Ermittlung nicht erwünscht. Das geplante „Restverfahren“ im Fall Herbert Kappler: Ein Zeugnis deutscher und italienischer Vergangenheitspolitik (1959-1961) [1]
Von Felix Nikolaus Bohr
Rom, 29. Oktober 1959. In seinem Amtszimmer in der Via Po 29c saß Manfred Klaiber, Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Italien. Wieder einmal hatte er sich mit dem Fall des deutschen Kriegsverbrechers Herbert Kappler zu beschäftigen. Kaum eine Woche verging, in der dieser Fall nicht zu seinem Tagesgeschäft zählte: Kappler verbüßte nun schon seit mehr als 10 Jahren eine Haftstrafe in Italien. In den Augen des Botschafters war der „Fall Kappler“ ein „Restbestand“ des Zweiten Weltkriegs, den es „endgültig aus der Welt zu schaffen“[2] galt. Heute schreibt er einen Drahtbericht an das Auswärtige Amt in Bonn; es geht um ein im Fall anhängiges „Restverfahren“. Schon vor 1945 hatte Klaiber im Auswärtigen Amt gedient – als Diplomat des nationalsozialistischen Deutschen Reichs. In diese Zeit reichten auch die Ursprünge des „Falles Kappler“ zurück.[3]
Vorgeschichte und Kontext
Am 24. März 1944 hatte SS-Obersturmbannführer Herbert Kappler, damals Leiter des Außenkommandos der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD) in Rom, das Massaker in den Fosse Ardeatine (Ardeatinische Höhlen) organisiert und durchgeführt. In den im Süden der italienischen Hauptstadt gelegenen Tuffsteinhöhlen waren in wenigen Stunden insgesamt 335 Italiener durch Genickschuss exekutiert worden – der jüngste gerade 15, der älteste 74 Jahre alt. Unter den Hingerichteten befanden sich 75 römische Juden, fünf italienische Generäle und 11 hohe Offiziere. Dem Massaker vorausgegangen war ein Anschlag italienischer Widerstandskämpfer auf eine deutsche Polizeikompanie am Tag zuvor, dem insgesamt 33 Ordnungspolizisten zum Opfer gefallen waren. Zu solchen Anschlägen kam es häufig, seitdem Italien am 8. September 1943 seinen Waffenstillstand mit den Alliierten bekannt gegeben hatte. Über Nacht war das nationalsozialistische Deutschland vom Verbündeten zum Feind des vormals faschistischen Italien geworden. SS- und Wehrmachtsverbände reagierten mit aller Härte auf jegliche Form von Widerstand – Geiselerschießungen, Repressalien und „Sühnemaßnahmen“ waren an der Tagesordnung. Zwischen 1943 und 1945 fielen der – von deutscher Seite so genannten – „Bandenbekämpfung“ unzählige Italiener zum Opfer, darunter circa 10.000 Frauen, Kinder und Greise. Am 4. Juni 1944 befreiten alliierte Truppen Rom, Anfang Mai 1945 schwiegen in Italien die Waffen.[4]
Das von Herbert Kappler geleitete Massaker war eines der größten und grausamsten, das deutsche Verbände an der italienischen Bevölkerung begangen hatten. Am 20. Juli 1948 verurteilte das römische Militärgericht den „Henker der Ardeatinischen Höhlen“ zu lebenslanger Haft. Kapplers Untergebene sprach es ausnahmslos frei, seine Vorgesetzten – unter ihnen Generalfeldmarschall Albert Kesselring, Oberbefehlshaber der ehemals für Italien zuständigen Wehrmacht-Heeresgruppe C – hatten britische Militärgerichte zunächst zum Tode verurteilt, sie wurden aber bereits im Jahr 1952 begnadigt und kurz darauf aus der Haft entlassen. In Italien galten die Fosse Ardeatine und Kappler fortan als die Symbole für das deutsche Terrorregime von 1943 bis 1945.[5]
Viele Kriegsverbrechen, die Deutsche an Italienern begangen hatten, blieben gänzlich ungeahndet. Dies lag auch daran, dass man im Palazzo Chigi in Rom, dem Sitz des italienischen Außenministeriums, seit 1946 die Gefahr eines „Bumerang-Effekts“ zu fürchten begann. Italien wurde schnell von seiner faschistischen Vergangenheit eingeholt: Bis Ende 1945 waren in Rom zahlreiche Auslieferungsbegehren für italienische Kriegsverbrecher aus Ländern eingegangen, die Italien unter Führung des „Duce“ Benito Mussolini überfallen hatte – darunter Jugoslawien, Griechenland und Albanien. Eine allzu intensive Verfolgung deutscher Kriegsverbrecher, so die Vermutung im Palazzo Chigi und anderen Ministerien, hätte zu einer intensiveren Verfolgung italienischer Kriegsverbrecher führen können. Daher einigten sich die tonangebenden Funktionsträger in den Ministerien und einzelne Regierungsvertreter darauf, öffentliche Debatten zu vermeiden und auf Zeit zu spielen – mit Erfolg: Die meisten italienischen Kriegsverbrecher wurden nie zur Rechenschaft gezogen, die Ergebnisse einer noch im Mai 1946 eigens in Rom eingerichteten Untersuchungskommission ignoriert.[6] Von der italienischen Verschleppungsstrategie profitierten zugleich Hunderte deutscher NS-Straftäter: Obwohl gegen sie ursprünglich etwa 2000 Ermittlungsverfahren eingeleitet worden waren, ergingen bis zum Jahr 1965 nur 13 Urteile. Zu dieser Entwicklung trugen auch die West-Alliierten ihren Teil bei. Unter dem Vorzeichen des Ost-West-Konflikts hatten die USA und Großbritannien seit 1947/48 immer weniger Interesse daran gezeigt, mutmaßliche deutsche Kriegs- und NS-Verbrecher aus ihren Besatzungszonen an Italien auszuliefern.
