Umstrittene Souveränität. Die Assoziationspolitik der EWG mit Afrika

Am 20. Juli 1963 kam es in der kamerunischen Stadt Jaunde zur Unterzeichnung eines wirtschaftspolitischen Assoziationsvertrags zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und einer Reihe von afrikanischen Staaten. Der König der Belgier, die Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Frankreichs und Italiens, die Großherzogin von Luxemburg und die Königin der Niederlande verpflichteten sich in dem Vertragswerk, ihre internationalen Handelsbeziehungen gewissen Regeln zu unterstellen und ihre Souveränität einzuschränken. Die Vertragspartner waren seine Majestät, der Mwami von Burundi, die Präsidenten von Kamerun, der zentralafrikanischen Republik, von Kongo-Brazzaville und Kongo-Léopoldville, der Elfenbeinküste, Dahomey, Gabun, Ober-Volta, Madagaskar sowie die Staatsoberhäupter von Mali, Mauretanien, Niger, Rwanda, Senegal, Somalia, Tschad und Togo. Alle diese Würdenträgerinnen und Würdenträger waren entweder selbst präsent oder hatten hochrangige Vertreter entsandt. [...]

Umstrittene Souveränität. Die Assoziationspolitik der EWG mit Afrika[1]

Von Daniel Speich Chassé

Am 20. Juli 1963 kam es in der kamerunischen Stadt Jaunde zur Unterzeichnung eines wirtschaftspolitischen Assoziationsvertrags zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und einer Reihe von afrikanischen Staaten. Der König der Belgier, die Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Frankreichs und Italiens, die Großherzogin von Luxemburg und die Königin der Niederlande verpflichteten sich in dem Vertragswerk, ihre internationalen Handelsbeziehungen gewissen Regeln zu unterstellen und ihre Souveränität einzuschränken. Die Vertragspartner waren seine Majestät, der Mwami von Burundi, die Präsidenten von Kamerun, der zentralafrikanischen Republik, von Kongo-Brazzaville und Kongo-Léopoldville, der Elfenbeinküste, Dahomey, Gabun, Ober-Volta, Madagaskar sowie die Staatsoberhäupter von Mali, Mauretanien, Niger, Rwanda, Senegal, Somalia, Tschad und Togo. Alle diese Würdenträgerinnen und Würdenträger waren entweder selbst präsent oder hatten hochrangige Vertreter entsandt.

Der Vertrag markierte den vorläufigen Abschluss eines zentralen Kapitels in der Geschichte der europäischen Integrationsbemühungen. Man hatte in der schwierigen Frage der gemeinsamen europäischen Außenpolitik einen Standpunkt errungen. Und auch aus der afrikanischen Perspektive setzte der Vertrag einen wichtigen Stein. Die meisten der Unterzeichner hatten eben erst ihre nationale Souveränität errungen und sahen diese durch das Abkommen bestätigt.

Entsprechend freudige Worte wählte der EWG-Kommissionspräsident Walter Hallstein in seiner Ansprache bei der Unterzeichnung. Nachdem er die Leistungen des EWG-Kommissars für Entwicklung und humanitäre Hilfe, Henri Rochereau, verdankt hatte, würdigte er kurz den Gastgeberstaat Kamerun als Schmelztiegel kultureller Diversität, um dann die historische Besonderheit des Augenblicks zu beschwören. „Today marks an historic stage in the long evolution of relations between the industrialized and developing nations“,[2] führte er aus. „It is a most remarkable fact, of great political and human value, that after most of these countries attained independence they should have wished to conclude with the Community – on a footing of equal partnership – an agreement which has no precedent in history “.[3]

Höflichkeiten gegenüber den Gastgebern und pathetische Sätze aller Art gehören zum Ritual der Unterzeichnung von Staatsverträgen, denn sie bestätigen allen Anwesenden die Wichtigkeit ihres Amtes und ihrer Person. Gerne wird daher bei solchen Anlässen von „historischen Momenten“ und von der weltweiten Präzedenzlosigkeit des eigenen Tuns gesprochen. Doch was auf den ersten Blick als reine Rhetorik erscheint, verdient genauere Aufmerksamkeit. Als Hallstein im Juli 1963 in Jaunde sprach, gab es in der Praxis der Diplomatie und der internationalen Staatsakte noch kaum gefestigte Routinen im Umgang mit Afrikanerinnen und Afrikanern. Das Konzept der „equal partnership“, die auf Augenhöhe verhandelten, war keine Selbstverständlichkeit. Jedes einzelne seiner Worte ist im analytischen Rückblick bedeutungsvoll, weil Hallstein nicht einfach bekannte Floskeln in Anspruch nehmen konnte, sondern Formeln zu wählen hatte, die den divergierenden Erfahrungen seiner Zuhörerinnen und Zuhörer einigermaßen gerecht wurden – oder zumindest nicht allzu kontrovers verstanden werden konnten. Eine bewährte Ressource für die Floskeln, mit denen Staatsakte begleitet werden, ist die gemeinsame Tradition. Hallstein bemühte sich um die Herstellung solcher Traditionen, was allerdings kein leichtes Unterfangen war. Drei Problemfelder sind genauer zu erörtern.

