(Über-)Leben in einer „nicht privilegierten Mischehe“: Das Tagebuch der Therese Lindenberg (1938–1946)[1]
Von Christa Hämmerle
Für die Zeit zwischen 1933 und 1945 sind Terror, Krieg und Genozid europaweit in verschiedensten autobiografischen Aufzeichnungen bezeugt, die einen ganz spezifischen Blick auf diese Jahre eröffnen können. Dies gilt, obschon unter sehr unterschiedlichen Vorzeichen, für beide Seiten der damals zutiefst gespaltenen Gesellschaft: einmal für jene, die „dazu gehörten“ und das NS-Regime sowie seine Kriegsführung in Europa oft bis zuletzt stützten, obwohl der totale Krieg sie selbst einholte; sowie vor allem für jene, die ausgegrenzt, verfolgt, auf die Flucht und ins Exil getrieben oder ermordet wurden. Gerade unter diesen Menschen evozierte die anhaltende, zerstörerische Krisenerfahrung, die sich immer seltener in direkter Gesprächs- oder Briefform kommunizieren ließ, auch ein intensiviertes Tagebuchschreiben, das zwar an kulturelle Traditionen schriftlicher Selbstthematisierung anknüpfte, sich aber unter den dramatischen Bedingungen zugleich neu ausrichtete. Erst in den letzten Jahren wurde die große Fülle an Tagebüchern oder tagebuchähnlichen Aufzeichnungen dieser Zeit von der Forschung (wieder)entdeckt. Sie zeugen von Entrechtung und Entwürdigung, dem Leben im Exil, den Ghettos, den Konzentrationslagern; selbst hier, in diesem häufig als Hölle apostrophierten Extremzustand, wurde damals – verbotenerweise – geschrieben, auch von vielen Frauen und jungen Mädchen.[2]
Nur ein sehr geringer Teil dieser oft nur bruchstückhaft überlieferten Aufzeichnungen konnte bislang ediert werden. Dabei ist jedoch gerade in den letzten Jahren ein Anstieg und wachsendes öffentliches Interesse an solchen Texten zu verzeichnen, die nun verstärkt Eingang in das kollektive Gedächtnis an den Holocaust finden. So stehen heute, auch am deutschsprachigen Buchmarkt, den schon früher erschienenen und übersetzten Tagebüchern einer Anne Frank, Renata Laqueur, Hanna Lévy-Hass und Etty Hillesum mittlerweile etwa jene von Hélène Berr, Ruth Maier und Rutka Laskier gegenüber[3] – jedes für sich ein eindringliches und einzigartiges Dokument, dessen Lektüre aufwühlt und erschüttert. Die Bearbeitung und Deutung des Holocaust erfolgte dabei teilweise durchaus ähnlich wie in den überlieferten Tagebüchern männlicher Zeitgenossen, teilweise aber auch sehr divergent. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden das Tagebuch einer Frau aus Wien namens Therese Lindenberg (geb. Trestl, 1892–1980) aus den Jahren 1938 bis 1946 vorgestellt werden. [4]
Das Tagebuch der Therese Lindenberg dokumentiert auf komplexe Art und Weise das (Über-)Leben in einer spezifischen NS-Opfergruppe, die bislang selten in den Fokus der Forschung gerückt ist. Denn zum einen war diese Frau, nachdem sie sich schon in den frühen 1930er-Jahren erneut der Religion ihrer Kindheit zugewandt hatte, gläubige Katholikin, zum anderen lebte sie in einer sogenannten „Mischehe“ mit ihrem dem assimilierten jüdischen Bürgertum zugehörigen Mann. Um im Januar 1915 vor dem Wiener Magistrat eine interkonfessionelle „Notzivilehe“[5] mit Ignaz Lindenberg eingehen zu können war Therese Lindenberg zunächst aus der katholischen Kirche ausgetreten. Später unterstützte sie, dass ihre Tochter in die jüdische Kultusgemeinde eingetragen wurde – was im Zuge des „Anschlusses“ Österreichs an das „Dritte Reich“ vom 12. März 1938 fatale Folgen haben sollte: Gemäß den auch hier erlassenen „Nürnberger Rassegesetzen“ führte Therese Lindenberg von nun an eine entsprechend definierte und stigmatisierte „Mischehe“ mit einem „Volljuden“.[6] Dies bedeutete für sie persönlich ein Leben auf beiden Seiten: auf der Seite der ausgegrenzten und entrechteten, von Deportation und Ermordung bedrohten „Juden“ und „Jüdinnen“, zu denen fürderhin nicht nur ihr Ehemann, sondern auch die einzige Tochter der beiden gehörte,[7] und eines auf der Seite derjenigen, die aufgrund eines Ahnenpasses zur „arischen“ Mehrheitsgesellschaft zählten.