Den zuständigen westdeutschen Stellen kam das taktische Kalkül Roms in Sachen „Kriegsverbrecherproblem“[7] sehr entgegen. In der sich konstituierenden Bundesrepublik war das Beschweigen der eigenen Vergangenheit weit verbreitet. Im Zuge der auf Amnestierung und Integration ehemaliger Nationalsozialisten angelegten Bonner Vergangenheitspolitik machten viele Getreue des „Dritten Reichs“ wieder Karriere. Den Holocaust wollte kaum ein Deutscher bemerkt haben, die Verfolgung von NS-Straftätern blieb in den meisten Fällen aus – insbesondere was den italienischen Kriegsschauplatz betraf: Der Italienkrieg der Wehrmacht galt als „sauber“ und ehrenhaft; in den Augen vieler waren die Italiener „Verräter“. Die bestehenden Ressentiments aus Weltkriegstagen sollten das Verhältnis der beiden Völker noch lange prägen.[8]
Nichtsdestotrotz kam es seit 1949 zwischen den Regierungen Konrad Adenauers (CDU) in Bonn und Alcide de Gasperis (Democrazia Cristiana, DC) in Rom zu einer engen politischen Zusammenarbeit. Beide Länder hatten direkte Grenzen mit dem neu entstandenen kommunistischen Machtbereich und verfolgten eine Politik der Westbindung. Die Republik Italien unterstützte nicht nur die Bestrebungen der Bundesrepublik, dem Europarat beizutreten, sondern auch die Pläne für eine westdeutsche Wiederbewaffnung. Insbesondere in der Kriegsverbrecherfrage bildete sich rasch eine deutsch-italienische Interessengemeinschaft – in Sachen Vergangenheitspolitik. Im November 1950 trafen Heinrich Höfler, CDU-Bundestagsabgeordneter und Direktor der deutschen Caritas, und Graf Vittorio Zoppi, Generalsekretär im italienischen Außenministerium, eine geheime Absprache. Daraufhin verkürzte die italienische Regierung die Haftzeit weiterer deutscher Kriegs- und NS-Straftäter. Ausgenommen hiervon blieb Herbert Kappler, da sich sein Berufungsverfahren – so die offizielle Begründung – noch „in der Schwebe“ befinde. Vor allem italienische Partisanenverbände und die jüdische Gemeinde des Landes wehrten sich vehement gegen eine Freilassung Kapplers. Seit 1951 war er der einzige deutsche Kriegsverbrecher, der in Italien eine Haftstrafe verbüßte.[9]
Der Drahtbericht des Botschafters
Die bundesdeutsche beziehungsweise italienische Vergangenheitspolitik war jedoch keineswegs auf die unmittelbaren Nachkriegsjahre beschränkt. Dies belegt der Inhalt des bereits eingangs erwähnten Drahtberichts, den der deutsche Botschafter Klaiber am 29. Oktober 1959 an das Auswärtige Amt in Bonn sandte: Wenige Tage zuvor war der Oberstaatsanwalt beim Militärgerichtshof in Rom, Massimo Tringali, bei ihm vorstellig geworden. Das Strafverfahren gegen Kappler, so Tringali, „sei formell noch nicht abgeschlossen, weil insgesamt 12 mitangeklagte deutsche Staatsangehörige [...] nicht hätten ermittelt werden können“. Es handele sich um zwei dem „Fall Kappler“ noch immer „anhängige Restverfahren“, unter anderem „um eine Voruntersuchung gegen den früheren Generalrichter Hans Keller, den Oberkriegsgerichtsrat Kurt Winden und eine Reihe von SS-Führern wegen Mittäterschaft bei der Geiselerschießung in den Fosse Ardeatine“. Auch der Name Erich Priebke, einer von Kapplers ehemaligen Untergebenen und Mitglied des Erschießungskommandos, befand sich auf der Liste. Die Verfahren hätten seinerzeit nicht durchgeführt werden können, da, abgesehen von Generalrichter Hans Keller, „die Aufenthaltsorte, zum Teil auch die Vornamen der Beschuldigten nicht bekannt“ gewesen seien. Oberstaatsanwalt Tringali habe jedoch deutlich gemacht, dass es nicht seine Absicht sei, die Ermittlungen gegen die Beschuldigten wieder aufzunehmen – im Gegenteil: Vielmehr sehe er sich „ohne Hilfe der Botschaft außer Stande, das Verfahren gegen die Beklagten mit der Begründung einzustellen, sie seien unbekannten Aufenthaltes“. Zwar „habe er ein formales Ersuchen an die Botschaft zu richten, würde es aber „begrüßen, wenn die amtlichen deutschen Stellen [...] in der Lage sein könnten, der Militärstaatsanwaltschaft Rom zu bestätigen, daß entweder keiner der Beschuldigten mehr lebe oder aber, daß ihre Aufenthaltsorte nicht zu ermitteln [...] seien.“ Der Oberstaatsanwalt habe gleichzeitig „klar zum Ausdruck gebracht“, so Botschafter Klaiber weiter, dass von italienischer Seite „kein Interesse daran [bestehe], das Verfahren gegen die 12 Beschuldigten durchzuführen und damit das ganze Problem der Geiselerschießungen in Italien [...] erneut in die Öffentlichkeit zu bringen. Das sei aus allgemeinen innerpolitischen Gründen nicht erwünscht“. Sollten die zuständigen deutschen Behörden jedoch zu der Feststellung kommen, dass „alle oder einige der Beschuldigten leben und in der Bundesrepublik ansässig sind, so stehe es der Bundesregierung frei, zu erklären, daß die gewünschten Auskünfte nicht erteilt werden könnten, da die Bundesrepublik [...] eigene Staatsangehörige nicht ausliefere“. Klaiber schloss seinen Bericht mit eindeutigen Worten: „Der Begründung dieser verständnisvollen Anfrage, die [...] eine tunlichst negative Antwort erwartet, trete ich bei“.[10]