Erstens erhob Hallstein Kamerun zu einem Schulbeispiel politischer Integration. Er freue sich, dass man just Jaunde als Versammlungsort gewählt habe, denn die Geschichte Kameruns biete reiches Anschauungsmaterial für die Kraft der politischen Einigung über regionale, kulturelle und sprachliche Differenzen hinweg. Dem Europapolitiker war solche Einheitsrhetorik Programm, da ja im europäischen Einigungsprozess die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich ein starkes Vertiefungspotenzial aufwies und Großbritannien überhaupt noch einzubinden war. Hier am Äquator spüre man förmlich, welch außergewöhnliche kollektive Anstrengung nötig sei, um „so many races, religions and diverse historical heritages“[4] in einer neuen politischen Körperschaft zu verschmelzen und welcher Gewinn aus einem solchen Projekt resultiere. Allen Zuhörerinnen und Zuhörern war klar, dass die deutsche, die französische und die englische Kolonialherrschaft Teile dieses Gebiets geprägt hatten, und man freute sich darüber, diese Einflüsse nun vereint zu sehen. Die Konflikthaftigkeit des historischen Erbes von Kamerun war aus dem Versammlungslokal in Jaunde allerdings kaum zu vertreiben.[5] Und dennoch nahm Hallstein das Land als Vorbild für seine Vision von Europa.

Zweitens sah Hallstein in Kamerun „a fine symbol, a fine example for Africa as a whole“.[6] Damit rekurrierte er auf die unter afrikanischen Politikern zu der Zeit äußerst kontrovers diskutierte Frage der afrikanischen Einheit. Er stilisierte den eben unabhängig gewordenen Staat zu einer Homogenität empor, die dieser so nicht darstellte. Und er brachte die Hoffnung zum Ausdruck, auch die Vielfalt des gesamten afrikanischen Kontinents lasse sich dereinst in eine homogene Einheit verwandeln, damit der südliche Nachbar zu einem vertraglich fassbaren Partner der EWG würde. Alternative Visionen der afrikanischen Einheit, die sich nicht ohne Weiteres an das Projekt der europäischen Integration anschließen ließen, wurden von Hallstein beiseitegeschoben.

Drittens schließlich konstruierte der EWG-Kommissionspräsident in fast meisterhafter Weise eine historisch völlig unbegründete Tradition. Er sprach nämlich von der „long evolution of relations between the industrialized and developing nations“.[7]Mit den „Industrieländern“ und den „Entwicklungsländern“ benannte er zwei soziale Kollektive, welche die Sozialwissenschaften erst zehn Jahre zuvor erfunden hatten.[8] Eine lange Dauer ihrer gleichberechtigten Begegnung gab es nicht, denn bis anhin waren afrikanische Territorien mit ihren europäischen „Mutterländern“ in kolonialen Herrschaftsbeziehungen verbunden gewesen. Die Sprechweise von Hallstein erlaubte es, koloniale Vergangenheiten in eine zukunftsfähige Konzeption zu überführen. Sie stellte Kollektive her und reduzierte das Maß der weltpolitischen Komplexität ihrer wechselseitigen Beziehungen.

Der erste Problembereich, den Hallstein in seiner Rede ansprach, betraf die europäische Geschichte mehr als die afrikanische. Seine Rede in Jaunde zeigt, wie eng die wirtschaftliche und politische Einigung Europas mit der Afrikapolitik der EWG verbunden war.[9] Als nach dem Zweiten Weltkrieg neue Kooperationsformen zwischen den europäischen Nationalstaaten Gestalt annahmen, erwies sich Afrika als ein kompliziertes Problem. Einerseits boten die reichen Ressourcen des südlichen Nachbars Anlass zur Wiederbelebung von geopolitischen Großraumphantasien, die in der Zwischenkriegszeit vielerorts geträumt worden waren.[10] Und andererseits stellten die seit jeher besonderen Beziehungen einzelner europäischer Länder zu Afrika ein schwieriges Hindernis bei der europäischen Einigung dar. Schon in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg verloren die kolonialen Metropolen in Europa schrittweise ihre Besitzungen im Nahen Osten sowie in Süd- und Südostasien, während ein gewaltiges Handelsbilanzdefizit gegenüber dem Dollarraum ihre wirtschaftliche Abhängigkeit von den Kolonien vergrößerte.[11] Es resultierte eine neue und intensivierte Form des europäischen Kolonialismus, welche die nationalstaatlichen verfassten „Mutterländer“ in eine erneuerte Konkurrenzsituation zueinander stellte und Afrika in der europäischen Imagination mit einer neuen Bedeutung versah.

