Appell an das Gewissen - Fridtjof Nansen und die Russische Hungerhilfe 1921-23

Die ausgewählte Quelle ist in mancher Hinsicht das Dokument eines Scheiterns. Fridtjof Nansens flammender 1921 an die Mitglieder des Völkerbunds gerichteter Appell, der Sowjetunion im Angesicht einer gewaltigen Hungersnot Regierungskredite zu gewähren, verhallte ungehört. Gleichzeitig steht die Rede Nansens am Ausgangspunkt eines der größten vor allem von privaten Initiativen getragenen humanitären Hilfseinsätze des 20. Jahrhunderts. Er vereinte private Hilfsorganisationen unterschiedlicher geografischer und politischer Herkunft in ihren Bemühungen; auf dem Höhepunkt wurden täglich bis zu 11 Millionen Menschen mit Nahrung, Kleidung und Medizin versorgt, in einem Gebiet, das sich in etwa von Kasan im Norden Russlands bis zu den Mündungen von Wolga und Don im Schwarzen und Kaspischen Meer über nahezu tausend Kilometer erstreckte.[...]

Appell an das Gewissen Europas - Fridtjof Nansen und die russische Hungerhilfe 1921-23[1]

Von Daniel R. Maul

Die ausgewählte Quelle ist in mancher Hinsicht das Dokument eines Scheiterns. Fridtjof Nansens flammender 1921 an die Mitglieder des Völkerbunds gerichteter Appell, der Sowjetunion im Angesicht einer gewaltigen Hungersnot Regierungskredite zu gewähren, verhallte ungehört. Gleichzeitig steht die Rede Nansens am Ausgangspunkt einer der größten vor allem von privaten Initiativen getragenen humanitären Hilfseinsätze des 20. Jahrhunderts. Er vereinte private Hilfsorganisationen unterschiedlicher geografischer und politischer Herkunft in ihren Bemühungen; auf dem Höhepunkt wurden täglich bis zu 11 Millionen Menschen mit Nahrung, Kleidung und Medizin versorgt, in einem Gebiet, das sich in etwa von Kasan im Norden Russlands bis zu den Mündungen von Wolga und Don im Schwarzen und Kaspischen Meer über nahezu tausend Kilometer erstreckte. Nansens Rede, gehalten vor dem Genfer Völkerbund als Repräsentant einer Vereinigung von Nichtregierungsorganisationen und gerichtet an die Vertreter nationaler Regierungen, dokumentiert darüber hinaus eine neuartige Konstellation, die für den internationalen Humanitarismus des 20. Jahrhunderts prägend werden sollte: Humanitäres Handeln, so lässt sich hier verdeutlichen, wurde nach dem Ersten Weltkrieg zu einem Aktionsfeld, auf dem staatliche, nicht-staatliche und internationale Akteure mit ganz unterschiedlichen, zuweilen widerstreitenden Motiven interagierten.

Als im Frühsommer 1921 eine langanhaltende Periode der Trockenheit die “Kornkammern” Russlands und der Ukraine ausdörrte, war vielen Beobachtern klar, dass ihr eine humanitäre Katastrophe gewaltigen Ausmaßes folgen würde. Im dritten Jahr in Folge drohte die Ernte in den Getreideanbaugebieten an Don und Wolga weit unter Durchschnitt auszufallen. Die Trockenheit traf auf ein ausgeblutetes Land, dessen Menschen und Ressourcen durch einen fast sieben Jahre andauernden Ausnahmezustand aus Krieg, Revolution und Bürgerkrieg ausgezehrt waren. Nach Schätzungen waren bis zu 20 Millionen Menschen unmittelbar vom Hungertod bedroht.[2] Verschärft wurde ihre Lage durch die Politik der aus dem Bürgerkrieg siegreich hervorgegangenen Bolschewiki, die der Versorgung ihrer Basis in den Städten oberste Priorität einräumten. Misstrauisch und unter dem Eindruck der noch frischen Erinnerung an die großzügige Unterstützung, die die Großmächte im Bürgerkrieg der gegnerischen Seite gewährt hatten, sträubten sich Lenin und seine Mitstreiter lange, Hilfe von außen zu erbitten. Erst als das Ausmaß der drohenden Katastrophe im Juli sichtbar wurde und die Stabilität des Regimes ernsthaft in Gefahr zu geraten drohte, vollzogen sie einen Schwenk. Am 16. Juli schließlich signalisierte ein Appell des Schriftstellers Maxim Gorki, in Telegrammform gerichtet “an alle wohlmeinenden Völker”[3], die Öffnung des Sowjetregimes für humanitäre Hilfe von außen.

Der Ruf fand Gehör. Das Internationale Rote Kreuz ergriff die Initiative und versammelte Mitte August 30 Nichtregierungsorganisationen aus 22 Ländern, sowie die Vertreter einer Reihe von kleineren europäischen Regierungen in Genf[4], um eine konzertierte Hilfsaktion zu initiieren. Als treibende Kraft im Hintergrund agierte dabei auch das Sekretariat des ein Jahr zuvor gegründeten Völkerbunds, das auf diese Weise hoffte, sich als Schaltstelle für einen möglichen folgenden internationalen Einsatz in Stellung bringen zu können. Aus dem Treffen ging die Gründung eines International Committee for Russian Relief (ICRR) hervor, das die Hilfe koordinieren und der Sowjetregierung als gemeinsame Vertretung in Verhandlungen gegenübertreten sollte. Zum Hohen Kommissar für die Hilfe in Russland wählte das Komitee den norwegischen Vertreter beim Völkerbund Fridtjof Nansen (1861-1930).[5] Als Leiter bedeutender Polarexpeditionen zu Ruhm gelangt, gehörte Nansen zu den bekanntesten Persönlichkeiten seiner Zeit. Er war neben seinem Landsmann Roald Amundsen und dem Schweden Sven Hedin eine der großen Entdeckerfiguren des Zeitalters. Darüber hinaus verfügte Nansen über ein breites Netz an internationalen politischen Kontakten vor allem in Großbritannien, wo er als erster Botschafter Norwegens nach der Loslösung des Landes von Schweden 1905 gedient hatte.[6] Im letzten Jahr des Ersten Weltkriegs hatte ihn die Regierung in Christiania (dem heutigen Oslo) in die USA entsandt, um die prekäre Versorgung des Landes mit Getreide und anderen wichtigen Gütern sicherzustellen. Die Reise bedeutete den eigentlichen Auftakt für die zweite Karriere Nansens, die ihn in wenigen Jahren zu einer der Ikonen des internationalen Humanitarismus wachsen ließ. Tief beeinflusst von den Ideen Woodrow Wilsons nahm er als Vertreter Norwegens an den Pariser Friedensverhandlungen teil und wohnte als Vorsitzender der norwegischen Gesellschaft für den Völkerbund dessen Gründung bei. Im Frühjahr 1920 wurde Nansen vom Völkerbund die delikate Aufgabe übertragen, in enger Zusammenarbeit mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) den Austausch von hunderttausenden seit dem Weltkrieg internierten Kriegsgefangenen zwischen Russland auf der einen und dem Deutschen Reich sowie den Nachfolgestaaten der Donaumonarchie auf der anderen Seite zu koordinieren.[7] Die erfolgreiche Durchführung dieser Mission und die zur selben Zeit einsetzende Arbeit für russische Flüchtlinge in Europa im Sekretariat des Völkerbunds machten Nansen zum quasi natürlichen Kandidaten für die Leitung der russischen Hungerhilfeaktion.