Einerseits zeigt der Botschafterbericht deutlich, dass die von Rom in der Kriegsverbrecherfrage angewandte Verschleppungstaktik noch im Jahr 1959 ungebrochen anhielt: Nach wie vor sollte „die Bestrafung italienischer Kriegsverbrecher“ um jeden Preis „unter Kontrolle“[11] behalten werden. Andererseits spiegelt sich in der uneingeschränkten Zustimmung Botschafter Klaibers zum italienischen Ansinnen deutlich der bereits angesprochene bundesrepublikanische (Nicht-)Umgang mit der eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit – die westdeutsche „Schlussstrich-Mentalität“[12] – wider. Zudem ist der Bericht im Zusammenhang mit dem italienischen Bemühen zu sehen, alles zu vermeiden, was in Zeiten des Kalten Krieges eine nachhaltige Belastung des bilateralen Verhältnisses zum NATO-Partner Bundesrepublik zur Folge gehabt hätte. Dieser war für Italien in der Zwischenzeit zu einem unersetzlichen Verbündeten geworden – insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht. Der Verweis Oberstaatsanwalt Tringalis auf die „allgemein innenpolitischen Gründe“, deretwegen die Durchführung der 12 Verfahren gegen die Beschuldigten „nicht erwünscht“ sei, lässt aber auch Rückschlüsse auf die politische Situation Italiens zu: In Laufe der 1950er Jahre hatte die DC ihre absolute Mehrheit peu à peu verloren und war politisch angeschlagen. Wäre in der Öffentlichkeit bekannt geworden, dass das im „Fall Kappler“ anhängige „Restverfahren“ über 10 Jahre verschleppt worden war, hätte dies insbesondere in Kreisen der politisch einflussreichen ehemaligen Widerstandskämpfer für große Empörung gesorgt. Die der Bundesrepublik wohlgesinnte DC-Regierung wäre heftigen Angriffen der italienischen Linksparteien, des Partito Socialista Italiano (PSI) und des Partito Comunista Italiano (PCI), ausgesetzt gewesen, die die Erinnerung an die italienische Resistenza für ihre politischen Zwecke zu instrumentalisieren wussten.[13]
Reaktionen in Bonn
Im Auswärtigen Amt in Bonn war für alle rechtlichen Angelegenheiten im „Fall Kappler“ die von Hans Gawlik geleitete Zentrale Rechtsschutzstelle (ZRS) zuständig. Auch Gawlik hatte, wie Botschafter Klaiber in Rom, eine nationalsozialistische Vergangenheit. Als Oberstaatsanwalt des Oberlandesgerichts Breslau war er in den 1940er Jahren mit der Ausschaltung der Gegner des Nationalsozialismus befasst gewesen. Nach Kriegsende hatte er in den Nürnberger Prozessen zunächst als Verteidiger des nationalsozialistischen Sicherheitsdienstes (SD) fungiert, bevor er sich seit 1949 – als Beamter und im Auftrag der Bundesrepublik Deutschland – massiv für die noch in ausländischer Haft einsitzenden Kriegs- und NS-Straftäter zu engagieren begann. Vor diesem Hintergrund mag es kaum überraschen, dass Gawlik am 20. Januar 1960 der Deutschen Botschaft in Rom dann auch die von Oberstaatsanwalt Tringali erwartete, „tunlichst negative“ Antwort lieferte: Er teilte Botschafter Klaiber mit, der „derzeitige Aufenthaltsort“ von 8 der 12 zu ermittelnden Personen nicht habe festgestellt werden können. Zudem seien zwei der 12 Personen ohnehin nie im SD-Einsatz in Italien gewesen. Der Aufenthaltsort einer weiteren Person, SS-Obersturmführer Heinz Thunats, müsse noch ermittelt werden. Grundsätzlich sei es jedoch „fraglich“, schloss Gawlik seinen Bericht, ob die von ihm aufgeführten 11 Personen „noch am Leben“ seien.[14] Die noch fehlende zwölfte Person auf der Liste, Hans Keller, erwähnte Gawlik erst gar nicht: Keller, der frühere Generalrichter der Heeresgruppe Südwest, war in der Zwischenzeit als Landgerichtsdirektor in Ravensburg tätig. Zwei Wochen nach dem Schreiben Gawliks gab die Deutsche Botschaft die unvollständigen Informationen der Zentralen Rechtsschutzstelle an den römischen Militärgerichtshof weiter.[15]
Der Fall des Kriegsrichters Kurt Winden
Knapp sieben Monate vergingen, bis ein neuer – unerwarteter – Akt im Rahmen des Kappler’schen „Restverfahrens“ begann. Am 27. August 1960 vermerkte Kurt von Tannstein, deutscher Botschaftsrat in Rom, in einem Bericht, der in Wiesbaden niedergelassene Rechtsanwalt Hans Laternser sei bei ihm vorstellig geworden. Laternser war der Deutschen Botschaft und der Zentralen Rechtsschutzstelle in Bonn kein Unbekannter. Nach dem Krieg hatte er sich zunächst als Verteidiger von Generalstab und Oberkommando der Wehrmacht im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess einen Namen gemacht, bevor er dann unter anderem als Verteidiger für Kapplers Vorgesetzte, unter ihnen Generalfeldmarschall Albert Kesselring, in Erscheinung getreten war. Laternser berichtete dem deutschen Botschaftsrat, einer seiner Mandanten, der ehemalige Oberkriegsgerichtsrat Dr. Kurt Winden, sei informiert worden, dass sein Name im Zusammenhang mit dem „Restverfahren“ im „Fall Kappler“ auf der Fahndungsliste des Militärgerichtshofs