Schon im „European Recovery Program“ bzw. dem „Marshall-Plan“, mit dem die USA das Interaktionsgefüge Europas der Vorkriegszeit wieder herzustellen versuchten, trat das Problem der Kolonien auf. 10 Prozent der Geldflüsse, die an Frankreich adressiert waren, gingen nach Westafrika. Die „Organization of European Economic Cooperation“ (OEEC), welche zur Allokation der Marshall-Plan-Gelder gegründet worden war, schuf 1948 ein eigenes Direktorium für Überseegebiete.[12] Und der Europarat setzte kurz nach seiner im selben Jahr erfolgten Gründung eine Kommission ein, welche sich den Südbeziehungen widmete.[13] Prominent war Afrika außerdem in der Ankündigung einer koordinierten Kohle- und Stahlpolitik zwischen Deutschland und Frankreich, die Robert Schuman 1950 machte. Aufgrund dieser Kooperation werde Europa „mit vermehrten Mitteln die Verwirklichung einer seiner wesentlichsten Aufgaben verfolgen können: die Entwicklung des afrikanischen Erdteils.“[14]

In den komplizierten Verhandlungen, die zu den Römischen Verträgen von 1957 führten, blieb Afrika ein Zankapfel. Die Staatskonstruktion, die sich Frankreich im Zuge seiner Wiederherstellung nach dem Krieg gab, band die Überseegebiete fest an die Metropole. Die Verfassung der Vierten Republik schuf einen einheitlichen Rechtsraum über das Mittelmeer hinweg, und der französische Staat entwarf Investitionsprojekte in großem Maßstab, etwa im Malischen „Office du Niger“, zu deren Finanzierung ein Entwicklungsfonds eröffnet wurde.[15] Als die Assemblé Nationale im Juli 1949 über den Beitritt zum Europarat debattierte, rief der senegalesische Abgeordnete Léopold Sédar Senghor in Erinnerung: „Ce n‘est pas la France qui entre au Conseil de l‘Europe, c’est la République française, et […] la République française n’est pas seulement composée de la métropole mais encore des départements et territoires d’outre-mer.“[16]

So sehr die Französische Republik daran interessiert war, den Erzfeind Deutschland mittels einer supranationalen Organisationsstruktur zu binden, so klar war in Paris auch, dass der europäische Einigungsprozess die Überseegebiete integral einschließen musste. Und tatsächlich gelang es der französischen Diplomatie, im vierten Teil der Römischen Verträge von 1957 Zollpräferenzen und Investitionsmechanismen zugunsten der eigenen Kolonien festzuschreiben.[17] Belgien war zunächst gegen die Schaffung einer solchen Sonderzone, da ein bedeutender Handel zwischen dem Kongo und dem Dollarraum bestand.[18] Italien befürchtete eine Konkurrenz zu der Aufbau- und Investitionshilfe, die man sich von der EWG für den Süden des eigenen Landes versprach. Und in Deutschland fand Ludwig Erhard als vehementer Verfechter des Freihandels viel Resonanz: Eine Sonderzone nach französischen Präferenzen schränke die Entfaltungsmöglichkeit der deutschen Exportwirtschaft auf dem Weltmarkt zu sehr ein, hielt er fest.[19] Insgesamt drückten sich in der kontroversen Frage der Grenzziehung nach außen die ganz unterschiedlichen „héritages historiques“ der europäischen Länder aus. Für Großbritannien bestätigte sich der Verdacht, die EWG sei ein französisches Projekt, dem man fern bleiben müsse. Umso erstaunlicher ist es, dass im weiteren Verlauf des Integrationsprozesses eine einheitliche Afrikapolitik möglich wurde.