Die Umstände unter denen die “Nansen-Mission”, als welche die ICRR-Hilfe gewöhnlich tituliert wurde ihre Arbeit aufnahm, hätten dabei kaum widriger sein können. Keines der Mitglieder des Völkerbundes unterhielt zu diesem Zeitpunkt diplomatische Beziehungen mit der Regierung in Moskau, eine Tatsache die die Verhandlungen mit der Sowjetregierung zu einer politisch brisanten Angelegenheit machte. Dies war freilich nicht die einzige Hürde, die sich vor einem Erfolg des Unternehmens auftürmte. Vielmehr bewegte sich die Nansen-Mission in einem Spannungsfeld aus unterschiedlichen, zuweilen gegensätzlichen Interessen und Strömungen, die den internationalen Humanitarismus in der Phase unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs kennzeichneten.[8]

In den meisten industrialisierten Ländern Westeuropas hatte es im Fall von Kriegen, Hungersnöten und Naturkatastrophen spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts lose und ad hoc organisierte Formen humanitärer Hilfe über nationale Grenzen hinweg gegeben. Die Träger waren zivilgesellschaftliche Komitees und Vereine, manche religiös motiviert, andere mit säkularem Hintergrund. Der Erste Weltkrieg stellte für fast alle diese Gruppen eine Wasserscheide dar, insbesondere, da die kriegführenden Nationen sämtliche vom eigenen Territorium ausgehenden Hilfsaktivitäten den Kriegszielen unterzuordnen und zu koordinieren begannen. Die Folge war eine nie zuvor erreichte „Nationalisierung“ internationaler Hilfe, die auch nach 1918/19 und dem Ende der offiziellen Kontrollen und bei Beginn der russischen Hilfsaktion noch ihre Wirkungen zeigte.

In ganz besonders hohem Maße traf dies auf die nationalen Teilgesellschaften des 1864 gegründeten Internationalen Roten Kreuzes (IRK) zu, die vielerorts schon vor 1914 semi-offiziellen Status hatten.[9] Der Krieg brachte für das gesamte Rote Kreuz einen enormen Wachstumsschub mit sich. Es erweiterte seine Aufgaben (etwa in der Kriegsgefangenenbetreuung) weit über das ursprünglich eng auf die Versorgung von Kriegsverwundeten begrenzte Mandat hinaus. Zur selben Zeit verschärfte der Krieg den strukturellen Dualismus innerhalb des Internationalen Roten Kreuzes - zwischen dem Internationalen Komitee, einem zu diesem Zeitpunkt ausschließlich aus Genfer (später Schweizer) Bürgern zusammengesetzten Honoratiorengremium einerseits, und den nationalen Teilgesellschaften andererseits. Für letztere, die finanziell und organisatorisch das Gros der praktischen Arbeit des Roten Kreuzes auf ihren Schultern trugen, war der Krieg der letzte Auslöser auch organisatorisch größere Eigenständigkeit vom Genfer Komitee anzustreben. Dies spiegelte sich insbesondere in der von einigen größeren Teilgesellschaften, den Briten, Franzosen, vor allem aber vom Amerikanischen Roten Kreuz (American Red Cross – ARC) forcierten Gründung der Liga der Rotkreuzgesellschaften 1919. Damit einher ging der Wunsch nach einer Erweiterung der Aufgaben des Roten Kreuzes in Friedenszeiten bis hin zum ebenfalls anfänglich vom ARC vertretenen Umbau des IRK zu einer Art Weltgesundheits- und Nothilfeorganisation, die parallel zum Völkerbund agieren sollte. Der resultierende Konflikt zwischen der Liga und dem IKRK, das bei Verwirklichung der Pläne einen Bedeutungsverlust innerhalb der Rotkreuzfamilie fürchtete, erreichte unmittelbar vor Beginn der Planungen für die Russlandhilfe seinen Höhepunkt.[10] Die Übernahme der Koordinatorenrolle durch das IKRK war vor dem skizzierten Hintergrund auch als Teil einer Strategie zu werten, durch die das Genfer Komitee seinen Einfluss auf die Entwicklung des Roten Kreuzes gegenüber der Liga und den starken Einzelverbänden zu behaupten suchte. Dagegen agierten innerhalb des ICRR einige der beteiligten Rotkreuzgesellschaften, wie die Briten und Schweden, von Anbeginn eigenständig und in enger Absprache mit ihren jeweiligen Regierungen.

Neben dem Roten Kreuz wurde die Russlandhilfe aber auch zum Testfall für einen gänzlich neuen Typus der Hilfsorganisation, für den vor allem der 1919 von den britischen Philanthropinnen Eglantyne Jebb und Dorothy Buxton gegründete Save the Children Fund (SCF) stand. Der SCF war ursprünglich aus der Taufe gehoben worden, um Kinder in den ehemaligen Feindstaaten Deutschland und Österreich-Ungarn vor einer Hungerkatastrophe zu retten, für die man die nach dem Waffenstillstand von 1918 anhaltende Blockadepolitik der Entente verantwortlich machte.[11] Für Save the Children und andere mit ihm verbündete zivilgesellschaftliche Gruppen, die sich teilweise in der Tradition eines pazifistischen Internationalismus sahen (wie etwa die Hilfsorganisationen der Quäker), war die Russlandhilfe eine willkommene Gelegenheit, ihren Anspruch zu erneuern, Humanitarismus als Werkzeug einer Versöhnungspolitik jenseits der Unmenschlichkeit der „hohen Politik“ (aber durchaus in Zusammenarbeit mit dieser) einzusetzen.[12]