Das schwierige Leben zwischen diesen zwei „Welten“ gestaltete sich im Falle von Therese Lindenberg zusätzlich spannungsreich, da sie selbst – was kaum jemand wusste – das ledig geborene Kind eines jüdischen Vaters war, den ihre Mutter jedoch nie hatte amtlich eingetragen lassen. Ihr katholischer Stiefvater konnte sie daher, als eine der ersten Schutzmaßnahmen, die das Ehepaar Lindenberg vornahm, um der rassistischen Diskriminierung und Verfolgung zu entgehen, einige Wochen nach dem „Anschluss“ ohne Verdacht auf sich zu ziehen nachträglich legitimieren, wodurch sie den neuen Machthabern als „arisch“ galt. Sie trat damals außerdem wieder in die katholische Kirche ein und schloss ihre Ehe nun auch nach kanonischem Recht, was ihrer neuen tiefen Religiosität entsprach.[8]
Doch sollten alle diese Maßnahmen ihr und ihrer Familie kaum helfen – umso weniger, als die Ehe der Lindenbergs als „nicht privilegierte Mischehe“[9] galt. In der Folge wurden sie gesellschaftlich stigmatisiert und zur Scheidung gedrängt, in elendste Lebensverhältnisse gezwungen und in vielerlei Art und Weise in Angst und Schrecken versetzt. Therese Lindenberg musste Schritt für Schritt, Tag für Tag und über Jahre hindurch den auch mit Gewaltexzessen, Terror und Schikane durchgesetzten sozialen Tod ihres Ehemannes im Besonderen, und der jüdischen Bevölkerung Wiens im Allgemeinen, unter der das Paar viele Freunde hatte, miterleben – mit aller damit verbundenen Ungewissheit. Zur wiederholt erfahrenen Einschüchterung durch lokale NS-Schergen kam die ständige Sorge um die im Herbst 1938 nach Manila auf den Philippinen emigrierte Tochter, zu der die Postverbindung über Jahre unterbrochen war.
In dieser äußerst prekären Situation wurde Therese Lindenberg dennoch gleichzeitig zur Beschützerin ihres immer wieder auch akut von der Deportation bedrohten Mannes.[10] Nur weil sie sich nicht von ihm trennte wie manche andere Frauen in ihrer Situation, die sie kannte und deshalb scharf kritisierte, und nur weil sie mit ihm in verschiedenen „Judenhäusern“ beziehungsweise ab November 1941 im Wiener „Mischehenghetto“ des zweiten Gemeindebezirkes ausharrte und durch verschiedenste Arbeiten und Netzwerke in die „arische“ Mehrheitsgesellschaft hinein eine karge Existenz für beide sicherte, konnte auch Ignaz Lindenberg im Frühjahr 1945 endlich die Befreiung Wiens erfahren. Er war damit, von geschätzten 220.000 jüdischen Menschen, die vorher in dieser Stadt gewohnt hatten, einer der weniger als 5.700 Wiener Juden und Jüdinnen, die das „Dritte Reich“ überlebt hatten. Dass von diesen gut vier Fünftel in einer „Mischehe“ gelebt hatten, zeigt deutlich die relative Schutzfunktion dieser ehelichen Verbindung: Sie bot den Betroffenen in vielen Fällen zwar „nicht Schutz vor Verfolgung, wohl aber vor Vernichtung“, wie Edith Saurer resümiert hat.[11]
Was aber bedeutete es für eine Frau, in solch einer ehelichen Partnerschaft zu leben? Wie hat Therese Lindenberg, als eine der davon Betroffenen, die Beziehung zu ihrem Mann unter den katastrophalen Bedingungen des NS-Regimes beschrieben und gedeutet, wie ihren Alltag im damaligen Wien? Mit welchen Überlebensstrategien suchte sie diesen zu bewältigen oder innerlich zu bearbeiten, welche Funktionen erfüllte dabei ihr Schreiben, das sie damals mehr oder weniger kontinuierlich praktizierte? Ihre Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 1938 bis 1946 geben dazu viele Einblicke, sind aber vor allem aufgrund des stark elliptischen und codierenden Stils gleichzeitig nicht leicht zu verstehen, nicht einfach zu deuten – gerade was solche Fragen anbelangt. Die Edition, aus der die hier präsentierten Quellenausschnitte stammen, wurde daher umfassend historisch kommentiert und durch detaillierte Register sowie eine spätere, stärker erläuternde Fassung des Tagebuchs ergänzt, was im Folgenden kurz vorgestellt werden soll.[12]
