Der Transfer des argentinischen Tangos in die populäre Kultur der europäischen Großstadt um 1900

Eine Tangomanie ergriff in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg die europäischen Großstädte. Der argentinische Tango wurde vor allem in der Unterhaltungskultur von Paris, London und Berlin zu einem neuen Modetanz und verbreitete sich von dort aus auch in anderen Städten. Auf den Bühnen der Music Halls und Varieté-Theater kam kaum eine Vorstellung ohne eine Tango-Nummer aus, international erfolgreiche Künstler und Künstlerinnen wie Gaby Deslys oder George Grossmith Jr. nahmen den Tanz in ihr Programm auf. Doch nicht nur auf den Bühnen war der Tango zu sehen, auch das Publikum tanzte. Tanzflächen fanden sich in den Palais de Danse, wie sich die glamourösen Ballsäle des Olympia in Paris oder des Metropolpalastes in Berlin nannten, sowie in den Cafés, Restaurants und neuen Grandhotels entlang der Boulevards der Städte. Tango war in der Vergnügungskultur europäischer Metropolen „en vogue“. [...]

Der Transfer des argentinischen Tangos in die populäre Kultur der europäischen Großstadt um 1900[1]

Von Kerstin Lange

Eine Tangomanie ergriff in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg die europäischen Großstädte. Der argentinische Tango wurde vor allem in der Unterhaltungskultur von Paris, London und Berlin zu einem neuen Modetanz und verbreitete sich von dort aus auch in anderen Städten. Auf den Bühnen der Music Halls und Varieté-Theater kam kaum eine Vorstellung ohne eine Tango-Nummer aus, international erfolgreiche Künstler und Künstlerinnen wie Gaby Deslys oder George Grossmith Jr. nahmen den Tanz in ihr Programm auf.[2] Doch nicht nur auf den Bühnen war der Tango zu sehen, auch das Publikum tanzte. Tanzflächen fanden sich in den Palais de Danse, wie sich die glamourösen Ballsäle des Olympia in Paris oder des Metropolpalastes in Berlin nannten, sowie in den Cafés, Restaurants und neuen Grandhotels entlang der Boulevards der Städte. Tango war in der Vergnügungskultur europäischer Metropolen „en vogue“. Der vorliegende Beitrag zeigt, wie dieser Tanz in den Jahren 1912 und 1913 zu einem zentralen Element der populären Kultur der Großstadt wurde und fragt, welche Rolle professionelle Tanzlehrer bei einer solchen Erweiterung des Repertoires der Gesellschaftstänze und beim Wandel der populären Kultur der Großstadt um 1900 spielten.

Der Tango reihte sich in eine Vielzahl neuer transatlantischer Tänze ein, die um 1900 bekannt wurden und die Presse in Paris, Berlin und London von einem Aufleben der Tanzkunst sprechen ließen. „Ein neues Jahrhundert – eine neue Tanzkunst“, schrieben die Tanzexperten. Damit waren nicht nur die neuen Strömungen des Ausdruckstanzes und der Erfolg des russischen Balletts auf europäischen Bühnen gemeint, sondern ebenso die neuen Gesellschaftstänze. Nach dem Cakewalkund einer Reihe skurriler Tiertänze, wie Grizzly Bear und Turkey Trot, die aufgrund der neuen US-amerikanischen Ragtime-Rhythmen mit tradierten Hörgewohnheiten und Körperpraktiken brachen, war es jedoch der südamerikanische Tango, der die größte Euphorie auslöste und sich langfristig in das Repertoire der europäischen Gesellschaftstänze einschreiben konnte.