Daneben stellte die russische Hungerhilfe einen Kulminationspunkt der Versuche des Völkerbundssekretariats dar, Kompetenzen im Bereich der internationalen Not- und Krisenhilfe an sich zu ziehen. Für den jungen Völkerbund, dessen Mitarbeiter für sich in Anspruch nahmen, das Erbe des Vorkriegsinternationalismus im umfassendsten Sinne zu repräsentieren und zu bündeln, brachten diese frühen Jahre einen steten Kampf um Kompetenzen mit sich.[13] Widerstand erfuhr dieser Anspruch dabei nicht nur von Seiten der Mitgliedsstaaten, sondern auch von etablierten auf diesem Feld tätigen bestehenden Organisationen, allen voran dem Roten Kreuz. Die russische Hungerkatastrophe stellte vom Zeitpunkt und Umfang her eine Art frühen Kulminationspunkt in dieser dreiseitigen Auseinandersetzung dar. Nansens ausführlicher Rekurs auf den Völkerbund als einzig sinnvoller Koordinationsstelle eines künftigen internationalen Einsatzes zur Rettung der russischen Hungernden in der hier dokumentierten Rede war in diesem Sinne an beide Seiten gerichtet. Sie war darüber hinaus Ausdruck von Nansens Loyalität gegenüber dem Völkerbund und seiner Übereinstimmung mit dessen Zielen. Weite Passagen von Nansens Rede stammten aus der Feder von Nansens engem Vertrauten Philip Noel-Baker[14] seinerzeit persönlicher Assistent von Generalsekretär Eric Drummond.[15]

Dessen ungeachtet standen die Bemühungen der Genfer Liga, sich an die Spitze einer umfassenden Hilfsaktion zu stellen, von Anfang an unter einem schlechten Stern. Hierzu trug zunächst die Tatsache bei, dass die Sowjetunion kein Mitglied des Völkerbundes war, die Hilfe folglich als „außenpolitische“ Handlung seiner Mitglieder gelten würde. Der Umgang mit der Sowjetunion als staatlichem Gebilde betraf exakt den Kern des Problems, den auch Nansen in seiner Rede ansprach. Betrachtete man die Sowjetregierung als Paria, den es zu isolieren galt oder war Russland selbst unter bolschewistischer Herrschaft wenigstens potenziell als künftiges vollwertiges Mitglied der Staatengemeinschaft anzusehen? Im letzteren Fall, und darauf hob Nansen ab, war humanitäre Hilfe aus diplomatischer wie wirtschaftlicher Sicht ein Gebot der Stunde. Die Mehrzahl der Mitglieder des Völkerbundes, unter ihnen auch die britische Regierung, stand freilich zu diesem Zeitpunkt ersterer Option nahe.

Ein weiterer und nicht weniger gravierender Startnachteil beim Versuch des Völkerbundes, eine Führungsrolle bei der Bewältigung der russischen Hungersnot zu übernehmen, bestand in der Nicht-Mitgliedschaft der USA. Dieser Geburtsfehler der Genfer Liga wirkte sich hier besonders schwerwiegend aus, waren es doch die USA gewesen, die während des Ersten Weltkrieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit für einen Großteil aller humanitären Hilfsleistungen in Europa aufgekommen waren und die im Vergleich zum den durch den Krieg ausgezehrten Ökonomien Europas über ein Vielfaches an Ressourcen geboten. Noch vor Anlauf der eigentlichen Hilfsaktion in Russland im Sommer 1921 wurde überdeutlich, was dies bedeutete:

Als Nansen Ende August in die lettische Hauptstadt Riga reiste, um dort mit dem sowjetischen Volkskommissar des Äußeren Georgi Cicerin in Verhandlungen um ein Hilfsabkommen einzutreten, war dem ICRR vor Ort bereits ein mächtiger Konkurrent in Gestalt der American Relief Administration (ARA) erwachsen. Die ARA war 1919 als halbstaatliche Organisation gegründet worden, die die gesamte US-amerikanische Hilfe für das kriegsversehrte Europa nach dem Ersten Weltkrieg zentral bündelte. Ihr Leiter, der damalige amerikanische Handelsminister und spätere Präsident Herbert Hoover, hatte während des Ersten Weltkriegs eine hohe Reputation als Organisator des Hilfseinsatzes für das von Deutschland besetzte Belgien erworben. Unter Hoovers Leitung wurde die ARA nach 1919 als schlagkräftige und hocheffiziente Organisation aufgebaut, unter deren Dach verschiedene private Hilfsgruppen operierten. Die ARA verknüpfte ihr humanitäres Mandat mit einem Selbstverständnis, welches keinesfalls im Widerspruch zur Durchsetzung amerikanischer politischer und wirtschaftlicher Interessen stehen sollte. Dazu gehörte nicht zuletzt die Interpretation der eigenen Rolle als Gegengewicht gegen den Vormarsch des Kommunismus. Nicht trotz, sondern gerade wegen dieser Haltung zögerte Hoover nach dem Erhalt des Gorki-Telegramms keinen Moment, der Sowjetunion die Hilfe der ARA anzubieten. Nach seiner Überzeugung bot sich hier die Gelegenheit, mit der Beseitigung des Hungers im direkten Kontakt mit der russischen Bevölkerung auch eine der maßgeblichen Ursachen für die Unterstützung des kommunistischen Regimes zu beseitigen. Darüber hinaus hoffte Hoover amerikanische Getreideüberschüsse absetzen und der US-Farmindustrie für die Zukunft Märkte erschließen zu können.[16]