in Rom stünde. Dies entsprach den Tatsachen: Die Zentrale Rechtsschutzstelle hatte Kurt Winden bereits als unauffindbar deklariert. Er war jedoch entweder nicht richtig gesucht worden oder er sollte nicht gefunden werden; letzteres scheint näher liegend, denn: Winden hatte nach dem Krieg schnell Karriere gemacht. Seit 1957 war er Leiter der Rechtsabteilung der Deutschen Bank in Frankfurt am Main und somit zu einer einflussreichen Persönlichkeit geworden. Als „bedeutende Person des deutschen Finanzlebens“, so Laternser, sei sein Mandant „öfter genötigt, nach Italien zu fahren“. Daher treibe ihn nun die Sorge um, „bei Übertritt auf italienisches Staatsgebiet in Untersuchungshaft genommen“ zu werden. Ein solcher Vorfall würde „dem deutschen Ansehen im Allgemeinen und dem Ansehen der Deutschen Bank im Besonderen“ schweren Schaden zufügen. Ohnehin sei Kurt Winden im Besitz von Unterlagen, aus denen seine „völlige Unschuld [...] an den Erschießungen der Fosse Ardeatine hervorgehe“. Zu der fraglichen Zeit habe er sich gar nicht in Rom befunden, sondern sei in Vorarlberg im Urlaub gewesen. Sein damaliger Gastwirt habe dies bereits in einer notariell beglaubigten Zeugenaussage versichert.[16]
Der seinerzeitige Oberkriegsgerichtsrat Kurt Winden hatte am 5. Oktober 1943, ein knappes halbes Jahr vor dem Massaker in den Fosse Ardeatine, die Dienstaufsicht über das Feldgericht Rom übernommen. Zu diesem Zeitpunkt war er 35 Jahre alt, seit vier Jahren Kriegsrichter im Reichsdienst und stets „rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat eingetreten“.[17] Im Auftrag des Reichsluftfahrtsministeriums hatte er bereits neun Stationen in verschiedenen Frontabschnitten durchlaufen. Dies entsprach der üblichen Binnenfluktuation im Richterkorps der Wehrmacht. Die Militärjustiz und ihre „furchtbaren Richter“ waren ein wichtiger Bestandteil der nationalsozialistischen Diktatur – sowohl für die „Disziplinierung“ der Wehrmachtssoldaten während des Krieges als auch für die deutsche Terrorherrschaft in Europa insgesamt: Von 1939 bis 1945 wurden insgesamt circa 18.000-22.000 Todesurteile vollstreckt, von denen – rein rechnerisch – auf jeden Wehrmachtsrichter sieben entfielen. In Italien flankierten die deutschen Kriegsgerichte seit der italienischen Kapitulation im September 1943 den Terror gegen die Zivilbevölkerung.[18]
Der italienische Gewährsmann
Um dem ehemaligen Kriegsrichter Kurt Winden die sorgenfreie Rückkehr nach Italien zu ermöglichen, nahm die Deutsche Botschaft zunächst Kontakt zu dem pensionierten italienischen Polizeibeamten und langjährigen Leiter von Interpol Rom, Giuseppe Dosi, auf. Dieser sollte überprüfen, ob im „Fall Winden“ ein Haftbefehl vorliege. Dosi schien noch immer sehr gut vernetzt zu sein: Im Rahmen seiner Recherchen – für die er der Deutschen Botschaft später umgerechnet knapp 340 DM in Rechnung stellte – überprüfte er die Fahndungsbücher bei italienischen Polizeiverwaltungen und im römischen Innenministerium. Nach kurzer Zeit teilte er der Botschaft in einem „vertraulichen Bericht“ mit, der Name Kurt Winden sei in Italien nicht zur Fahndung ausgeschrieben. Auch in den Akten aus dem ehemaligen Gestapo-Gefängnis in Rom befinde sich kein Dokument, das Winden in Verbindung mit dem Massaker in den Fosse Ardeatine bringe. Die Rechercheergebnisse des italienischen Gewährsmannes Dosi deckten sich mit der Versicherung Windens, er habe sich vom 4. bis 31. März 1944 im Urlaub befunden.[19]
Rückblickend scheint es jedoch fraglich, ob diese Versicherung den Tatsachen entsprach: Herbert Kappler hatte im Jahre 1947 – in einer Vernehmung vor dem Militärgericht in Rom – ausgesagt, er sei unmittelbar vor dem Massaker in den Fosse Ardeatine am 24. März 1944 von Kurt Winden bei der Auswahl der zu Erschießenden unterstützt worden. Kappler hatte zu diesem Zeitpunkt die Zusammenstellung der „Todesliste“ oblegen, nachdem eine „Repressalquote“ von 1:10 beschlossen worden war: Für jeden am Tag zuvor getöteten deutschen Ordnungspolizisten sollten zehn Italiener erschossen werden. Zwar war die deutsche Kriegsgerichtsbarkeit mit der – unter Aufsicht des NS-Sicherheitsdienstes durchgeführten – Vergeltungsmaßnahme nicht unmittelbar beschäftigt. Bei den Vorbereitungen und der Zusammenstellung der „Todesliste“ schien sie, laut Aussage Kapplers, jedoch beteiligt gewesen zu sein. Die Protagonisten der Deutschen Botschaft Rom nahmen die zwölf Jahre zurückliegende Zeugenaussage Kapplers nicht zur Kenntnis. Sie wäre auch nicht sehr hilfreich gewesen zur Erreichung ihres Ziels: dem „sowohl von deutscher wie von italienischer Seite gewünschte[n] Einschlafen des Kappler-Nachverfahrens“.[20]
Die Vertuschung der Affäre