Im Original befinden sich die Lindenberg-Tagebücher in einem sehr umfangreichen schriftlichen Nachlass von Therese Lindenberg, der heute größtenteils in der Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Universität Wien archiviert ist.[13] Dort existieren weitere Bestände, die ebenfalls belegen, dass Frauen und Mädchen schon seit dem 19. Jahrhundert häufig Tagebuch schrieben und dieses hybride Genre im europäischen „Katastrophenzeitalter“ (Eric Hobsbawm) intensiv nutzten, um sich in einer Welt, in der alles aus den Fugen geraten war, ihrer selbst zu vergewissern, nicht aufzugeben und weiterzumachen – auf sehr verschiedene Art und Weise.[14]
Therese Lindenberg, eine ausgebildete Sängerin, betätigte sich schon als Jugendliche auch schriftstellerisch und begann bereits als knapp 18-Jährige mehr oder weniger regelmäßig Tagebuch zu führen. In der Zeit zwischen 1938 und 1945/46 beschrieb sie insgesamt fünf kartonierte Hefte, in die sie teilweise auch parallel eintrug. Das jeweilige Tagebuch nahm sie meist mit sich, wenn sie, oft Tag für Tag, durch die Stadt zog, um verschiedenen Arbeiten nachzugehen und Besuche abzustatten, in Kirchen und an Wallfahrtsorten zu beten oder Freunde und Freundinnen sowie Verwandte auf dem Land aufzusuchen. Nur äußerst selten begleitete sie dabei ihr Ehemann Ignaz Lindenberg, der ansonsten von diesem Alltag der Schreiberin ausgeschlossen, das heißt im elenden Quartier des „Mischehenghettos“ eingeschlossen blieb. Eine öffentliche Präsenz von als „Juden“ und „Jüdinnen“ klassifizierten Menschen konnte insbesondere nach der Einführung des obligatorischen Tragens eines „Judensterns“ auf der linken Brustseite der Kleidung im September 1941 umso gefährlicher werden.
Der Stil der zwar meist in großer Schrift, insgesamt aber sehr wechselnd gestalteten Tagebucheintragungen Therese Lindenbergs aus dieser Zeit ist, wie bereits erwähnt, oft elliptisch und stark verschlüsselt, auch literarisierend, und von Briefentwürfen, Gedichten, Gebeten oder als Dialog formulierten Hinwendungen zu Gott durchzogen. Sie schrieb meist in Tinte, das Aussehen der Hefte beziehungsweise das Schriftbild verrät, dass sie an verschiedenen Orten schrieb – sei es auf einer Wiese, auf einer Kirch- oder Parkbank nahe der früheren Wohnung oder am Fensterbrett des desolaten Durchgangszimmers im „Mischehenghetto“. Nicht selten finden sich darin zudem Spuren ehemaliger Tränen. Manchmal machte sie mehrere Einträge am Tag, dann wieder über längere Zeit keine.
Im hohen Alter, als über 80-jährige Frau, hat Therese Lindenberg diese ihre früheren Aufzeichnungen wieder gelesen und neu bearbeitet. Sie folgte damit, nachdem sie zuvor schon einen anderen autobiografischen Text zum vergessenen Schicksal der in einer „Mischehe“ lebenden Frauen und ihrer jüdischen Ehemänner im nationalsozialistischen Wien verfasst hatte,[15] einer Anregung des Schwiegersohns, der sie bat, mehr aus der Zeit des Holocaust zu berichten. Daher kürzte sie nun einerseits das ehemalige Tagebuch, auch indem sie ganze Einträge kompilierte, und ergänzte es andererseits an manchen Stellen, um so schließlich einen neuen Text, eine neue Fassung auszuarbeiten. Diesem Typoskript mit 39 eng beschriebenen Seiten gab Therese Lindenberg in Anlehnung an eine Formulierung im Originaltext den Titel Die apokalyptischen Jahre. 1938–1946.