Über all dies gab sich die Sowjetregierung keinerlei Illusionen hin, umso weniger als die ARA in ihrer vorangegangen Arbeit in Mittel- und Osteuropa mehr als einmal “food as a weapon” eingesetzt hatte.[17] Der Grund, warum Lenin sich auf ein Abkommen einließ, war schlicht, dass es zur amerikanischen Hilfe keine Alternative gab. Gegenüber dem, was der ARA an Erfahrung, erprobter Effizienz, vor allem aber an aus Kongressgeldern gespeisten unmittelbar verfügbaren materiellen Ressourcen zur Verfügung stand, war alles, was Nansen und das ICRR als einer de facto europäischen Organisation in Russland zu bieten hatten, geradezu lächerlich wenig. Die ARA verfügte in Mitteleuropa über einen Stab von geschulten Mitarbeitern, eine funktionierende Logistik und umfangreiche Bestände an sofort einsatzfähigen Hilfsgütern. Die Nansen-Mission hatte nichts davon. Diese Unterschiede fanden in den jeweiligen Abkommen ihren deutlichen Ausdruck, die die ARA und Nansen im Abstand von einer Woche mit der sowjetischen Regierung (die ARA am 20. August, Nansen am 27. August) schlossen: Die Amerikaner sicherten sich dabei weitgehende Zugeständnisse - die gesamte Hilfsaktion, von der Entladung bis zur Verteilung blieb in ihrer Hand und die Sowjets mussten die Bezahlung eines Teils der Hilfsgüter aus russischen Goldreserven bestreiten. Im Gegenzug übernahmen die sowjetischen Behörden gemäß dem Abkommen mit dem ICRR die Verteilung der Güter unter eigene Regie. Die gesamte Aktion sollte unter Aufsicht eines paritätisch bestückten Komitees ablaufen, wobei die sowjetische Seite faktisch in allen entscheidenden Fragen das letzte Wort behielt. Besonders folgenreich war jedoch eine weitere Passage des Abkommens. Gerade um die materielle Unterlegenheit gegenüber den Amerikanern auszugleichen, hatte Nansen sich im Vertrag mit Cicerin dazu verpflichtet, als Vermittler eines umfangreichen Regierungskredits der europäischen Mächte an die Sowjetunion zu fungieren. Diese Abmachung sollte sich als schwere Hypothek erweisen. Als Nansen im September sein Anliegen vor dem Völkerbund vertrat, wurde deutlich, dass kaum eine europäische Regierung und am allerwenigsten die in erster Linie angesprochenen Großmächte Großbritannien und Frankreich dazu bereit waren, der Sowjetunion finanziell unter die Arme zu greifen. Dagegen stand in beiden Ländern eine überwiegend anti-bolschewistische öffentliche Meinung, die dem Anliegen, Steuergelder für die russische Hungerhilfe einzusetzen, entschieden entgegentrat. Lautstarke russische Exilantenkreise in den europäischen Hauptstädten taten ein Übriges, die Ansicht zu befördern, die Hungerhilfe werde lediglich der Stützung eines ansonsten zum Tode verurteilten instabilen Regimes dienen. Für die Regierungen sprach weiterhin gegen die Kredite, dass die Sowjetregierung im Gefolge der Revolution ausländisches Kapital entschädigungslos enteignet hatte und sich darüber hinaus weigerte, die Kreditschulden der zaristischen Vorgängerregierung zu begleichen. Das kaum verhüllte Ziel, das die Sowjetregierung mit dem Nansen-Abkommen verband, war denn auch, über den Umweg der Hungerkredite einen Einstieg in die Normalisierung der seit dem Ende des Bürgerkriegs vollständig ruhenden Handelsbeziehungen mit dem kapitalistischen Ausland zu schaffen. Früh wurde klar, dass die Chancen hierfür trotz einiger prominenter Fürsprecher wie David Lloyd George gegen null tendierten: Nansens doppelter Appell an das humanitäre Gewissen Europas und das wohlverstandene Eigeninteresse der Regierungen, der russischen Wirtschaft zum Zwecke des europäischen Wiederaufbaus wieder auf die Beine zu helfen, stießen aus diesem Grund auf taube Ohren. Es half nichts, dass Nansen sich auf ein breites Spektrum von Unterstützern berufen konnte, die von Papst Benedikt XV. über die anglikanische Geistlichkeit in Großbritannien bis hin zur Zweiten (sozialistischen) Internationale reichte.

Mit der Kreditinitiative scheiterten gleichzeitig auch alle Bemühungen des Völkerbundes um eine Führungsrolle innerhalb der Russlandhilfe. Baker hielt formal den Kontakt zur Nansen-Mission im Namen des Generalsekretärs aufrecht, ansonsten waren der Genfer Liga jedoch ohne Regierungsunterstützung die Hände gebunden. Die während der Völkerbundsitzung von den Regierungen zur weiteren Beratung über eine mögliche Finanzhilfe an die Sowjetunion beschlossene Konferenz im Oktober 1921 in Brüssel führte wie erwartet zu keinem Ergebnis und hatte, wie Nansen und seine Mitstreiter wohl richtig annahmen, von Anfang an nur dilatorischen Zwecken gedient.

Dies hatte zur Folge, dass die Nansen-Mission aus den privaten, hauptsächlich über Spenden eingeworbenen Mitteln der einzelnen Mitgliedsorganisationen des ICRR finanziert werden musste. Aus diesen Umständen ergab sich für Nansen im Spektrum der russischen Hungerhilfe nahezu zwangsläufig eine Nebenrolle: Von der insgesamt bis 1923 (dem Zeitpunkt an dem die letzten Helfer das Land verlassen hatten) geleisteten Hilfe entfielen rund 83% auf die ARA und etwa 13 % auf alle unter dem Dach des ICRR agierenden Organisationen.[18]

Dass der Nansen-Mission im Nachhinein weit überproportionale Anteile an der russischen Hungerhilfe zugeschrieben wurden (so erhielt für seine Verdienste um den Einsatz Nansen und nicht etwa Hoover den Friedensnobelpreis 1922) hatte unterschiedliche Ursachen: Neben Nansens hohem Bekanntheitsgrad und dem im Vergleich zur technokratisch-interessengesteuerten Politik der ARA nach außen hin “reinerem” humanitären Profil der europäischen Hilfe kam wohl auch der Haltung der Sowjetunion eine gewisse Bedeutung zu: Diese ließen im Verlauf der Hilfsaktion nichts unversucht, um die Bedeutung der ARA-Hilfe herunterzuspielen und die Nansen-Mission aufzuwerten. Aus ihrer Sicht war Nansen trotz seiner gescheiterten Bemühungen, Regierungskredite zu sichern, ein nützliches Gegengewicht zur ARA, die von Anfang an in den Worten Trotzkijs als “feindliche Kraft” angesehen wurde. Der dadurch entstandene Eindruck, dass Nansen von der sowjetischen Regierung hofiert werde, war wiederum ein wesentlicher Faktor, der bald zum Auseinanderbrechen des ICRR führte. Viele sahen das, was sie als Resultat von Nansens übergroßem Entgegenkommen gegenüber den Forderungen der Bolschewiki interpretierten, mit Skepsis und distanzierten sich in der Folge von der Mission. Einige größere Gruppen wie die nationalen Rotkreuzgesellschaften Großbritanniens und Schwedens oder der britische Save the Children Fund (SCF) arbeiteten faktisch eigenständig außerhalb des ICRR, schlossen gesonderte Abkommen mit den Sowjets oder suchten die Zusammenarbeit mit der ARA. Das negative Bild wurde komplettiert durch die nicht enden wollende Kritik an der Inkompetenz von Nansens engerem Mitarbeiterstab (als einzige Ausnahme galt weithin Nansens Gesandter für die Ukraine, ein junger norwegischer Armeeoffizier, dessen Name - Vidkun Quisling - rund zwei Jahrzehnte später zum Synonym für den Typus des Nazi-Kollaborateurs wurde).