Der zweite Problembereich, dem Hallstein Rechnung zu tragen hatte, umfasste die geschichtliche, politische und wirtschaftliche Heterogenität des afrikanischen Kontinents. So unterschiedlich die europäischen imperialen Machtbezüge nach Süden waren, so sehr hatten sich bestehende Unterschiede in den Interessenlagen der vielen afrikanischen Länder und Gebiete seit der Berliner Kongo-Konferenz 1884-85 noch verschärft. Diese Vielfalt prägte auch den Dekolonisationsprozess und die Vorstellungen von staatlicher Souveränität, die in seinem Zuge formuliert wurden. Für die Vertreter der französischen Territorien blieb vor der Erfahrung der Vierten Republik (1946-1958) die Perspektive einer staatsrechtlichen Assoziation mit Europa noch lange eine Option. Allerdings hatte Senghor schon 1957, als die Assemblé die Ratifizierung des EWG-Vertrags debattierte, gewarnt: „Nos réserves, encore une fois, monsieur le ministre des affaires étrangères, sont que l’Eurafrique que l’on nous propose ne soit pas une Eurafrika totalitaire à la manière de Hitler, mais qu’elle soit démocratique et fraternelle.“[20] Er sah in der Assoziation das Potenzial eines demokratisch legitimierten Verhandlungsraums, in dem die europäisch-afrikanischen Beziehungen zum beiderseitigen Nutzen intensiviert werden könnten. In dieser Hinsicht stimmte er dem Souveränitätsverzicht zu, der mit der Assoziation einherging. Und zugleich befürchtete er, die Assoziation diene lediglich der Zementierung von wirtschaftlichen Ausbeutungsverhältnissen. Sein ivorianischer Kollege im französischen Parlament, Félix Houphouët-Boigny, war weniger pessimistisch. Souveränität, so meinte dieser 1957 in einem Vortrag vor britischem Publikum, sei angesichts der weltweiten Wirtschaftsverflechtungen ein relativer Begriff. „Indeed, who doubts that close and sustained economic relations are essential to a country which wants to raise its standard of living? What countries are self-sufficient? Not even the United States. Indeed, the countries of Europe in the Coal and Steel Community, in Euratom and in the Common Market are prepared to relinquish a part of their sovereignty, that is to say, a part of their national independence. […] This is also our goal, because it is in our interest.”[21] Ähnlich äußerte sich auch Mamadou Dia, der wie Senghor Senegal und Mali in Paris vertrat.[22]

Einen Kurs des radikalen Bruches mit den kolonialen Zentren fuhren hingegen Sékou Touré in Guinea und Kwame Nkrumah in Ghana. Dabei stellte sich insbesondere Nkrumah in die Tradition des amerikanischen Panafrikanismus und denunzierte die Assoziation einiger afrikanischer Territorien mit der EWG als institutionelle Verlängerung der kolonialen Situation. Auch für Nkrumah war Souveränität ein relativer Begriff. Auch er verstand den Abbau von Zöllen und die Schaffung von supranationalen Kooperationsverhältnissen als wohlstandsfördernde Maßnahmen und sah in der EWG den besten Beleg hierfür. Doch die besondere historische Lage Afrikas fordere andere Vorgehensweisen. In seinem Hauptwerk „Africa must unite“ schrieb er 1963: „It seems […] curiously paradoxical that in this period when national exclusivism in Europe is making concessions to supernational organizations, many of the new African states should cling to their new-found sovereignty as something more precious than the total well-being of Africa and seek alliances with the states that are combining to balkanize our continent in neo-colonial interests.”[23] Der Souveränitätsverzicht sei nicht gegenüber Europa zu leisten, sondern gegenüber den anderen afrikanischen Ländern. Man solle das Assoziationsmodell übernehmen, um gegenüber Europa als geeinte Kraft auftreten zu können. „If technical and economic co-operation between Africans is a feasibility, […] then where is the need to tie it in with the European Common Market, which is a European organization promoted to further European interests?“, fragte er.[24]

Das dritte Problemfeld in Hallsteins Rede war geprägt von ökonomischer Expertise.[25] Vor dem Hintergrund der problembeladenen Beziehung zwischen Europa und Afrika, welche durch den neuen Diskurs des Selbstbestimmungsrechts der Völker im Dekolonisationsprozess noch akzentuiert wurde,[26] tritt deutlich hervor, welches Potenzial die neue Rede von „Entwicklungsländern“ und „Industrieländern“ hatte. Hallsteins Diskurs entpolitisierte das Verhältnis zwischen Europa und den ehemaligen Kolonialbesitzungen und eröffnete der Diplomatie einen technischen Verhandlungsraum, in welchem vertragliche Übereinkünfte wie jene von Jaunde 1963 möglich wurden.[27] In dieser Technizität lag die historische Neuartigkeit des Abkommens, welche der EWG-Kommissionspräsident so klar beschwor. „It is a peaceful venture, intended to provide a decent standard of living for men and women and to lead to mutual understanding amongst States. Everybody is talking about this, but today the Community and the associated African States and Madagascar are acting“, hielt er fest.[28]

