders enthusiastisch auf. Die Jüdische Kulturgemeinde Litauens, zu deren Gründer Grigori Kanovic gehörte, war eines der ersten solcher Erinnerungskollektive, das angefangen hatte, sich öffentlich für die gesellschaftliche Anerkennung „ihrer“ Opfergruppe zu engagieren.
In den letzten Jahren der Litauischen Sowjetrepublik, die offiziell am 11. März 1990 als erste aller Republiken aus der Sowjetunion austrat, standen nun die Opfer des sowjetischen Terrors im Mittelpunkt der erinnerungspolitischen Debatten. Es war die Zeit, in der das Sprechen über das tragische Schicksal des Individuums im totalitären System die Gesellschaft besonders beschäftigte. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der ehemals tabuisierten Geschichte und deren Verfestigung in Form eines Denkmals oder Museums wurde möglich: 1990 gelang es den Aktivisten der wieder gegründeten Jüdischen Gemeinde Litauens ein Jüdisches Museum mit einer Holocaust-Ausstellung zu etablieren. Es ist bezeichnend, dass die Gründungsinitiative und ihre politische Umsetzung bei einem der Sajudis-Mitglieder (litauische Unabhängigkeitsbewegung) jüdischer Herkunft, Emanuelis Zingeris, lagen. Sowohl das jüdische Opferkollektiv als auch die Litauer, die unter der Sowjetmacht verfolgt, verhaftet oder deportiert worden waren, traten damals vereint und entschlossen gegen alles Sowjetische auf.
Somit erscheint es einleuchtend, warum die Rede Kanovics in solcher Bitterkeit gegen die stalinistische bzw. sowjetische Politik verfasst ist. Die besondere Tragik des jüdischen Schicksals in Litauen, wie Kanovic es hervorhebt, besteht eben darin, dass es den wenigen Shoah-Überlebenden untersagt wurde, ihrer Opfer zu gedenken und dass die Spuren des jüdischen historischen und kulturellen Erbes in Sowjetlitauen bewusst und planmäßig ausradiert wurden. Nicht nur die jüdische Kultur und Sprache unterlagen Restriktionen - auch die Überlebenden fielen stalinistischen antisemitischen Kampagnen zum Opfer. In der Rede Kanovics wird dieses staatliche Verbrechen zum ersten Mal in der Öffentlichkeit auf eine sehr explizite und emotionale Art beim Namen genannt.
Die „fürchterliche Katastrophe“, von welcher Kanovic zunächst spricht, ist das tragische Schicksal der Litauer jüdischer Herkunft während des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion. Bereits während der ersten Wochen der NS-Besatzung in Litauen kam es zu Massenpogromen in Kaunas, Vilnius, Šiauliai und anderen litauischen Städten. Es wurden Ghettos gebildet, in denen „arbeitsfähige“ Juden Zwangsarbeit verrichten mussten, gleichzeitig fanden Massenvernichtungsaktionen statt, bei welchen SS-Sonderkommandos (nicht ohne Beteiligung der einheimischen Bevölkerung) Frauen, Kinder, Kranke und Alten erschossen und in Massengräbern liegen ließen. Ein solcher Ort des Grauens war Ponary (lit. Paneriai), eine kleine Station an der Bahnstrecke Vilnius – Trakai, die für die meisten Juden aus dem Vilniuser Ghetto zur Endstation wurde. Der Genozid an den litauischen Juden wurde mit einem bislang ungesehenen Tempo durchgeführt – die meisten kamen zwischen Juli und Dezember 1941 um, die vollständige Auflösung der Ghettos (faktische Vernichtung der Ghetto-Bewohner und Räumung des Gebiets) geschah im Sommer 1943. Litauen, ein Land, das sich in der Vorkriegszeit durch eine starke Präsenz der ostjüdischen Kultur (die sog. Litvaken waren hier seit Jahrhunderten ansässig) ausgezeichnet hatte, verlor innerhalb weniger Monaten 95 % seiner jüdischen Bevölkerung: Allein bis zu Beginn des Jahres 1942 wurden 170.000 von etwa 240.000 Bürger Litauens jüdischer Herkunft vernichtet.[2] Dass einige Wenige sich retten konnten und die Katastrophe überlebten, erklärt sich durch die Tatsache, dass sie rechtzeitig evakuiert wurden, sich den sowjetischen Partisanen-Einheiten angeschlossen und im Untergrund oder in der 16. Litauischen Division der Sowjetarmee gegen die Wehrmacht gekämpft hatten.