Bis in den Sommer 1922 hatte sich die Lage in den Hungergebieten weitgehend stabilisiert, die Ernte fiel erstmals nach drei Jahren wieder normal aus. Damit fiel der unmittelbare Grund für die Anwesenheit der ausländischen Helfer weg und die Sowjets begannen damit, diese zum zügigen Abzug beziehungsweise zur Übertragung von Material und Arbeit in die Verantwortung der sowjetischen Behörden zu bewegen. Nur wenige der Helfer blieben über den Jahreswechsel 1922/23 hinaus im Land. Nansen selbst versuchte sich nach dem Scheitern seiner Kreditinitiative mit der Einrichtung zweier Musterfarmen an einem eigenen längerfristigen Beitrag zum sowjetischen Wiederaufbau. Nur wenige Jahre später fielen diese den Stalinschen Kollektivierungen zum Opfer.

Nansens humanitäre Karriere war mit dem Ende der russischen Hungerhilfe noch nicht an ihr Ende gelangt. Im Gegenteil festigten die acht Jahre bis zu seinem Tod 1930 seinen Ruf weiter. Als Hoher Kommissar des Völkerbundes für Flüchtlingsfragen überwachte Nansen den (von den Zeitgenossen noch nicht durchgehend als tragischer Fehlschlag gesehenen) griechisch-türkischen Bevölkerungstransfer 1923 und bemühte sich um die Ansiedlung armenischer Flüchtlinge aus der Türkei in der Sowjetunion. “Nansen-Hilfe” und “Nansen-Mission” traten nun zwei weitere mit seinem Namen verbundene humanitäre Institutionen zur Seite: Im posthum in “Nansen-Amt” getauften Flüchtlings-Hochkommissariat (dem Vorläufer des heutigen UNHCR) und den so genannten Nansen-Pässen, die der Masse der Staatenlosen im Nachkriegseuropa (in der überwiegenden Mehrzahl Flüchtlinge aus Russland!) ein Minimum an rechtlicher Sicherheit verliehen. In der Verleihung des Friedensnobelpreises an das Nansen-Amt für Flüchtlinge im Jahr 1938 erfuhr Nansens humanitäres Wirken im Rahmen des Völkerbundes eine weitere späte Würdigung.

Dies kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass von dem größeren Projekt, das mit Nansens Appell an das europäische Gewissen verbunden gewesen war, kaum mehr als Ansätze verwirklicht werden konnten. Das Ziel, den Völkerbund als eine Art humanitärer Koordinierungsstelle zu etablieren scheiterte dabei ebenso wie die damit verbundene Vision, humanitäre Hilfe als Baustein bei der Konstruktion einer allumfassenden und nachhaltigen europäischen Friedensordnung zu nutzen.

Ähnlich wie Nansens Initiative erging es auch allen folgenden Versuchen der Genfer Liga, sich während der Zwischenkriegszeit zum Zentrum eines international wirksamen Hilfsregimes zu machen. Deutlich wurde dies am Schicksal des parallel zum Einsatz in Russland vom Präsidenten des italienischen Roten Kreuzes angestoßenen “Ciraolo-Projektes”. Es stellte den ehrgeizigen Versuch dar, unter dem Dach des Völkerbundes eine auf dem Prinzip der gegenseitigen Versicherung beruhende internationale Not- und Katastrophenhilfeorganisation ins Leben zu rufen. Die 1927 nach langen zermürbenden Diskussionen schließlich aus der Taufe gehobene International Relief Union (IRU) spiegelte in ihrer rudimentären Ausstattung und resultierenden Bedeutungslosigkeit dann auch vor allem die mangelnde Bereitschaft der Regierungen wider, ein potenziell wirksames Mittel nationaler Politik aus der Hand zu geben.[19] Aus ähnlichen Gründen zählt die Bereitstellung und Verteilung von Hilfsgeldern und –gütern auf globaler und regionaler Ebene, auch wenn hier in der Phase nach 1945 länderübergreifende Strukturen entstehen sollten, bis in die Gegenwart zu den am wenigsten geregelten Bereichen internationalen Lebens.

Vor diesem Hintergrund kann Nansens Rede vor dem Völkerbund im Herbst 1921 denn auch vor allem als Indikator für ein auch in Europa erwachendes Bewusstsein für die politische Dimension humanitärer Hilfe nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gewertet werden. Viele Regierungen erkannten nun, so zeigten unter anderem die Reaktionen auf Nansens Appell, deutlicher als zuvor das Potenzial, das humanitäre Hilfe als Mittel nationaler Imagepflege bzw. zur Verfolgung außenpolitischer und -wirtschaftlicher Ziele bot – Faktoren, die einer „Internationalisierung“ von Anfang an enge Grenzen setzten.

„Only people who can help (...) now, are Americans.“ So hatte Fridtjof Nansen selbst in einer ersten Antwort auf Maxim Gorkis Hilferuf die Lage am Ausgangspunkt der russischen Hilfsaktion realistisch zusammengefasst.[20] Die USA waren zu diesem Zeitpunkt das einzige Land, das fähig und dessen Regierung gleichzeitig willens war, im notwendigen Umfang Ressourcen für eine Hilfsaktion freizumachen. An der überragenden Bedeutung amerikanischer Hilfe, privat und staatlich, sollte sich bis zum Zweiten Weltkrieg, im Wesentlichen bis in die 1960er Jahre wenig ändern.