Tatsächlich hatte sich von der Gründungsversammlung der Vereinten Nationen in San Francisco 1945 her eine neue Sprechweise ergeben, welche die Souveränität von nationalstaatlich verfassten Kollektiven zum höchsten Gut erhob. Das war mit der Stabilisierung von imperialen Herrschaftsverhältnissen, wie sie Frankreich in der Vierten Republik vertrat, schwer zu vereinbaren. Schon im EWG-Vertrag rekurrierte man explizit auf die UNO-Charta, um die Assoziierung mit Afrika nicht dem Verdacht des Neokolonialismus auszusetzen. Der Verdacht blieb. Und im Abkommen von Jaunde wurde diese Referenz an übergeordnete staatsrechtliche Setzungen wiederholt. Der Jurist Hallstein nahm darauf Bezug, als er betonte, gerade die grundsätzliche Annahme der Gleichheit aller Vertragspartner sei das hervorstechende Merkmal des Dokuments und erhebe seine Unterzeichnung zu einem historischen Moment.

Das Korrelat dieser Gleichheitsannahme war eine neue, sozialwissenschaftlich gestützte Verständnisweise Afrikas, welche die Länder dieses Kontinents integral auf ihren ökonomischen Entwicklungsgrad bezog. In Hallsteins Sicht war Europa nicht mit historisch gewachsenen, unterschiedlichen Kolonialbeziehungen zu Afrika konfrontiert, sondern mit einer Gruppe von „unterentwickelten“ Ländern, die eine Einheit darstellten, und deren Probleme durch gezielte Kapitalinvestitionen und durch den Transfer von technischem Knowhow zu lösen waren. Er hatte diese Vision schon 1961 konkretisiert, als sich afrikanische Parlamentarierinnen und Parlamentarier in Straßburg mit dem Europarat zusammenfanden, um das Verhältnis der EWG zu den gerade unabhängig werdenden afrikanischen Staaten zu definieren.[29] Und er stellte diesen entwicklungspolitischen Gedanken auch rückblickend in seinem Buch über die Europäische Gemeinschaft von 1973 in dem Kapitel über „Die Gemeinschaft und die Welt“ als leitend vor.[30]

Diese Konzeption, die man vielleicht als eine entwicklungspolitische „Hallstein-Doktrin“ bezeichnen könnte, war eng verknüpft mit jenen wirtschaftlichen Modernisierungstheorien, die etwa auch der US-Außenpolitik zugrunde lagen.[31] Sie gewann aber im Rahmen der europäisch-afrikanischen Beziehungen eine besondere Färbung: Ihr Reduktionismus verbannte politische und historische Differenzen zwischen den afrikanischen Ländern und Territorien aus dem diplomatischen Diskurs und stellte nach Maßgabe der Entwicklungsdefizite dieser Gebiete ein neues Länderkollektiv her, zu dem die EWG als eine Einheit vertraglich in ein Verhältnis treten konnte. Die Konzeption entzog den afrikanischen Kritikern der Assoziation wie Nkrumah den intellektuellen Boden. Vor dem Weltmarkt geschützte Handelszonen, wie sie die EWG mit dem Jaunde-Abkommen schuf, beförderten in dieser Lesart keine „Balkanisierung“ des afrikanischen Kontinents, sondern waren im Rahmen der UNO-Charta ganz auf die Förderung von Wohlstand und Entwicklung gerichtet. Souveränitätsverzichte in dieser Hinsicht mussten das Selbstwertgefühl der Afrikanerinnen und der Afrikaner nicht unterlaufen, sondern waren Hilfestellungen in der Ausgestaltung ihrer Kollektive. Der Souveränitätsverzicht, den die assoziierten afrikanischen Staaten und Madagaskar gegenüber der EWG eingingen, war auf die Stärkung dieser neuen Länder im Weltmarkt und auf der weltpolitischen Bühne gerichtet und das Abkommen bestätigte sie als souveräne Entitäten.

Das Abkommen von Jaunde integrierte einen transkontinentalen Wirtschaftsraum. Es stellte Wohlstandsgewinne in Aussicht, und machte den partiellen Verlust von Souveränität dadurch auf beiden Seiten des Mittelmeers legitimierbar. Im Deutungshorizont der technischen Entwicklungsproblematik wurden die ungleichen Partner Afrika und Europa staatsrechtlich zu Nehmern und Gebern in einem übergreifenden Austauschprozess und rückten in einen gemeinsamen Handlungsraum ein. Damit war für das politische Projekt der europäischen Einigung die koloniale Vergangenheit gebannt und eine Zukunftsperspektive entworfen, welche für die afrikanischen Partner eine staatstragende Ressource darstellte. Die Assoziationsform des Jaunde-Vertrages von 1963 erwies sich jedenfalls als stabil und wurde in den 1970er-Jahren mit den Lomé-Abkommen auch auf die ehemals britischen Territorien in Afrika ausgeweitet.