Doch nicht so sehr das schreckliche Schicksal der Juden während der deutschen Besatzung Litauens steht im Mittelpunkt der Rede Grigori Kanovics. Vielmehr geht es ihm um die Unterdrückung der jüdischen Identität und Kultur, Religion und Erinnerung nach dem Krieg.
Denn mit dem Sieg im Zweiten Weltkrieg war für vielen Juden die Zeit der Verfolgung nicht zu Ende. In der „ideologisch richtigen“, von der Kommunistischen Partei vorgegebenen Kriegserinnerung wurde der Hinweis auf die jüdische Identität der Opfer streng untersagt. Die jiddischen Inschriften auf den von Überlebenden errichteten Denkmalen an den Orten der Massenvernichtung wurden durch verallgemeinernde Tafeln über „zivile Bevölkerung“ oder „friedliche sowjetische Bürger“ ausgetauscht, das erste Mahnmal in Ponary wurde 1952 gesprengt und das bereits 1944 eröffnete Jüdische Museum geschlossen. In diesem vom Kreis der Ghetto-Häftlinge und Widerstandskämpfer um Jankl Gutkovich gegründeten Museum wurden die nach den NS-Plünderungen erhaltenen gebliebenen Quellen des jüdischen kulturellen Reichtums der Vorkriegszeit aufbewahrt und ausgestellt, ebenso Exponate, die von der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gegenüber den Juden zeugten (wie die Materialien für das „Schwarzbuch der faschistischen Verbrechen“ von Il’ja Ehrenburg und Vassilij Grossman). Auf den hohen Wert der Bestände nahm die stalinistische Führungkeinerlei Rücksicht: Nach der Liquidierung des Museums 1949 gingen sein Archiv und die Sammlungen in die Depots des Ethnografischen Museums, des Museums der Revolution und weiterer. Das von Il’ja Ehrenburg gesammelte Material zum Holocaust in Litauen ging verloren. Erst 1980 konnte das Schwarzbuch in Jerusalem erscheinen, damals noch ohne das litauische Kapitel, welches erst für die Auflage von 1993 rekonstruiert wurde. Die Marginalisierung der jüdischen Opfer, ja deren Stigmatisierung erfolgte zudem durch die gezielte Ausradierung der Spuren jüdischer Geschichte und Kultur in der städtischen Topografie von Vilnius. So wurden die Reste der Großen Synagoge von Vilnius abgerissen, die jüdischen Friedhöfe dem Erdboden gleichgemacht und als Bauland für neue Wohnhäuser genutzt, die Grabsteine ohne jegliche Skrupel als Stufen für die monumentalen Treppen verwendet. In sowjetischen Reisebüchern fand die lange jüdische Tradition einer Stadt, die ehemals als „Jerusalem des Nordens“ galt, keine Erwähnung.
Die Politik der Erinnerungstilgung ging mit der faktischen Stigmatisierung der jüdischen Mitbürger als „Agenten des kapitalistischen Westens“ in der sowjetischen Presse einher. Angestrebt wurde hiermit eine ideologische Unterfütterung der antisemitischen Terrorpolitik Stalins und der Strafprozesse, die gegen die sog. „Mörder in weißen Kitteln“ (Ärzte-Prozess 1953), die sog. „wurzellosen Kosmopoliten“ oder die Mitglieder des jüdischen Antifaschistischen Komitees ausgetragen wurden. Die Träger der Erinnerung an Juden als Opfer bzw. Helden des Krieges wurden nicht nur mundtot gemacht, sondern auch physisch vernichtet, wie der Theaterregisseur und Vorsitzende des jüdischen Antifaschistischen Komitee Solomon Michoels im Jahr 1948. Nach seinem Tod wurden weitere Mitglieder des antifaschistischen Komitees verhaftet und mehrere von ihnen zur höchsten Strafe verurteilt.
Die Presseartikel dieser Jahre geben das deutliche antijüdische Propaganda-Bild wieder: So schreibt Sovetskaja Litva am 30. Januar 1953: “Noch gibt es zu wenig Publikationen, die die Helfershelfer der amerikanisch-britischen Imperialisten entlarven - nämlich die litauischen und jüdischen bourgeoisen Nationalisten und den Klerikalismus.“ Der Nachkriegsgesellschaft sollte die provozierende Frage Stalins „warum diese eine Nation hervorheben?“ als rhetorisch erscheinen. Der Grundsatz des proletarischen Internationalismus wurde dagegen zum Diskursrahmen aller Fragen zum nationalen Selbstverständnis.