Eine deutliche Schubwirkung ging von der russischen Hungerhilfe gleichwohl auch für einige der anfangs unter dem Schirm des ICRR versammelten europäischen Nichtregierungsorganisationen aus. Der Einsatz stellte nicht zuletzt eine Feuerprobe für einen im Kern neuartigen und im Verlauf des 20. Jahrhunderts zunehmend einflussreichen Typus der Hilfsorganisation dar, der seine Hauptaufgabe in der Behebung von Missständen jenseits der eigenen nationalen Grenzen sah, und hierfür unter anderem neue mediale Strategien im Umgang mit Spendern und staatlichen Akteuren entwickelte. Die widrigen Umstände des Hilfseinsatzes ohne staatliche Unterstützung und gegen eine weitgehend kritische öffentliche Meinung, bedingten dabei besondere Anstrengungen. So erprobte Save the Children vor dem Hintergrund der russischen Hungerhilfe eine ganz neue Art professioneller Kampagnenführung und engagierte hierfür, erstmalig in der Geschichte der internationalen Hilfe, einen PR-Experten. Das Repertoire umfasste ganzseitige Anzeigen in Tageszeitungen ebenso wie einen eigens zum Zweck der Aufführung vor potentiellen Spendern angefertigten Dokumentarfilm aus den Hungergebieten – beides jeweils ein Novum in der Geschichte der Hilfstätigkeit –, die auf jeweils eigene Weise mit Bildern hungernder Kinder an die Großzügigkeit der Spender appellierten.[21] Der russische Hilfseinsatz war darüber hinaus ein nicht unerheblicher Schritt bei der Internationalisierung privater Hilfe. Er brachte NGOs aus unterschiedlichen Ländern zusammen, festigte die seit dem Ersten Weltkrieg bestehenden zivilgesellschaftlichen Verbindungen über nationale Grenzen hinweg, und gab so einen wichtigen Impuls für die Herausbildung einer aus der heutigen Perspektive wie selbstverständlich erscheinenden transnational wirkenden Hilfsgemeinschaft.



[1] Essay zur Quelle: Fridtjof Nansen, Speech on the Second Assembly of the League of Nations (24. September 1921); [Transkript].

[2] Eine reflektierte Einschätzung zu den Zahlen bei Rodney Breen, "Saving Enemy Children: Save the Children's Russian Relief Operation, 1921-1923", in: Disasters 18, 3 (1994), 221-38.

[3] Das Telegramm im englischen Wortlaut bei Roland Huntford, Nansen, London, 1997, 612f.

[4] Dazu gehörten viele nationale Rotkreuzgesellschaften ebenso wie der Internationale Gewerkschaftsbund und die Regierungen Norwegens, Schwedens und der baltischen Staaten.

[5] Die umfangreichste freilich überwiegend auf den Polarforscher Nansen konzentrierte Biographie Nansens ist Roland Huntford, Nansen, London 1997. Eine ausführliche Würdigung von Nansens Bedeutung im Spektrum des internationalen Humanitarismus findet sich bislang nur in der auf Norwegisch verfassten Dissertation von Carl Emil Vogt, Nestekjærlighet som realpolitikk. Fridtjof Nansens internasjonale og humanitære prosjekt 1920-1930, [Love of Man as Realpolitik. Fridtjof Nansen's International and Humanitarian Project 1920-1930] Oslo 2010. In englischer Sprache liegen vom selben Autor bislang nur kürzere Artikel vor: Ders.,"Fridtjof Nansen and European Food Aid to Russia and the Ukraine 1921–1923", in: The Twentieth Century/Dvacáte století 2 (2009), 40-49; ders., "Fridtjof Nansen. Peace 1922 ", in: Olav Njølstad (Hg.), Norwegian Nobel Prize Laureates. From Bjørnson To Kydland, Oslo 2006, 119-153.

[6] Nansen hatte bereits während der 1890er Jahre im Dienste der norwegischen Unabhängigkeitsbewegung ein enges Netz an Kontakten in Großbritannien geknüpft.

[7] Das Berliner Büro, über das der Austausch hauptsächlich organisiert wurde (die operationelle Durchführung lag in der Hand des Internationalen Roten Kreuzes), firmierte als “Nansen-Hilfe”. Zur Aktion Martyn Housden, "When the Baltic Sea was a "Bridge for Humanitarian Action": The League of Nations, the Red Cross and the Repatriation of Prisoners of War between Russia and Central Europe, 1920-22", in: Journal of Baltic Studies 38, 1 (2007), 61-63.

[8] Zur Geschichte des Humanitarismus siehe vor allem Michael Barnett, Empire of Humanity. A History of Humanitarianism, Ithaca 2011; ein guter Überblick auch über Trends der Forschung bei Bertrand Taithe, "Horror, Abjection and Compassion: From Dunant to Compassion Fatigue", in: New Formations 62, (2007), 123-36.

[9] Dieter Riesenberger, Für Humanität in Krieg und Frieden: Das internationale Rote Kreuz 1863-1977, Göttingen 1992; David P. Forsythe, The Humanitarians: The International Comittee of the Red Cross, New York 2005. Zur frühen Geschichte des IRK siehe John F. Hutchinson, Champions of Charity: War and the Rise of the Red Cross, 1996.

[10] Riesenberger, Rotes Kreuz, 83-126.

[11] Linda Mahood, Feminsm and Voluntary Action: Eglantyne Jebb and Save the Children Fund, 1876-1928, Basingstoke 2009.

[12] Linda Mahood/Vic Satzewich, "The Save the Children Fund and the Russian Famine of 1921-23: Claims and Counter-Claims about Feeding "Bolshevik" Children", in: Journal of Historical Sociology 22, 1 (2009), 55-83; Rodney Breen, "Saving Enemy Children: Save the Children's Russian Relief Operation, 1921-1923", in: Disasters 18, 3 (1994), 221-38.

[13] Aus der reichen neueren Literatur zum Völkerbund siehe vor allem Matthias Schulz/Eckhard Fuchs (Hg.), Globalisierung und transnationale Zivilgesellschaft in der Ära des Völkerbundes. (Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Nr. 10, Berlin 2006); ein Überblick über die englischsprachige Literatur bei Susan Pedersen, Back to the League of Nations, American Historical Review 112, 4 (2007), für eine Zusammenfassung im größeren Kontext: Madeleine Herren-Ösch, Internationale Organisationen seit 1865. Eine Globalgeschichte der internationalen Ordnung. Darmstadt 2009; Daniel Laqua (Hg.), Internationalism Reconfigured. Transnational Ideas and Movements between the World Wars, London/New York 2011.

[14] Philip (Noel-)Baker (1889-1982), britischer Minister unter Churchill und Attlee, nach seiner Zeit als Mitarbeiter im Sekretariat des Völkerbundes langjähriger britischer Delegierter beim Völkerbund in Genf und später bei den Vereinten Nationen, für seine Bemühungen um den internationalen Frieden mit dem Friedensnobelpreis 1959 ausgezeichnet.

[15] Huntford, Nansen, 619.

[16] Aus der Fülle von Literatur zur ARA ragt zum Einsatz in Russland heraus: Bertrand M. Patenaude, The Big Show in Bololand: The American Relief Expedition to Soviet Russia in the Famine of 1921, Stanford 2002. Das Standardwerk zum amerikanischen “foreign relief” im großen zeitlichen Bogen (ca. 1800-1960) ist nach wie vor Merle Curti, American Philanthropy Abroad, New Brunswick 1963.