Mit dem argentinischen Tango setzte sich zum ersten Mal ein Tanz aus Lateinamerika in Europa durch. Buenos Aires, das um 1900 bereits 1,5 Millionen Einwohner zählte und damit zu den größten Städten der Welt gehörte, hatte sich seit der Unabhängigkeit von der spanischen Kolonialherrschaft 1810 zum politischen und wirtschaftlichen Zentrum Argentiniens entwickelt. Die Stadt war in vielerlei Hinsicht eine europäisch geprägte Stadt. Im Zuge einer forcierten argentinischen Einwanderungspolitik, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Immigration aus Europa gezielt gefördert hatte, waren zwischen 1880 und 1914 rund vier Millionen Einwanderer nach Argentinien gekommen. Die meisten von ihnen stammten aus Italien und Spanien, etwas kleinere Gruppen aus Mittel- und Osteuropa. Buenos Aires, wo sich die meisten der Einwanderer aus Europa niederließen, machte in diesem Zeitraum einen ähnlich umfassenden Transformationsprozess durch wie die großen Städte Europas. Dieser ging mit Neuordnungen der sozialen und räumlichen Ordnung der Stadt sowie mit der Ausdifferenzierung kultureller Repräsentationen einher. Buenos Aires bezeichnete sich selbst gern als das „Paris Lateinamerikas“. Im Zentrum der Stadt hatte man in den 1880er-Jahren nach dem Vorbild von Paris bzw. den städtebaulichen Konzepten von Baron Haussmann breite Boulevards anlegen lassen. 1908 eröffnete das Teatro Colón, ein Opernhaus, dessen Architektur und Ausstattung mit über 3.000 Plätzen seinen europäischen Pendants in nichts nachstand und Buenos Aires zu einem weltweit anerkannten Schauplatz des klassischen Musiktheaters werden ließ. Der Tango dagegen entstand als populäre Kultur der Großstadt in den ärmeren Vierteln von Buenos Aires, in denen viele europäische Immigranten und argentinische Arbeiter aus der Provinz lebten. Diese Viertel befanden sich vor allem rund um den Hafen und bildeten den „Stadtrand“, eine Bezeichnung, die mehr ein sozialpolitisches Phänomen als eine räumliche Dimension meinte. Hier entwickelten sich eigene Ausdrucksformen städtischer Erfahrung. Der Tango, als Musik und Tanz, verband europäische, afroamerikanische und argentinisch ländliche musikalische Traditionen miteinander. Die Instrumentierung bestand zunächst aus Flöte, Geige und Gitarre, später wurde das aus Deutschland stammende Bandoneon zum prägenden Instrument.[3] Die Texte handelten von den Lebensbedingungen in den Vorstädten von Buenos Aires und der Erfahrung des Heimatverlustes der europäischen Einwanderer. Um die Jahrhundertwende hatte der Tango sich bereits zu einem eigenen Genre und zu einem festen Bestandteil des populären Vergnügens in den Tanzlokalen und auf den Bühnen der Stadt entwickelt. Die argentinische Oberschicht, die sich an einer europäischen Hochkultur orientierte, lehnte den Tango zu diesem Zeitpunkt jedoch vehement ab. Die Weigerung, den Tango als Element oder Ausdruck einer argentinischen Nationalkultur anzuerkennen, spiegelte den Gegensatz zwischen einer nationalen Hochkultur und den kulturellen Repräsentationen einer heterogenen Bevölkerung der Großstadt.

Der argentinische Tango war, ganz ähnlich wie das frühe Kino oder das populäre Theater, ein Phänomen des populären Vergnügens in der Großstadt, dessen Herausbildung und Verbreitung in Buenos Aires wie in den europäischen Metropolen mit grundsätzlichen Auseinandersetzungen über die Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Kultur einherging. Eine zunehmende Dichotomisierung von Hoch- und Populärkultur zeigte sich auf der einen Seite durch kulturkritische Debatten und ordnungspolitische Maßnahmen. Dahinter standen die Vertreter einer bürgerlichen Hochkultur, die in der populären Kultur der Großstadt generell einen Niedergang sahen und den Verlust der eigenen Deutungsmacht fürchteten. Die Kommerzialisierung und Professionalisierung von Unterhaltung im Verlauf des 19. Jahrhunderts hatte jedoch auf der anderen Seite auch neue Akteure auf den Plan gerufen, die bestrebt waren, populäre Formen aufzuwerten und ihre Einflusssphären zu sichern.

In großen Teilen der historischen Literatur werden derartige Auseinandersetzungen innerhalb eines nationalen Rahmens untersucht und erklärt. Eine vergleichende Perspektive auf den kulturellen Wandel und die Entstehung einer modernen Massenkultur zeigt allerdings, dass die Entwicklungen in den europäischen Metropolen sich nicht nur ähnelten, sondern darüber hinaus durch eine zunehmende Internationalisierung der populären Kultur und vielfältige Transfer- und Austauschprozesse bedingt waren.