Der Forschung stehen demnach zwei Fassungen des Tagebuchs der Therese Lindenberg über die Zeit des Nationalsozialismus und die unmittelbaren Nachkriegszeit zur Verfügung. Dessen Edition beginnt, von der Verfasserin im späteren Typoskript Die apokalyptischen Jahre selbst so vorgenommen, mit den Einträgen rund um den „Anschluss“ Österreichs an das „Dritte Reich“ im März 1938 und endet mit dem 25. August 1946, der Zeit kurz nachdem das Ehepaar Lindenberg endlich Nachricht vom Überleben der Tochter und deren Familie in Manila erhalten hatte. An diese Zeitspanne angelehnt, spannt sich auch der Bogen der im Quellenausschnitt zitierten Einträge vom 18. März 1938 bis zum 8. Mai 1945, die aus beiden Tagebuchfassungen stammen, um so deren Verschiedenheit anschaulich zu machen. In ihrem Vergleich werden die sehr verschiedenen Funktionen, die diesen Texten jeweils zugrunde liegen, umso deutlicher: Sie können als jeweils kontextgebundene Praxen der Bearbeitung und Deutung des Geschehens und erlittenen Unrechts gelesen werden und verweisen gleichzeitig ständig aufeinander. Erst in ihrer Zusammenschau entschlüsseln sich umfassend jene Bewältigungsstrategien, die diese Frau im selbstvergewissernden Prozess des Schreibens einst suchte und anwendete, um den nationalsozialistischen Terror gegen sie und ihren Mann überstehen zu können.
Besonders augenscheinlich wird im Vergleich der beiden Fassungen, dass Therese Lindenberg all die Etappen der Entrechtung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung, angefangen von den Pogromen, die schon den „Anschluss“ Österreichs an das „Dritte Reich“ begleiteten, über die Enteignungen, Ausschlüsse von Arbeit und Bildung, die Wohnungskündigungen, freiwilligen oder erzwungenen Auswanderungen etc., bis hin zu den vom „Mischehenghetto“ aus hautnah miterlebten Deportationen auch von Bekannten und Freunden in die Vernichtungslager, in den Originaltagebüchern fast nur in verschlüsselter Form thematisiert hat. Die kargen Hinweise darauf zirkulieren in diesen Einträgen als knappe, jedoch immer wiederkehrende Formeln – etwa wenn am Tag nach der „Reichskristallnacht“ vom 9. November 1938 von der „Suchung“ und „Suchmännern“ (für Hausdurchsuchung) die Rede ist, und später von „Transporten“ oder „Polentransporten“ (für die Deportationen) oder dem „Parteimann“ (der kam, um sie zur Scheidung zu überreden), beziehungsweise davon, dass „alle wegmüssen“ (gemeint sind alle „Juden“ und „Jüdinnen“ Wiens). Nur ein einziges Mal, im Eintrag vom 10. März 1944, der die dramatische Episode von der Abholung des Ehemannes widergibt, wird dieses Prinzip aufgegeben. Gleiches gilt für die konkrete Situation in einer „Mischehe“ und jene ihres jüdischen Ehemannes, den sie – alles in allem selten – unter dem alleinigen Label „Mann“ in ihr Tagebuch einführt sowie für die im Gegensatz dazu in fast jedem Eintrag angesprochene und erinnerte Tochter, die sie durchgehend als „Kind“, im besten Fall als „Lisl“ adressiert. Auch in Bezug auf sie benennt Therese Lindenberg in ihrem Tagebuch vor allem Gefühle – das stete Sehnen, Trauer und Angst, Reue und Schuldgefühle ob einstiger Konflikte etc. –, nicht aber konkrete Hintergründe oder Kontexte dafür.