Gerade diese Verwischung der Opferidentität unterzieht Kanovic einer scharfen Kritik: Erst recht sollte die jüdische Gemeinde Litauens nun als Schicksalsgemeinschaft gesehen werden, ein Kollektiv, das durch doppelte Schicksalstragik gekennzeichnet ist – zum Einen durch die fast vollständige Vernichtung im Holocaust, zum Anderen durch die gewaltsame Verfolgungspolitik im Stalinismus.
Die engagierte Rede Kanovics zeugt vom schwierigen und mühsamen Unterfangen, die jüdische Kultur und Geschichte nach so vielen Jahren der Verdrängung wieder in die öffentliche Diskussion zurückzubringen. Abermals, 45 Jahre nach Kriegsende, war es dem aktiven und oft selbstlosen Handeln Einzelner zu verdanken, dass Zeugnisse der jüdischen Kultur der Vorkriegszeit sowie die materiellen Beweisstücke der Massenvernichtung aufgefunden und im Museum ausgestellt werden konnten. Die schwierige Aufgabe bestand nun darin, diese bei sämtlichen Institutionen oder Privatpersonen aufzuspüren und ihre Herausgabe anzufordern. Zunächst gab es noch einen starken Rückenwind durch die politische Elite: Eines der ersten erinnerungspolitischen Anordnungen des Obersten Rates des Unabhängigen Litauens am 8. Mai 1990 „Zum Genozid am jüdischen Volk“ betraf die tragischen Ereignisse während des Zweiten Weltkriegs.
Heute ist der Umgang mit dem Holocaust in Litauen ein schwieriges Thema für die litauische Gesellschaft. Die Versuche der 1990er Jahre, die Erinnerung an den Holocaust in Litauen zum Teil einer nationalen Erinnerungskultur und Identität werden zu lassen, wurden nur halbwegs verwirklicht. In nationalkonservativen Kreisen stoßen jüdische Erinnerungsdiskurse oft auf Ablehnung. Dies geschieht nicht zuletzt aus dem Grund, dass die Auseinandersetzung mit den Opfern zur Frage nach den Tätern und damit der Mittäterschaft der Litauer führt. Sehr kontrovers wurde auch die Rede des damaligen Präsidenten Algirdas Brazauskas 1995 in der Knesset und seine Bitte um Vergebung für litauische Bürger aufgenommen. Mit der Zeit hatte sich der starke antisowjetische Impuls der frühen 1990er Jahren in den Reden und Schriften der jüdischen Gemeinde Litauens abgemildert, der Druck auf die politischen Eliten Litauens, sich mit der Täterrolle im Zweiten Weltkrieg auseinanderzusetzen, nahm dagegen stark zu. Vor allem in den Pressedebatten an den Gedenktagen im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg – dem Molotow-Ribbentrop-Pakt, Anfang und Ende des Krieges gegen die Sowjetunion – tritt die „Opferkonkurrenz“ zwischen Litauern und Juden besonders deutlich hervor. Gegenwärtig bestimmt der Konflikt zwischen dem Erinnerungsdiskurs der jüdischen Gemeinde und jenem der nationallitauischen Geschichtspolitik die litauische Erinnerungslandschaft.
[1] Essay zur Quelle: Grigori Kanovičs, Rede zur Vereinsgründung der Kulturgesellschaft Juden Litauens (Vilnius, 5. März 1989); [Übersetzung, Auszüge].
[2] Atamuk, Solomon, THE HARD LONG ROAD TOWARD THE TRUTH: On The Sixtieth Anniversary Of The Holocaust In Lithuania, in: Lituanus, 47, 4, 2011. Online-Ausgabe verfügbar unter der URL http://www.lituanus.org/2001/01_4_03.htm (15.09.2011).
Literaturhinweise
Atamuk, Solomon, Juden in Litauen. Ein geschichtlicher Überblick vom 14. bis 20. Jahrhundert. Konstanz 2000.
Kohrs, Michael, Die offizielle Darstellung des Holocaust in Litauen, in: Bartusevicius, Vincas, Tauber, Joachim, Wette, Wolfram (Hrsg.): Holocaust in Litauen. Krieg, Judenmorde und Kollaboration im Jahre 1941. Köln 2003, S. 247-261.
Lipphardt, Anne, Post-Holocaust Reconstruction of Vilnius, „the most yiddisch city in the world”, in New York, Israel and Vilnius, In: Ab Imperio 4, (2004), S. 167-191.
Richter, Klaus, Der Holocaust in der litauischen Historiographie seit 1991, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 56 (2007), H. 3. S. 389 - 415.
Schulze Wessel, Martin, Götz, Irene, Makhotina, Ekaterina (Hrsg.), Vilnius. Geschichte und Gedächtnis einer Stadt zwischen den Kulturen. Frankfurt a. M. 2010, S. 74-114.