[17] Gezielt waren in der Zeit ab 1919 durch die ARA labile parlamentarische Regierungen (in Deutschland, Österreich oder in der Tschechoslowakei) gestützt, während zumindest in zwei Fällen (im Ungarn unter der Räteherrschaft Bela Kuns und in Polen unter Pilsudski) Mittel mit dem Ziel zurückgehalten wurden, sozialistische Regierungen zu destabilisieren. Siehe Curti, American Philanthropy, 269f; Franz Adlgasser, American Individualism Abroad: Herbert Hoover, die American Relief Administration und Österreich, 1919-1923, Wien 1993..

[18] Vogt, Nansen and Russia, 41.

[19] John F. Hutchinson, "Disasters and the International Order: Earthquakes, Humanitarians, and the Ciraolo Project", in: International History Review 22, 1 (2000), 1-36. Ders,. "Disasters and the International Order: The International Relief Union", in: International History Review 23, 2 (2001), 253-98.

[20] Huntford, Nansen, 615.

[21] Zur Russlandkampagne des SCF Linda Mahood/Vic Satzewich, "The Save the Children Fund and the Russian Famine of 1921-23: Claims and Counter-Claims about Feeding "Bolshevik" Children", in: Journal of Historical Sociology 22, 1 (2009), 55-83.


Literaturhinweise

  • Bertrand Taithe, "Horror, Abjection and Compassion: From Dunant to Compassion Fatigue", in: New Formations 62, (2007), 123-36.
  • Carl Emil Vogt, "Fridtjof Nansen. Peace 1922", in: Olav Njølstad (Hg.), Norwegian Nobel Prize Laureates. From Bjørnson To Kydland, Oslo 2006, 119-53.
  • Daniel Laqua (Hg.), Internationalism Reconfigured. Transnational Ideas and Movements between the World Wars, London 2011.
  • Michael Barnett, Empire of Humanity. A History of Humanitarianism, Ithaca 2011.
  • Roland Huntford, Nansen, London 1997.

Fridtjof Nansen, Speech on the Second Assembly of the League of Nations (24. September 1921); [Transkript][1]

Dr. Nansen, the Delegate for Norway, will address the Assembly.

Dr. Nansen (Norway) – Mr. President and Gentlemen, I think the Assembly expects me to say a few words on the Report which has been so ably presented by the Chairman of the Sub-Committee, M. Motta. This Report deals with the Resolution which I ventured to lay before this Assembly in the very early stages of its deliberation and I take this opportunity of expressing to M. Motta and his colleagues my sincerest and deepest gratitude of the sympathetic attitude they have taken. I know that M. Motta has done everything that he could to help the work we have so much at heart. But at the same time I cannot conceal and I shall make no attempt to conceal – from the Assembly my disappointment at the result of this Report. Frankly, I regret the attitude which has now been taken. The purpose of the Resolution which I brought forward for your attention was to secure the co-operation of the Governments in the great international undertaking to relieve Russia and save that country from famine. It was not my purpose merely to strengthen the appeal to private charities. That I consider to be unnecessary. I think that the famine in Russia is of such dimensions that in itself it constitutes a sufficiently strong appeal, and no word from this Assembly can strengthen that appeal. It was an appeal to the Governments which I was making, and in that appeal I have failed. Let me remind the Assembly in one sentence of the situation which I laid before you. There are at this moment between 20 and 30 millions of people who are threatened with starvation and death, if help is not forthcoming within two months from now their fate is sealed. Everything that is needed to save them is only a few hundred miles away. The necessary transportation can be available at a moment’s notice. Agreements have been made for the perfect control and distribution in Russia of the supplies that we may bring. The methods for the execution of those Agreements are ready. There has been raised in the Committee no valid objection against those Agreements or the methods proposed for their execution. No more is necessary to avert appalling disaster than the provision of a relatively small sum of Government money. It is no great sums that we ask for; we have only asked for £5,000,000. If we got that we think – indeed, we feel convinced – that it is possible to carry out very important work before Christmas and to save the situation to a great extent. The Governments have said that they cannot do it. Let me remind the Assembly that from the very beginning, the charitable organisations themselves urged their absolute incapability to deal adequately with this disaster. The Conference which was called a month ago in this City and on behalf of which I act as High Commissioner, represented sixty-seven charitable or voluntary organisations and thirteen Governments and that Conference said the same thing. It’s very first Resolution which was placed before us pointed out the necessity of Governmental action if anything really adequate for the disaster was to be done.

The Governments now throw back the whole responsibility onto the voluntary organisations. I cannot think that that is right. I cannot think that that is wise. I cannot think that that is anything but a disastrous mistake. None the less, we shall go on with our appeal to private charity. We have already made a start. You know, every one of you, that Mr. Hoover’s organisation is only ready to feed three million children in Russia. Our organisation has received many gifts. From the Pope we have received one million lire. From the „Save the Children“ Fund in Great Britain we have received a declaration that they are now willing to feed one-quarter of a million children in Russia. The Second International in Amsterdam has given ten million marks. Contributions are being received from many communes in France, and innumerable smaller sums have been received and are being received. The Swedish Government, through the Red Cross, is already starting an expedition, in co-operation with our plans, to Russia in order to work there under our scheme and through our machinery. We shall go on striving through the great voluntary organisations which have accomplished so splendid a service in the cause of humanity during the last few years, to do what is possible to mitigate a small part of the misery which is now in front of Russia. But I fear that it is my duty – and it is a duty which I cannot carry out with deep regret – to make again some observation which I have already had the opportunity of making in the Committee.

We are doing what we can through private charity, but even our charity is being impeded and being very seriously impeded by the campaign of misrepresentation which is being carried on. There are any amount of lies being circulated. I may remind you of one story that went to the papers, which you all remember, namely, that the first train that Mr. Hoover sent in to feed the Russians was looted by the Soviet Army in Russia. It was a lie; but still the same story is repeated over and over again in the Press of Europe. I was accused for having sent an expedition to Siberia, and I understand that it was said that I was bringing arms for revolution. It was a lie. I have seen it in the papers. It is said that my friend, Captain Sverdrup, was in command of it, but all that he was doing was carrying agricultural machinery to Siberia. That was not so very dangerous, after all. There are many similar stories being circulated. It is perfectly evident that they come from some central agency: I do not know where. It is from somebody who seems very interested in preventing anything being done to save the starving people of Russia. I think that I know what is the underlying thought in this campaign. It is this, that the action which we propose will, if it succeeds, strengthen the Soviet Government. I think that that is a mistake. I do not think that we shall strengthen the Soviet Government by showing the Russian people that there are hearts in Europe and that there are people there ready to help the starving Russian people. But supposing that it does strengthen the Soviet government? Is there any member of this Assembly who is prepared to say that rather than help the Soviet Government he will allow twenty million people to starve in death? I challenge this Assembly to answer this question.