In den folgenden Monaten sorgten die Deutsche Botschaft in Rom und die Zentrale Rechtsschutzstelle in Bonn dafür, dass ein mögliches „Restverfahren“ im „Fall Kappler“ – wie von italienischer Seite gewünscht – im Sande verlief. Anfang März 1961 stellte Oberstaatsanwalt Tringali eine erneute Anfrage bezüglich des ehemaligen SS-Obersturmführers und Kappler-Untergebenen Heinz Thunat, in dessen Fall sich die Zentrale Rechtsschutzstelle im Januar 1960 eine Mitteilung vorbehalten hatte. Der Deutschen Botschaft war mittlerweile durch ihren italienischen Gewährsmann Dosi bekannt, dass Thunat an den Erschießungen in den Fosse Ardeatine beteiligt gewesen war. Auch im Fall des früheren Generalrichters Hans Keller fragte der Militärgerichtshof in Rom erneut an: Keller bekleidete – wie bereits erwähnt – in der Zwischenzeit das Amt des Landgerichtdirektors in Ravensburg. Wohl aus diesem Grund hatte die Zentrale Rechtsschutzstelle seinen Namen ein Jahr zuvor „vorsorglich überflogen“, wie es Botschaftsrat von Tannstein nonchalant formulierte.[21] Tringali gab in beiden Fällen zu bedenken, dass er die erbetenen Informationen benötige, um die Vorermittlungen im „Restverfahren“ in naher Zukunft zu einem Abschluss bringen zu können. Wenige Monate nach dem Erinnerungsgesuch des Oberstaatsanwalts übermittelte die Zentrale Rechtsschutzstelle der Botschaft in Rom dann auch die bundesrepublikanischen Adressen Thunats und Kellers. Im gleichen Zuge warnte Hans Gawlik jedoch davor, die Anschriften der beiden Personen an die italienischen Behörden weiterzuleiten. Die Botschaft folgte Gawliks Einschätzung: Am 2. August 1961 teilte sie dem Militärgerichtshof in Rom mit, zu Thunat und Keller könnten keinerlei Erklärungen abgegeben werden. Im Fall von Kurt Winden blieb sie bei ihrer Version, der ehemalige Oberkriegsgerichtsrat sei unbekannten Aufenthaltes. Wie im Botschafterbericht vom 29. Oktober 1959 angekündigt, begnügte sich das Militärgericht in Rom mit diesen Informationen; zu weiteren Anfragen kam es nicht; das „Restverfahren“ im „Fall Kappler“ fand nie statt. Der Großteil der 12 Personen, deren Name auf der Ermittlungsliste des Militärgerichtshofs gestanden hatte, wurde nie zur Rechenschaft gezogen; der Kriegsrichter Kurt Winden konnte Zeit seines Lebens unbehelligt nach Italien reisen; Herbert Kappler gelang im August 1977 die Flucht in die Bundesrepublik.[22]
„Restverfahren“ und „Schrank der Schande“
Die Affäre um das geplante, aber nie zustande gekommene „Restverfahren“ steht in direkter Verbindung mit einem weiteren Skandal der deutsch-italienischen Zeitgeschichte: Im Jahr 1996 wurde in Italien die Entdeckung des so genannten „Schrankes der Schande” in Rom bekannt. In ihm fand man unter anderem die 34 Jahre zuvor „einstweilen archivierten“ Akten zu 695 im Zweiten Weltkrieg begangenen deutschen Kriegsverbrechen. Anlass für den spektakulären Aktenfund war ein Prozess gegen den am Massaker in den Fosse Ardeatine beteiligten und bereits erwähnten SS-Hauptsturmführer Erich Priebke, der kurz zuvor in Argentinien aufgegriffen worden war. Er wurde am 7. März 1998, 53 Jahre nach Kriegsende, zu lebenslanger Haft verurteilt. Bis heute befindet er sich in römischem Hausarrest. Die illegale „Archivierung“ der vom römischen Militärgericht zurückgehaltenen Akten hatte nicht nur zeitgleich zu den bald darauf stillschweigend eingestellten Ermittlungen im „Restverfahren“ stattgefunden; einer der im Oktober 1959 auf der Ermittlungsliste des „Restverfahrens“ aufgelisteten 12 Namen war der Erich Priebkes gewesen. Der so genannte „Schrank der Schande“ und das verhinderte „Restverfahren“ im „Fall Kappler“ belegen, wie wirksam die deutsch-italienische Verschleppungstaktik in der Kriegsverbrecherfrage war. Das Zeitspiel hatte Erfolg.[23]
Vergangenheitspolitik im europäischen Kontext
Solche Vorfälle staatenübergreifender Vergangenheitspolitik waren kein ausschließlich deutsch-italienisches Phänomen; sie standen in einem gesamteuropäischen Zusammenhang. Schon bald nach Kriegsende hatten – westlich des „Eisernen Vorhangs“ – die realpolitischen Interessen der Siegermächte USA und Großbritannien die Ahndung deutscher Kriegs- und NS-Verbrechen ins Stocken gebracht. Vor dem Hintergrund des sich verschärfenden Ost-West-Konflikts lieferten die Westalliierten mutmaßliche deutsche Straftäter seit den Jahren 1947/48 nur noch überaus zögerlich an andere Länder aus. Als weitere Katalysatoren dieser Entwicklung erwiesen sich die Gründung der Bundesrepublik, der NATO im Jahr 1949 und das Inkrafttreten des „Überleitungsvertrages“[24] im Jahr 1955. Unter diesen Vorzeichen entwickelte sich im Verlauf der ersten Nachkriegsdekade in Westeuropa eine staatenübergreifende Vergangenheitspolitik, die in erster Linie „den Tätern zum Vorteil gereichte“[25]: Seit 1944/45 waren in ganz Europa zehntausende Haftstrafen gegen deutsche und österreichische Kriegs- und NS-Straftäter ergangen. Zu Beginn der Affäre um das „Restverfahren“ im „Fall Kappler“ befanden sich nur noch etwa 40 von ihnen in ausländischem Gewahrsam.[26]
[1] Essay zur Quelle: Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Rom an das Auswärtige Amt (29. Oktober 1959).