Drei Faktoren sollen im Folgenden beispielhaft aufgezeigt werden, um die zunehmenden globalen Verflechtungen populärer Kultur und einen damit einhergehenden veränderten Erfahrungshorizont zu verdeutlichen. Erstens hatten die Entstehung einer Massenpresse sowie technische Neuerungen in der Reproduktion die Rahmenbedingungen für eine beschleunigte Diffusion von Musik geschaffen. Der Notenhandel wurde zu einem wichtigen Element der Kommerzialisierung und der Popularisierung neuer Genres. Mit der Erfindung des Phonographen und des Grammophons wurde Musik erstmalig technisch reproduzierbar und das Hören von Musik damit zu einer neuen sinnlichen Erfahrung. Auch Tanzmusik ließ sich von nun an schneller über weite Entfernungen vermitteln. Da die Möglichkeit zu Plattenaufnahmen zunächst nur an wenigen Orten bestand, stellten Großstädte hier entscheidende Zentren der Produktion dar.

Mit einer solchen Beschleunigung und Vervielfältigung der Wege gingen zweitens die Zirkulation von Programmen und die zunehmende Mobilität von Künstlern und Künstlerinnen auf europäischen Bühnen einher. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden mit den Revuen standardisierte Programme, die in den Music Halls vieler europäischer Städte zu sehen waren und erstmalig international bekannte Bühnenstars hervorbrachten. Die Ausdifferenzierung des Angebotes und die Suche nach immer neuen Attraktionen auf der ganzen Welt wurden notwendig, um in der internationalen Konkurrenz bestehen zu können. Für die Künstler und Künstlerinnen ergaben sich daraus neue Einkommensmöglichkeiten und ein sehr viel größerer geographischer Radius ihrer Tätigkeit. Der Tango verbreitete sich von Paris ausgehend schnell auch in anderen großen Städten. Argentinische Tangotänzer und Tanzlehrer fanden ein lukratives Einkommen, argentinische Musiker kamen für Konzertreisen und Plattenaufnahmen nach Europa. Zeitungen und Zeitschriften sorgten mit ihren Berichten und Programmankündigungen für die Vernetzung von Künstlern und Produzenten über nationale Grenzen hinweg.

Damit rückte drittens „die Welt“ in die europäischen Städte. Die Inszenierungen einer internationalen Vergnügungskultur in den europäischen Metropolen erweiterten den Erfahrungshorizont eines breiten Publikums. Dabei waren das kulturelle Rahmenprogramm der Weltausstellungen oder die exotischen Darbietungen der Music Halls immer auch Repräsentationen einer imperialen Ordnung der Welt auf der städtischen Bühne. Hier spiegelten sich somit die asymmetrischen Rezeptions- und Produktionsbedingungen populärer Kultur im Rahmen globaler Machtverhältnisse der Zeit um 1900.

In der Selbstinszenierung der europäischen Städte als „Weltstädte“ waren die Internationalität der Vergnügungskultur sowie die Exklusivität des Angebots zentral. Die alten europäischen Metropolen, London und Paris, sahen dabei vor allem in Berlin eine kulturelle Konkurrenz, die sich nicht nur in der Hochkultur, sondern vor allem auch in der populären Kultur der Vergnügungsviertel manifestierte. Kennzeichen einer solchen internationalen populären Kultur waren daher Austausch und Kommunikation zwischen den Städten ebenso wie Konkurrenz und Abgrenzung untereinander.

Als das Berliner Tageblatt im Herbst 1913 einen Artikel mit dem Titel „Weshalb sich der Tango die Welt erobert“ publizierte[4], griff es damit eine Frage auf, die damals auch in Paris und London die Presse beschäftigte: Der europäische Gesellschaftstanz war im Umbruch begriffen. Die Rede von der Weltmachtstellung des Tangos verwies dabei jedoch nicht nur auf die massive Präsenz des neuen Modetanzes in den Metropolen der europäischen Großmächte, die sich zugleich als die maßgeblichen Zentren der Weltkultur betrachteten, sondern auch auf ein gewisses Unbehagen, das sich gegenüber diesem neuen Phänomen artikulierte.