[1] Essay zur Quelle: Address by Professor Dr. Walter Hallstein on the occasion of the signature of the Convention of Association with the African States and Madagascar (Yaoundé, 20 July 1963). 

[2] Hallstein, Walter, Address by Professor Dr. Walter Hallstein, President of the Commission of the European Economic Community, on the occasion of the signature of the Convention of Association with the African States and Madagascar, Yaoundé, 20 July 1963, in: University of Pittsburgh, Archive of European Integration (AEI), URL <http://aei.pitt.edu/14309/1/S74.pdf> (31.01.2012).

[3] Hallstein, Convention.

[4] Hallstein, Convention.

[5] Wirz, Albert, Vom Sklavenhandel zum Kolonialen Handel. Wirtschaftsräume und Wirtschaftsformen in Kamerun vor 1914, Zürich 1972.

[6] Hallstein, Convention.

[7]Hallstein, Convention.

[8] Sauvy, Alfred, Trois mondes, une planète, in: L'Observateur, 14.08.1952, S. 14.

[9] Rempe, Martin, Entwicklung im Konflikt. Die EWG und der Senegal 1957-1975, Köln 2012; Vahsen, Urban, Eurafrikanische Entwicklungskooperation. Die Assoziierungspolitik der EWG gegenüber dem subsaharischen Afrika in den 1960er Jahren, Stuttgart 2010; van Laak, Dirk, Detours around Africa. The Connection between Developing Colonies and Integrating Europe, in: Badenoch, Alec und Andreas Fickers (Hg.): Materializing Europe. Transnational Infrastructures and the Project of Europe, Houndmills 2010, S. 27-43; Dimier, Véronique, Bringing the Neo-Patrimonial State back to Europe. French decolonization and the making of the European development aid policy, in: Archiv für Sozialgeschichte 48 (2008), S. 433-457; Migani, Guia, La France et l’Afrique subsaharienne 1957-1961. Histoire d’une décolonisation entre idéaux eurafricains et politique de puissance, Brüssel 2008.

[10] Zischka, Anton, Afrika. Europas Gemeinschaftsaufgabe Nr. 1, Oldenburg 1951.

[11] Cooper, Frederick, Reconstructing Empire in British and French Africa, in: Mazower, Mark et al. (Hg.), Post-war Reconstruction in Europe. International Perspectives, 1945-1949, Oxford 2011, S. 196-210.

[12] Schreurs, Rik, A Marshall Plan for Africa? The Overseas Territories Committee and the origins of European co-operation in Africa, in: Griffiths, Richard T. (Hg.), Explorations in OEEC History, Paris 1997, S. 87-98.

[13] Generalsekretariat des Europarats, Le plan de Strasbourg pour une amélioration des relations économiques entre les états membres du Conseil de l'Europe et les pays d'outre-mer avec lesquels ils ont des liens constitutionnels, Strasbourg 1952.

[14] Erklärung von Robert Schuman vom 9. Mai 1950, in: Die EU im Überblick, URL <http://europa.eu/abc/symbols/9-may/decl_de.htm> (31.01.2012).

[15] Cooper, Frederick, Africa since 1940. The past of the present, Cambridge 2002; Marseille, Jacques, Empire colonial et capitalimse français. Histoire d'une divorce, Paris 1984.

[16] Senghor, Léopold Sédar, Place de l’Afrique dans l’Europe unie, 9. Juillet 1949, in: ders., Liberté, tome 2, Nations en voie de développement et socialisme, Paris 1971, S. 60-64, bes. S. 60.

[17] Cosgrove-Twitchett, Carol, Europe and Africa. From association to partnership, Farnborough 1978, S. 17-32.

[18] Deschamps, Etienne, L’Afrique belge et le projet de Communauté politique européenne (1952-1954), in: Remacle, Eric und Pascaline Winand (Hg.), America, Europe, Africa – l’Amérique, l’Europe, l’Afrique, 1945-1973, Brüssel 2009, S. 307-324.

[19] Erhard, Ludwig, Deutschlands Rückkehr zum Weltmarkt, Düsseldorf 1953.

[20] Senghor, Léopold Sédar, Intervention en séance lors de la discussion du projet de ratification du traité de Rome, Procès verbal de l’Assemblée Nationale, 2e Séance du 4. Juillet 1957, S. 3262. Online verfügbar auf den Seiten der Assemblée Nationale, URL <http://www.assemblee-nationale.fr/histoire/senghor/seance_4juil1957.pdf > (31.01.2012).