[2] Politisches Archiv des Auswärtigen Amts Berlin (PA/AA), Auslandsvertretung (AV) Neues Amt (NA), Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Rom (DBR), Bd. 11542, DBR an das Mitglied des Deutschen Bundestages (MdB) Helmuth Schranz, gez. Klaiber, 3.12.1959, 2 S., hier: S. 2.
[3] Zu Manfred Klaiber vgl. Keipert, Maria; Grupp, Peter, Historischer Dienst des Auswärtigen Amts (Hgg.), Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871-1945, Bd. 2: G-K (bearbeitet von Gerhard Keiper und Manfred Kröger), Paderborn 2005, S. 538-540; die von Klaiber bearbeiteten Vorgänge zum „Fall Kappler“ sind dokumentiert in: PAAA, AV/NA, DBR, Bd. 11541- Bd. 11542.
[4] Zum Massaker in den Fosse Ardeatine vgl. Prauser, Steffen, Mord in Rom? Der Anschlag in der Via Rasella und die deutsche Vergeltung in den Fosse Ardeatine im März 1944, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 50 (2002), S. 269-301. Zu den Ereignissen im September 1943 vgl. Petersen, Jens, Sommer 1943, in: Woller, Hans (Hg.), Italien und die Großmächte 1943-1948, München 1989, S. 23-48 und Woller, Hans, Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 188-195; 198 f. Zu den Opferzahlen vgl. von Lingen, Kerstin, Partisanenkrieg und Wehrmachtsjustiz am Beispiel: Italien 1943-1945, in: Zeitschrift für Genozidforschung 8 (2007), S. 8-40, hier: S. 9; Schreiber, Gerhard, Deutsche Kriegsverbrechen in Italien. Täter, Opfer, Strafverfolgung, München 1996, S. 8. Zu der infolge der italienischen Kapitulation vom Deutschen Reich als Satellitenstaat geschaffenen Republik von Salò vgl. Klinkhammer, Lutz, Zwischen Bündnis und Besatzung. Das nationalsozialistische Deutschland und die Republik von Salò 1943-1945, Tübingen 1993, S. 63-95. Zum italienischen Faschismus vgl. Schieder, Wolfgang, Der italienische Faschismus, München 2010.
[5] Neben den Fosse Ardeatine gilt auch das italienische Städtchen Marzabotto als „Symbolort“ für deutsche Kriegsverbrechen, wo der langjährige Mithäftling von Kappler, der Österreicher Walter Reder, im September 1944 zahlreiche Massaker organisiert hatte. Vgl. zur Rezeptionsgeschichte der Massaker in den Fosse Ardeatine und bei Marzabotto: Staron, Joachim, Fosse Ardeatine und Marzabotto: Deutsche Kriegsverbrechen und Resistenza. Geschichte und nationale Mythenbildung in Deutschland und Italien (1944-1999), Paderborn u. a. 2002. Zum Urteil gegen Kappler vgl. Repubblica Italiana in nome del popolo italiano, Tribunale Militare territoriale di Roma, Sentenza nella causa contro Herbert Kappler, 20. Juli 1948, in: Schwarzenberg, Claudio, Kappler e le Fosse Ardeatine, Palermo 1977, S. 83-139. Zu der Freilassung von Kapplers Vorgesetzten vgl. Focardi, Filippo, Criminali di Guerra in libertà. Un accordo segreto tra Italia e Germania federale, 1949-55, Prefazione di Lutz Klinkhammer, Rom 2008, S. 36.
[6] Vgl. Focardi, Filippo; Klinkhammer, Lutz, La questione dei „criminali di guerra“ italiani e una Commissione di inchiesta dimenticata, in: Contemporanea 4 (2001), S. 497-528, hier: S. 497-505; Focardi, Filippo, Das Kalkül des „Bumerangs“. Politik und Rechtsfragen im Umgang mit deutschen Kriegsverbrechen in Italien, in: Frei, Norbert (Hg.), Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2006, S. 536-566, hier: S. 549-551; Klinkhammer, Lutz, Die Ahndung von deutschen Kriegsverbrechen in Italien nach 1945, in: Rusconi, Gian Enrico; Woller, Hans (Hgg.), Parallele Geschichte? Italien und Deutschland 1945-2000. Vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zur europäischen Einigung, Berlin 2006, S. 89-106, hier: S. 93-106; Staron, Fosse Ardeatine (Anm. 5), S. 204-206.
[7] PA/AA, B 83, Bd. 783, Zentrale Rechtsschutzstelle an Prof. Karl Siegert, gez. Gawlik, 26.2.1952, 1 S.
[8] Vgl. zu diesem Abschnitt: Frei, Norbert, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1997, S. 397-406; Weinke, Annette, Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland, Paderborn u. a. 2002, S. 50-62; Winkler, Heinrich August, Der lange Weg nach Westen, Band II. Deutsche Geschichte 1933-1990, München 2000, S. 166-179; Klinkhammer, Ahndung (Anm. 6), S. 90-102; Focardi, Filippo, „Bravo italiano“ e „cattivo tedesco“: Riflessioni sulla genesi di due immagini incrociate, in: Storia e memoria 5 (1996), S. 55-84; Petersen, Jens, Das deutschsprachige Italienbild nach 1945, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken (QFIAB) 76 (1996), S. 455- 495; Staron, Fosse Ardeatine (Anm. 5), S. 19-22 und S. 323-326. Die sich seinerzeit auf dem Boden der sowjetischen Besatzungszone in der Entwicklung befindende Deutsche Demokratische Republik (DDR) lehnte einen historischen Bezug zu den im Zweiten Weltkrieg begangenen deutschen Kriegsverbrechen und deren Konsequenzen kategorisch ab. Vgl. hierzu: Ackermann, Volker, Zweierlei Gedenken: Der 8. Mai 1945, in: Afflerbach, Holger; Cornelißen, Christoph (Hgg.), Sieger und Besiegte. Materielle und ideelle Neuorientierung nach 1945, Tübingen und Basel 1997, S. 315-334.