Der Artikel des Berliner Tageblatts diskutierte die Rezeption und Verbreitung des Tangos in den europäischen Großstädten dann allerdings nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Spannung zwischen dem Eigenen und dem Fremden, sondern sehr viel grundsätzlicher im Rahmen des langfristigen historischen Wandels der Tanzkultur. Das Repertoire des Gesellschaftstanzes hatte sich bis dato aus den Stilen gemeinsamer europäischer Herkunft zusammengesetzt. Nach der französischen Revolution hatte sich der Walzer als erster genuin bürgerlicher Gesellschaftstanz in Europa verbreitet. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden eine Reihe osteuropäischer Tänze, wie Polka und Mazurka beliebt, die sich in das Repertoire des Gesellschaftstanzes eingliederten. Die Tanzschule galt als integraler Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft, professionelle Aufgabe der Tanzlehrer war die Vermittlung bürgerlicher Werte und gesellschaftlicher Kommunikation. In den Kreisen der Tanzlehrer, die das Wissen über Tänze standardisierten und über nationale Grenzen hinaus verbreiteten, herrschte mit der Ankunft der transatlantischen Tänze eine gewisse Verunsicherung. Die Bühnen der Music Halls waren zu einem Einfallstor für neue Tänze geworden, die sich der Kontrolle der Tanzlehrer entzogen. Die Rezeption der neuen Tänze blieb nicht auf eine visuelle Erfahrung auf der Bühne beschränkt, sondern neue Körperpraktiken setzten sich ohne die professionelle Vermittlung von Tanzlehrern auch in den Tanzsälen zunehmend durch. Als traditionelle Mittler befürchteten die Tanzlehrer deshalb den Verlust ihres Deutungsmonopols und ihrer beruflichen Stellung. Um innerhalb einer veränderten Erfahrungswelt der Stadt ihre Ansprüche auf professionelle Autorität und die Kontrolle ihrer Tätigkeiten und Erwerbsfelder zu sichern, mussten sie sich nun auch mit dem Tango und den US-amerikanischen Ragtime-Tänzen auseinandersetzen, deren Ausdrucksformen sich grundsätzlich von den anerkannten moralischen und ästhetischen Normen unterschieden. Eine solche Umstrukturierung ihres Tätigkeitsfeldes führte unter Tanzlehrern und Tanzexperten zu Spannungen. Während die einen meinten, das tradierte europäische Repertoire gegen die „Invasion des Tangos“ verteidigen zu müssen, versuchten die anderen ihre Stellung durch die Erweiterung ihres Angebotes zu stärken und die neuen kommerziellen Möglichkeiten zu nutzen. Die Auseinandersetzungen kreisten dabei nicht nur um Ausdrucks- und Umgangsformen, sondern auch um die Rolle des Tanzlehrers bei der nationalen Erziehung des Körpers. Die Tanzlehrer mussten sich aufgrund der weltweiten Zirkulation von Tänzen neu positionieren und das Verhältnis zwischen nationalen und internationalen Standards neu verhandeln.

Am Beispiel des Tangos lassen sich die Aneignungsprozesse populärer Kultur in europäischen Großstädten veranschaulichen. Die Herausbildung und Verbreitung der modernen Massenkultur des 20. Jahrhunderts war nicht allein durch Entwicklungen innerhalb einzelner Nationalstaaten bestimmt, sondern erfolgte ganz wesentlich in den europäischen Metropolen, in denen sich der Kulturkontakt verdichtete und der Prozess der kulturellen Ausdifferenzierung sich beschleunigte. Hier versuchten professionelle Kulturvermittler wie die Tanzlehrer die Richtung des kulturellen Wandels mitzubestimmen und mussten dabei ihre berufliche Rolle neu bestimmen. In der Großstadt wurde somit die Fähigkeit im Umgang mit kultureller Diversität erprobt und ausgehandelt.