The central point to which the campaign has been directed seems to be the agreement that I made with the Soviet Government. Let me say a few words about that agreement. It is said that by allowing the Soviet Government to have an equal representation on the executive of two men which I propose to establish in Moscow, I am enabling the Soviet Government to impose upon our undertaking a vote preventing us from doing what we wish.

It has been urged that this agreement which establishes such an executive, would give the other representative greater freedom and greater control. But I ask this Assembly to judge whether I by dealing with one representative of the Soviet Government, shall be more free than Mr. Hoover, who will have to deal with many and deal with the whole Government. I ask them to say whether any agreement can override the necessity for the free consent and co-operation of the Soviet authorities. My purpose is to carry out the relief without bringing in any kind of politics and without dealing with any political party if it is possible to avoid it. But no relief can be carried out in any country and least of all in Russia against the wishes of the Government authorities. Mr. Hoover’s agreement, no less than mine depends and must depend at every moment, on the goodwill and the consent and the co-operation of the Soviet.

It is not because they are mine that I am so anxious to secure the approval and the support of this Assembly for the agreement and the plan which I have made. It is needless to say that I will sacrifice them any moment and would do so gladly if only there were anything to take their place. But I see nothing. There is no other plan, and there can be no other plan, and those precious weeks that we now have before us are so vital for successful action before they are passed.

We have heard a great deal in the Committee about the Conference at Brussels, which has been asked to meet on October 6th. The Members of the Committee expressed their warmest confidence that this Conference which is called a Conference of Governments, will solve the financial problem of bringing help to Russia. I hope, and sincerely hope that they are right. I hope nothing so ardently as that the Brussels conference may fulfill every hope that is reposed in it. But I may point out that great doubt has been expressed as to whether the conference in Brussels will be able to do anything. Unless the Governments reverse the decision which they have now taken, I do not see how that Conference can attain anything. Let me warn you that if that Conference should proceed, first by sending a Commission of Enquiry into Russia, and then when it has received the Report of that Committee has prolonged negotiations with the Soviet Government in order to attain a new agreement for action instead of mine, and if, when that agreement has been made, they are to create a new machinery for the execution of the agreement, their surety and help inevitably will come too late.

Let me say one more thing. I do not believe that the people of Europe will sit with folded hands through the snow months of winter and watch the millions of Russia starving to death. The situation is the following.

In Canada, this year, the crop is so good that Canada will be able to export three times as much as is necessary to meet the difficulty caused by the famine in Russia. In the United States the wheat of the farmers is decomposing in their stores because they cannot find purchasers for the surplus. In the Argentine the maize is lying in such abundance that they cannot get rid of it, and it is being used as fuel in the locomotives because that is the only way in which they can use it. Between us and America, ships are lying idle. We cannot find employment for them, and on the other side in the East, 20 or 30 million people are starving in death because they cannot get that which is lying, without anybody to take it, in America. Is it possible, that Europeans sit quietly and do nothing, and look at them without bringing those things over and saving the people on the other side? I consider that to be impossible in the long run, I feel convinced that the people of Europe will compel the Governments to reverse their decision. I believe that the greater number of those Governments who are represented in this room to-day will join the ranks of this few who have already acted, for let me remind you that a number of the smaller Governments are already giving help.

As I mentioned before, the Swedish Government is acting, and it is acting in the organisation which I have created. The Estonian, the Latvian, and the Lithuanian Governments have also given help. It was on the initiatiave of the Czecho-Slovak Government that the Conference at Brussels was called on August 15th. As to my own Government, I may say that it has already given considerable gifts for the relief of the famine in Russia. I have just received a telegram from my Government, informing me that the Norwegian Parliament has unanimously placed further credits at my disposal in accordance with my agreement with the Soviet people. Their total contribution will now come up to nearly one and a half million kroner.

These are beginnings. I believe that the other Governments will follow. When they do, and not now, it will be the moment for the League to come in. No such great enterprise as this, if the Governments engage themselves in it, can be appropriately and economically carried out or carried out in any satisfactory way, without the help of the League, and through the League.

As M. Motta said yesterday, this is the place for an international undertaking, and I entirely endorse that view. It is an undertaking which cannot be effective without the help of the League, which I think is the most efficient way carrying out such undertakings. Let them turn to the League for assistance and let us see no hypocrisy, let us face facts as they are. The Governments are not able to give £5,000,000 at this moment, they cannot do it, they cannot find amongst themselves sufficient money, which only means about half the amount which it costs to build a battleship, in order to meet the famine in Russia. If they only sacrificed the cost of half a battalion of troops alone they could be able to find the money. They cannot do it. Then let them say so frankly, but do not let go on summoning Committees and Conferences, and discussing day after day and month after month while people are dying.

The mandate I received from the Conference for which I act, is to go on appealing to the Governments of the world. I shall go on and try to rouse the countries of Europe to avert the greatest horror in history and I believe whatever this Assembly may decide, we shall be able to do something to alleviate the dire distress which exists. But it is a terrible race we are running with Russian winter, which is already silently and persistently approaching from the north. Soon will the waters of Russia be frozen. Soon will the transport be hampered by frozen snow. Shall we allow the winter to silence for ever those millions of voices which are crying out to us for help? There is still time, but there is not much time left. Do try to imagine what it will be when Russian winter sets in in earnest and try to realise what is means when no food is left and a whole population is wandering through barest land in search of food; men, women children, dropping dead by thousands in the frozen snow of Russia. Try to realise what this means and if you have ever known what it is to fight against hunger, and to fight against the ghastly forces of winter, you will realise what it means and what the situation will be. I am convinced you cannot sit still, and answer with a cold heart that you are sorry and cannot help. In the name of humanity, in the name of everything noble and sacred to us, I appeal to you, who have women and children of your own to consider what it meant to your women and children perishing to starvation. In this place, I appeal to the Governments, to the people of Europe, to the whole world, for their help – to act before it is too late to repent.

(Loud Applause)


[1] Second Assembly of the League of Nations, Fr., 24. September 1921, Provisional Verbatim Record, Geneva 1921, S. 11-14. Transkription durch Daniel Maul.


Für das Themenportal verfasst von

Daniel Roger Maul

( 2011 )
Zitation
Daniel Roger Maul, Appell an das Gewissen - Fridtjof Nansen und die Russische Hungerhilfe 1921-23, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2011, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1554>.
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