[9] Vgl. zu diesem Abschnitt: Focardi, Bumerang (Anm. 6), S. 551; Vordemann, Christian, Deutschland - Italien 1949-1961. Die diplomatischen Beziehungen, Frankfurt am Main u. a., 1994, S. 49-64 und S. 127-156; Focardi, Criminali (Anm. 5), S. 67-97.
[10] Die in diesem Abschnitt angeführten Zitate stammen ausschließlich aus der Hauptquelle: PA/AA, AV NA, DBR, Bd. 11543, DBR an AA (Anm. 1), S. 1-3. Vgl. zudem das schriftliche Gesuch des Tribunale Militare territoriale di Roma (TMR): PA/AA, AV NA, DBR, Bd. 11543, TMR an DBR, 17.10.1959, 1 S.; In Artikel 16, Absatz 2, Satz 1 des Grundgesetzes (GG) der Bundesrepublik Deutschland heißt es unter anderem: „Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden.“
[11] Klinkhammer, Ahndung (Anm. 6), S. 100.
[12] Frei, Vergangenheitspolitik (Anm. 8), S. 19.
[13] Vgl. Vordemann, Deutschland – Italien (Anm. 9), S. 61-63; Klinkhammer, Lutz, Der Resistenza-Mythos und Italiens faschistische Vergangenheit, in: Afflerbach; Cornelißen (Hgg.), Sieger (Anm. 8), S. 119-139, hier: S.127-132.
[14] PA/AA, AV NA, DBR, Bd. 11543, AA an DBR, 20. 1. 1960, gez. Gawlik, 1 S.
[15] Vgl. zu Gawlik: Frei, Norbert, Vergangenheitspolitik (Anm. 7), S. 184; Brunner, Bernhard, Der Frankreich-Komplex. Die nationalsozialistischen Verbrechen in Frankreich und die Justiz der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2004, S. 115 ff. Zur bundesdeutschen Unterstützung für Kappler während seiner Haftzeit vgl. Bohr, Felix Nikolaus, Lobby eines Kriegsverbrechers. Offizielle und „stille“ Hilfe aus Deutschland für den Häftling Herbert Kappler, in: QFIAB 90 (2010), S. 415-436. Zur ZRS, die seit 1949 zunächst dem Bundesjustizministerium unterstanden hatte, bevor sie im Jahre 1953 dem Auswärtigen Amt an- und im Jahre 1970 eingegliedert wurde vgl. Conze, Eckart; Frei, Norbert u. a. (Hgg.), Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010, S. 463 ff.. Vgl. zu Hans Keller: PA/AA, AV NA, DBR, Bd. 11543, DBR an AA, 2. 3. 1961, gez. Tannstein, 2 S., hier: S. 1. Bei Heinz „Thunat“ handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um Heinz Tunnat, den Kappler bereits 1947 in einer Vernehmung als am Erschießungskommando beteiligte Person genannt hatte. Vgl. Staron (Anm. 7), S. 171.
[16] Die in diesem Abschnitt angeführten Quellenzitate in: PA/AA, AV NA, DBR, Bd. 11543, Vermerk, 27. 8. 1960, gez. von Tannstein, 3 S., hier: S. 1. Zu Rechtsanwalt Laternser und dem „Fall Kesselring“ vgl.: von Lingen, Kerstin, Kesselrings letzte Schlacht. Kriegsverbrecherprozesse, Vergangenheitspolitik und Wiederbewaffnung: Der Fall Kesselring, Paderborn (u. a.) 2004, S. 123 ff. und S.188-202. Zu Kurt Winden vgl. Wer ist Wer? Das deutsche Who’s Who, Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin, Begründet von Walter Habel, XXIX. Ausgabe 1990/1991, S. 1482. Bevor er 1952 ins Bankenwesen wechselte, war Kurt Winden bereits wieder als Richter (Landgerichtsrat) am Frankfurter Landesgericht tätig gewesen – u. a. im Januar 1947 im Frankfurter „Kalmenhofprozess“, einem Euthanasie-Prozess, in dem er gemeinsam mit seinen Kollegen vier Todesurteile fällte, von denen jedoch keines vollstreckt wurde. Vgl. D. Sick, „Euthanasie“ im Nationalsozialismus am Beispiel des Kalmenhofs in Idstein im Taunus, Frankfurt/Main 1983, S. 96-102.
[17] Bundesarchiv (BArch)/ DS/ Wehrmacht/ Winden, Kurt = Bestellnummer: VBS 292 Nr. 8030000557 (Akte aus dem ehem. Berlin Document Center), Der Oberstkriegsgerichtsrat d. Lw. des Dienstaufsichtsbezirk 3, Beurteilung, 12. Juni 1940, gez. unleserlich, 4 S., hier: S. 3.
[18] Vgl. zur Laufbahn Kurt Windens als Kriegsrichter im Reichsdienst: BArch-Militärarchiv (MA)/Personalakte Winden, Kurt = PERS 6/168906, fol. 28-88; Vgl. zu diesem Abschnitt: Messerschmidt, Manfred, Die Wehrmachtsjustiz 1933-1945, Paderborn u.a. 2005, S. 273-279 und S. 453; ders., Das System Wehrmachtsjustiz. Aufgaben und Wirken der deutschen Kriegsgerichte, in: Baumann, Ulrich; Koch, Magnus (Hgg.), „Was damals Recht war...“. Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht, Berlin 2008, S. 27-42, hier: S. 38-42; Rass, Christoph; Rohrkamp, René, Die Akteure der Wehrmachtsjustiz, in: Baumann; Koch, Recht (vgl. vorangestellte Zitation), S. 95-112, hier: S. 104; Rass, Christoph; Quadflieg, Peter M., Die Kriegsgerichtsbarkeit der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg: Strukturen, Handlungsweisen, Akteure, in: Kirschner, Albert (Hg.), Deserteure, Wehrkraftzersetzer und ihre Richter. Marburger Zwischenbilanz zur NS-Militärjustiz vor und nach 1945, Marburg 2010, S. 39-57, hier: S. 46-51 und S. 53-57; Wüllner, Fritz, Die NS-Militärjustiz und das Elend der Geschichtsschreibung. Ein grundlegender Forschungsbericht, Baden-Baden 1997, S. 153-216. Die Bezeichnung „furchtbare Richter“ stammt von: Gritschneider, Otto, Furchtbare Richter. Verbrecherische Todesurteile deutscher Kriegsgerichte, München 1998.