[21] Houphouët-Boigny, Félix, Black Africa and the French Union, in: Foreign Affairs 35 (1957) 4, S. 593- 599.

[22] „Nation souveraine, le Mali sera, dans ses nouveaux rapports avec la République française, maître de son commerce extérieur, dans la mesure où cette souveraineté a une signification pour toutes les nations, petites ou grandes, dans ce monde interdépendant.“ Dia, Mamadou, Nations Africaines et solidarité mondiale, Paris 1960, S. 117.

[23] Nkrumah, Kwame, Africa Must Unite, London 1963, S. 158.

[24] Nkrumah, Africa, S. 160.

[25] Speich, Daniel, The Use of Global Abstractions. National income accounting in the period of imperial decline, in: Journal of Global History 6 (2011) 1, S. 7-28.

[26] Fisch, Jörg, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion, München 2010.

[27] Ferguson, James, The Antipolitics Machine. Development, depoliticization, and bureaucratic power in Lesotho, Cambridge 1990.

[28] Hallstein, Convention.

[29] Hallstein, Walter, Europäische Afrikapolitik. Rede an der Universität Tübingen am 5. Mai 1961, in: Oppermann, Thomas (Hg.), Walter Hallstein. Europäischen Reden, Stuttgart 1979, S. 261-275. Zur Konferenz in Straßburg am 19.-24. Juni 1961, an welcher der Europarat und Vertreter von afrikanischen Parlamenten debattierten, siehe Vahsen, Entwicklungskooperation, S. 135f.

[30] Hallstein, Walter, Die Europäische Gemeinschaft, Düsseldorf 1973, S. 276ff.

[31] Ekbladh, David, The Great American Mission. Modernization and the construction of an American world order, Princeton 2010.


Literaturhinweise


  • Bitsch, Marie-Thérèse und Gérard Bossuat (Hg.), L'Europe Unie et l'Afrique. De l'idée d'Eurafrique à la convention de Lomé I, Bruxelles 2005.
  • Cooper, Frederick, Reconstructing Empire in British and French Africa, in: Mazower, Mark et al. (Hg.),Post-war Reconstruction in Europe. International Perspectives, 1945-1949, Oxford 2011, S. 196-210.
  • Cosgrove-Twitchett, Carol, Europe and Africa. From association to partnership, Farnborough 1978.
  • Rempe, Martin, Entwicklung im Konflikt. Die EWG und der Senegal 1957-1975, Köln 2012.
  • Vahsen, Urban, Eurafrikanische Entwicklungskooperation. Die Assoziierungspolitik der EWG gegenüber dem subsaharischen Afrika in den 1960er Jahren, Stuttgart 2010.

Address by Professor Dr. Walter Hallstein on the occasion of the signature of the Convention of Association with the African States and Madagascar (Yaoundé, 20 July 1963)[1]


Address by Professor Dr. Walter Hallstein

President of the Commission

Of the European Economic Community

On the occasion of the signature of the

Convention of Association with the

African States and Madagascar

Yaoundé 20 July 1963

Embargoed until Saturday, 20 July 19633.00 p.m. Brussels time


It is both an honour and a pleasure for the Commission of the European Economic Community to take part here in Yaoundé in the ceremony for the signature of the new Convention of Association.

As I stand before this illustrious gathering, my first duty as President of that Commission is to thank once again the man who within the Commission carries the main responsibility for questions concerned with this Association, my colleague Henri Rochereau.

What contribution the Commission has been able to make to the success of this venture is largely due to him. To spare him embarrassment I will only speak of his devotion to Europe and Africa; I know that he would wish me to associate with this well merited homage all those who are working under his inspiration.

The ceremony to which we have come today has great significance.

The very fact that our friends of the associated States should have chosen Yaoundé is symbolic. In this city with its fraternal welcome we understand and sense the difficult but peaceful and confident effort of a whole people to merge so many races, religions and diverse historical heritages in the melting-pot of unity: in truth, a fine symbol, a fine example for Africa as a whole.

Today marks an historic stage in the long evolution of relations between the industrialized and developing nations.

From the very inception of the Treaty of Rome the founders of the European Economic Community resolutely undertook to support the development of the overseas countries with which some of them at that time had special relations.

It is a most remarkable fact, of great political and human value, that after most of these countries attained independence they should have wished to conclude with the Community – on a footing of equal partnership – an agreement which has no precedent in history and which establishes new, more numerous and stronger links through a great joint venture, and that such an agreement should have been successfully concluded.

It is a peaceful venture, intended to provide a decent standard of living for men and women and to lead to mutual understanding amongst States. Everybody is talking about this, but today the Community and the associated African States and Madagascar are acting.

The signing of the new Convention sets the seal on our present relations and opens up new prospects of progress.