[1] Essay zur Quelle: Weshalb sich der Tango die Welt erobert (16. November 1913). Die Druckversion des Essays findet sich in: Isabella Löhr, Matthias Middell, Hannes Siegrist (Hgg.): Kultur und Beruf in Europa, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012, S. 109—114, Band 2 der Schriftreihe Europäische Geschichte in Quellen und Essays.

[2] Gaby Deslys (1881—1920), französische Tänzerin, Sängerin und Filmschauspielerin, spielte mit ihrem Partner Henry Pilcer eine wichtige Rolle bei der Einführung der neuen Modetänze. George Grossmith Jr. (1874—1935), englischer Schauspieler und Produzent, war einer der erfolgreichsten Künstler in den Revuen des Londoner Gaiety Theater.

[3] Das Bandoneon (ursprünglich Bandonion) gehört zur Gruppe der Handzuginstrumente und entstand Mitte des 19. Jahrhunderts aus einer spezifischen Weiterentwicklung der Concertina durch den Krefelder Heinrich Band. Vor allem der Betrieb des Instrumentenbauers Alfred Arnold im Erzgebirge produzierte bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges Instrumente für den Export nach Argentinien und Uruguay. In Deutschland selbst wurde das Bandoneon bis in die 1950er-Jahre vor allem in Musikvereinen der Arbeiterbewegung eingesetzt.

[4] Weshalb sich der Tango die Welt erobert, o. V., in: Berliner Tageblatt, 16.11.1913.



Literaturhinweise

  • Becker, Tobias; Littmann, Anna; Niedbalski, Johanna (Hgg.), Die tausend Freuden der Metropole: Vergnügungskultur um 1900, Bielefeld 2011.
  • Maase, Kaspar, Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850—1970, Frankfurt am Main 1997.
  • Pelinski, Ramón Adolfo (Hg.), El tango nómade: Ensayos sobre la diáspora del tango, Buenos Aires 2000.
  • Salas, Horacio, El Tango, Buenos Aires 1986. (Deutsche Ausgabe: Horacio Salas: Der Tango, Stuttgart 2001).
  • Scott, Derek B., Sounds of the Metropolis. The Nineteenth-Century Popular Music Revolution in London, New York, Paris and Vienna, Oxford 2008.

Weshalb sich der Tango die Welt erobert[1]

Wenn die Begeisterung für den Tango nachgerade auch zu einem wahren Rummel ausgeartet ist, so kann man sich gleichwohl nicht der Erkenntnis verschließen, daß sein Erscheinen eine Umwälzung in der Tanzwelt bedeutet, wie sie seinerzeit die Einführung der Polka und des Walzers hervorgebracht hat. Der französische Schriftsteller Richepin hat jüngst erst in seinem vielbesprochenem Vortrag in der Pariser Akademie davor gewarnt, den Tango wegen seiner niederen Herkunft gering einzuschätzen, und dabei darauf verwiesen, daß die meisten unserer Tänze aus den Kreisen des Volkes den Weg in die Ballsäle gefunden haben. Man darf weiterhin auch nicht außer acht lassen, daß es sich die Tanzlehrer mit Fleiß haben angelegen sein lassen, die Auswüchse, die der Tango einmal besaß, soweit abzuschleifen, um ihn salonfähig zu machen. Die jungen Leute wissen ihm ferner besonderen Dank dafür, daß er ihnen gestattet, sich für den ganzen Abend einen Tanzpartner zu wählen. Das alles kann indessen als ausreichende Erklärung der Beliebtheit des Tangos nicht gelten, diese wahren Gründe für die Weltmachtstellung des Tangos wird man vielmehr in der Geschichte des Tanzes zu suchen haben.