[19] Vgl. zu diesem Abschnitt: PA/AA, AV NA, DBR, Bd. 11543 (Anm. 16), S. 3; PAAA, AV NA, DBR, Bd. 11543, Vertraulicher Bericht vom 31.8.1960, 4 S; PA/AA, AV NA, DBR, Bd. 11543, Beurkundung des Notars Dr. Arnold Lins, 29.9.1960, 3 S.
[20] PA/AA, AV NA, DBR, Bd. 11543, DBR an AA, gez. Tannstein, 27.1.1961, 3 S., hier: S. 3; Vgl. zu diesem Abschnitt: Staron, Fosse Ardeatine (Anm. 5), S. 35-70; StA Dortmund, 45 Js 16/94, Strafsachen gegen Priebke, Erich, Ablichtungen aus dem Verfahren 10 Js 186/77 StA Lüneburg/Kappler, Bd. 2, Bl. 6-136, Tribunale Militare Territoriale di Roma, Vernehmung des Angeklagten Herbert Kappler, 17.7.-19.8.1947, Vernehmung 24.7.1947, Bl. 45-47, zit. nach ebd., S. 59; Prauser, Mord (Anm. 4), S. 286-294.
[21] PA/AA, AV NA, DBR, Bd. 11543, DBR an AA, gez. Tannstein, 27.8.1960, 3 S., hier: S. 3.
[22] Vgl. zu diesem Abschnitt: PA/AA, AV NA, DBR, Bd. 11543, DBR an AA, gez. Tannstein, 1.3.1961, 1 S.; PA/AA, AV NA, DBR, Bd. 11543, DBR an AA, gez. Tannstein, 2. März 1961, 2 S., hier: S. 2; PA/AA, AV NA, DBR, Bd. 11543, AA an DBR, gez. Gawlik, 18. 7, 1961, 2 S., hier: S. 2; PA/AA, AV NA, DBR, Bd. 11543, DBR an TMR, gez. Tannstein, 2. 8. 1961, 1 S.; Giustolisi, Franco, L'armadio della vergogna, Rom 2004, S. 50. Zur Flucht Kapplers aus einem römischen Militärhospital vgl.: Bohr, Lobby (Anm. 15), S. 430-434. Ein Aufsatz des Verfassers, der die Fluchtereignisse eingehend behandelt, erscheint im Januar 2012 in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte.
[23] Zum sog. „Schrank der Schande“ vgl. Giustolisi, Franco, L'armadio (Anm.22); „Schrank der Schande” (Georg Bönisch u. a.), Der Spiegel, 23. April 2001, S. 56-58; Focardi, Kalkül (Anm. 6), S. 559-564; Staron, Fosse Ardeatine (Anm. 5), S. 258-261. Zum „Fall Priebke“ vgl. ebd., S. 330-363; Leszl, Walter, Priebke. Anatomia di un processo, Rom 1997; „Da geht er“ (Julius Müller-Meiningen), Süddeutsche Zeitung (SZ), 21.5.2011.Auf der Ermittlungsliste des „Restverfahrens“ befand sich auch der Name des am Massaker in den Fosse Ardeatine beteiligten SS-Sturmbannführers Karl Hass. Wie Priebke wurde er am 7. März 1998 zu lebenslanger Haft verurteilt. Er starb im Jahr 2004 in Rom.
[24] Artikel 3, Absatz 3 des deutsch-alliierten „Überleitungsvertrages“ legte fest, dass von alliierten Gerichten endgültig abgeschlossene Verfahren der deutschen Gerichtsbarkeit entzogen bleiben sollten. Vgl.: Weinke, Annette, „Alliierter Angriff auf die nationale Souveränität“? Die Strafverfolgung von Kriegs- und NS-Verbrechen in der Bundesrepublik, der DDR und Österreich, in: Frei, Norbert, Transnationale Vergangenheitspolitik (Anm. 6), S. S. 37-93, hier: S. 55 ff.
[25] Frei, Norbert, Nach der Tat. Die Ahndung deutscher Kriegs- und NS-Verbrechen in Europa – eine Bilanz, in: Ders., Transnationale Vergangenheitspolitik (Anm. 6), S. 7-36, hier: S. 15
[26] Vgl. zu diesem Abschnitt ebd., S. 7-36. Zahlen zu den Urteilen und Ermittlungsverfahren gegen Deutsche und Österreicher wegen Kriegs- und NS-Verbrechen ebd. S. 31 f. Zahlen zu den Ende der 1950er Jahre noch in ausländischem Gewahrsam inhaftierten deutschen NS-Straftätern: PA/AA, B 83, Bd. 779, AA an DBR, gez. Gawlik, 11. Juli 1958, 2 S.
Literaturhinweise
Bohr, Felix N., Lobby eines Kriegsverbrechers. Offizielle und „stille“ Hilfe aus Deutschland für den Häftling Herbert Kappler, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 90 (2010), S. 415-436.
Focardi, Filippo, Criminali di Guerra in libertà. Un accordo segreto tra Italia e Germania federale, 1949-55, Prefazione di Lutz Klinkhammer, Rom 2008.
Frei, Norbert, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996.
Ders. (Hg.), Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2006.
Rusconi, Gian Enrico; Woller, Hans (Hgg.), Parallele Geschichte? Italien und Deutschland 1945-2000. Vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zur europäischen Einigung, Berlin 2006.