In perfecting and renewing our association, in adapting it to the political and economic necessities of our age, we have had to meet several requirements.

The Community, that at the end of the five years for which the new Convention of Association has been concluded will be approaching the end of the common market’s transition period, must simultaneously continue its internal build-up and face its world responsibilities; at the same time, this Community feels itself bound to contribute to the economic and social progress of the associated countries and, so far as possible, to take into account the interests of other developing countries.

The foremost task for the developing countries is to lead their peoples towards living conditions conducive to the unfolding of human dignity so that they may reach that stage of economic security without which true sovereignty cannot assert itself.

We may say that the Association reflects a fair balance between all these objectives, which are not contradictory but difficult to harmonize and to attain reasonably quickly.

It is equally noteworthy that the experience gained during the initial years of association has not been wasted. Both sides have analysed and used it so that, with the modesty called for in the appreciation of such an undertaking, we may say that the Convention of Association between the European Economic Community and the African States and Madagascar marks a substantial improvement on the system in force until 31 December 1962.

This is the result of the active goodwill which inspired all the Governments concerned and the institutions of the Community. In this context we must pay tribute to the work of the European Parliament and to its perseverance in close co-operation with the Parliaments of the African countries and Madagascar.

It would seem to me that over and above the very comprehensive character of the Association with its well balanced and carefully worked out solutions to often highly complicated technical problems, the essential point is that there is a permanent and almost exhaustive confrontation between the economic interests of the two groups of countries, and that problems are to be solved on the basis of the common interest of all concerned. That common interest has already led us to co-operate for five years; we have together presented it to the world and, when necessary, we have defended it together. By so doing we think we have merited the praise received from well-qualified observers who have described our association as the sort of agreement which they would like to see applied at a continental or even al world level.

I am no less aware than anyone here of the criticisms which the advocates of this association have met, and which they may still meet. Nor do I claim that this association is the answer to all our problems.

It is with all this in mind that the Commission, when putting forward an Action Programme for the Community, suggested that an effort be made to conclude world-wide agreements on the main agricultural commodities – a field in which the European Economic Community will be intervening with greater authority. Such action would help:

a) To stabilize the prices of tropical products at a profitable level, and so

b) To guarantee a more regular and higher income to producers and

c) To improve the structure of production.

Europe must in addition take the necessary steps to increase consumption of these products.

By applying such a policy the Community would evidently improve conditions not only for its associates but also for many other developing countries.

But I cannot follow the critics when they argue the African partners of this association with having committed themselves, in their relations with the European Economic Community, to a closed system incompatible with their sovereignty or their membership of other bodies.

All members of the association, whatever their economic strength, are on an equal footing:

a) At the highest level of decision the associated States together and the Community each have one vote, and no decision can be imposed on either party unless both votes are in favour;

b) Far from maintaining old or erecting new artificial barriers between developing countries, the association favours any regrouping which the associates might wish to undertake and at the same time it allows close economic relations with non-associated countries to be maintained or established;

c) The Convention is not closed to non-member countries whose economic structure is comparable to that of the present associates, but on the contrary it is expressly open to any such countries prepared to accept the rights and obligations involved. I would add that association in no way excludes the conclusion of other types of agreement with any developing country which wishes to make such an agreement;

d) Finally, owing to a body of solutions, some of which are already found in other systems of international relations but some of which are quite new, the Association really does provide its economically least developed members with certain means of speeding their progress and of catching up with more highly developed countries. I refer here in particular to the tariff, quota and financial provisions which allow the associated States to promote diversification and rationalization in their economic structure, in other words their industrialization.

May I therefore wish every success to this venture which is today getting off to a new start. The millions of men and women who must back it and who are also to benefit from it, the men and women who have placed their hopes in it, must not be disappointed. I can assure you that within the European Economic Community the Commission will for its part do all in its power to ensure the success of this agreement which, under the name of the Yaoundé Convention, has so felicitously brought us together here today.


[1] Hallstein, Walter, Address by Professor Dr. Walter Hallstein, President of the Commission of the European Economic Community, on the occasion of the signature of the Convention of Association with the African States and Madagascar, Yaoundé, 20 July 1963, in: University of Pittsburgh, Archive of European Integration (AEI),URL <http://aei.pitt.edu/14309/1/S74.pdf> (31.01.2012). Die Transkription wurde von Anne Lammers (Themenportal Europäische Geschichte) durchgeführt.


Für das Themenportal verfasst von

Daniel Speich Chassé

( 2012 )
Zitation
Daniel Speich Chassé, Umstrittene Souveränität. Die Assoziationspolitik der EWG mit Afrika, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2012, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1560>.
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