Über den Ursprung des Tangos sind sich die Gelehrten zwar noch nicht völlig einig, indessen hat doch die Hypothese, die Charles d’Albert, der fachkundige Verfasser der neusten Enzyklopädie der Tanzkunst, aufstellte, berechtigten Anspruch auf Glaubwürdigkeit. Danach stellt der argentinische Tango eine Abart des altspanischen Tango dar. Diese Variante wurde, und zwar in recht derber Form von den Cowboys auf Kuba und in den anderen Ländern des lateinischen Amerika getanzt. Von hier gelangte er nach Paris, und zwar zunächst in die Kreise der Halbwelt, die an seiner heimatlichen Urwüchsigkeit weiter keinen Anstoß nahm. Allmählich verfeinerte er sich hier auf seinem Wege nach oben und wurde schließlich der Balltango, der, wenn er auch seinen amerikanischen Ursprung nicht verleugnen kann, doch für den Gebrauch der zivilisierten Gesellschaft zurechtgestutzt und stilisiert wurde. Soviel über die geschichtlichen Anfänge des Tangos, dessen Weiterentwicklung der Zukunft vorbehalten bleibt.

Die herrschende Tanzmode hat noch stets und immer ein treues Spiegelbild des jeweiligen Geistes der Zeit reflektiert. Vom Walzer erzählen uns die Historiker des Tanzes, daß die Begeisterung für ihn um 1830 in Paris ihren Höhepunkt erreichte. Es war das die Blüteperiode der Romantik, und nichts vermöchte in der Tat das Gefühlsleben jener Periode besser auszudrücken, als der schleifende, traumverlorene Walzerschritt, dessen Heimat das Vaterland Werthers war. Die Polka konnte sich ganz im Gegenteil erst in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts durchsetzten, und das auch nur nach erbittertem Kampf gegen die vornehme Pariser Gesellschaft, die an der Herkunft der Polka aus den Mittelklassen des Bürgertums Anstoß nahm. Aber gerade diese Bürgerkreise waren es auch, die unter der Herrschaft des Bürgerkönigs ihren Platz an der Sonne fanden, und die Polka damit zu Ehren brachten. War der Walzer so der Ausdruck der Machtstellung der Romantik, so bedeutet die Polka ihrerseits den Triumph des Bürgertums. Angesichts dieser sozialen Bedeutung der Modetänze drängt sich schon von selbst die Frage nach dem Zusammenhang des Tangos mit dem Empfindungsleben der Jetztzeit auf. Es kann aber keinem Zweifel unterliegen, daß die Popularität, die der Tanz überhaupt erlangte, auch in Sachen der Beliebtheit des Tangos eine Rolle spielt. Zu dieser Wiedergeburt der Tanzfreude hat gewiß auch die Anregung, die das Erscheinen des russischen Balletts gegeben, ihr wichtiges Teil beigetragen, und in England zumal hat, wie die „Times“ in einem der Tangofrage gewidmeten Artikel mit Recht hervorheben, die Pawlowa im Sinne der Anerkennung des Tanzes als eines Mittels seelische Vorgänge, durch Bewegung zum Ausdruck zu bringen, bahnbrechend gewirkt. Das auf der Bühne gegebene Beispiel hat entschieden durch die Rückwirkung auf das Gesellschaftsleben viel dazu beigetragen, dem Tango die Wege zu ebnen. Dazu kommt noch ein anderes Moment, das den Siegeszug dieses ausgesprochenen Figurentanzes begreiflich macht. Die alten Tänze waren, wenn man die Dinge bei rechtem Licht betrachtet, kurzweiliger für die Ausführenden als für die Zuschauer. Bei den neumodischen Tänzen, und ganz besonders beim Tango, kommt dagegen auch der Zuschauer reichlich auf seine Unterhaltungskosten, und diese Befriedigung des Schaubedürfnisses entspricht so ganz und gar dem Charakter der modernen Prunkbälle mit ihrer blendenden Prachtentfaltung und ihrer Neigung für exotische Raffinements, der gerade der Tango so sinngefällig entgegenkommt.


[1] Weshalb sich der Tango die Welt erobert, in: Berliner Tageblatt, 16. 11. 1913. Eine Druckversion der Quelle findet sich in: Isabella Löhr, Matthias Middell, Hannes Siegrist (Hgg.): Kultur und Beruf in Europa, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012, S. 114—116, Band 2 der Schriftreihe Europäische Geschichte in Quellen und Essays.


Für das Themenportal verfasst von

Kerstin Lange

( 2012 )
Zitation
Kerstin Lange, Der Transfer des argentinischen Tangos in die populäre Kultur der europäischen Großstadt um 1900, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2012, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1565>.
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