Das alles hatte, wie sie selbst später angemerkt hat, insbesondere eine Schutzfunktion und wurde daher erst in der Jahrzehnte später erstellten Neufassung des Tagebuches entschlüsselt. Hier, im bereits erwähnten, viel kürzeren Typoskript von 1975, fügte Therese Lindenberg an den entsprechenden Stellen konkretere Details zu ihren Erlebnissen und Erfahrungen in jenen Jahren der Diskriminierung und Verfolgung bis hin zum Holocaust ein, oder schrieb überhaupt manche Einträge dazu neu. Auf diese Weise entschlüsselte sie, was sie im Original des Tagebuchs, vielfach aus Angst und Sorge, kodiert oder sogar teilweise ganz weggelassen hatte. Das Schreiben hatte für sie zu der Zeit demnach primär andere Funktionen.
Die Originaltagebücher aus den 1930er- und 1940er-Jahren bestehen zudem über weite Strecken aus stark emotional getönten Evokationen, sind stets aufs Neue versuchte – und mitunter auch geglückte – Arbeit am Gefühl; das Schreiben hatte hier ganz offensichtlich auch einen therapeutischen Zweck.[16] Das zeigt sich zum einen entlang der Funktion des Tagebuchs als komplexem Erinnerungsspeicher, indem Therese Lindenberg schreibend oft schöne und tröstende Erlebnisse früher Zeiten wachrief, und andererseits anhand der von ihr sehr häufig angesprochenen Themen Natur und Religion. Gerade im Zusammenhang damit wird die starke Trostfunktion des Tagebuchschreibens für Therese Lindenberg augenscheinlich. Es enthält, so gesehen, eben nicht nur die Hinweise auf Kälte und Hunger, die schlechten Wohnverhältnisse etc., sondern ebenso viele geradezu romantisch anmutende Natur- und Wetterschilderungen sowie Berichte über die oft täglichen Ausflüge der Verfasserin in die weitere und nähere Umgebung Wiens (wobei kaum gesagt wird, dass diese nicht zuletzt dem Unterhalt des Ehepaars dienten, was sogar für ihr oftmaliges Orgelspiel und Singen in Kirchen galt, wofür sie auch Opfergeld der jeweiligen Pfarre erhielt).
Außerdem enthält ihr damaliges Tagebuchschreiben, wie der Quellenauszug ebenfalls exemplarisch zeigt, zahlreiche direkte Anrufungen Gottes, ist kontinuierliches Beten, Gewissenserforschung und Suchen nach Sinn und Führung durch den Glauben – bis hin zum Spiritismus, der diesen nicht ersetzte, sondern zu ihrer starken Verortung in der katholischen Kirche hinzutrat, als Therese Lindenberg immer verzagter und hoffnungsloser wurde. Das Auftauchen tröstender „Stimmen aus dem Jenseits“ ab Ende 1944 stellt ein weiteres Grundthema dar, das auf mögliche Bewältigungsstrategien hinweist. Die „Stimmen“ begleiteten diese Frau in ihrem Tagebuch über das voller Emphase begrüßte Kriegsende hinweg – etwas länger als sie im Februar 1946 die erlösende Nachricht vom Überleben der Tochter und deren Familie auf den Philippinen erhielt. Erst danach sollte sich das Schreiben ihres Tagebuchs als stete religiöse Praxis wieder verändern und neue Funktionen gewinnen.
Mit den Tagebüchern der Therese Lindenberg von 1938 bis 1946 wird, so ist zu hoffen, die Basis bisheriger Studien, die bislang zu während des nationalsozialistischen Regimes in „Mischehen“ lebenden Frauen, etwa in Hamburg oder Berlin[17] vorgelegt worden sind, maßgeblich erweitert. Sie vermitteln erstmals in umfassender Art und Weise die Perspektive, Erfahrungen und Sinnstiftungen einer Frau, die damals Orientierung und Stütze in ihrem katholischen Glauben und der örtlichen Kirche fand, deren (teilweise geheim organisierten) Netzwerke sie ebenso zu nutzen vermochte wie verwandtschaftliche Hilfestellungen – mit allen damit verbundenen Ambivalenzen, die in ihrem Fall unter anderem eine ab Ende 1944 deutlich zu Tage tretende Gemengelage aus Katholizismus und Spiritismus hervorbrachten. Mitunter dürfte sie außerdem mit ihrem Mann in einen jüdischen Betraum gegangen sein, was für sie, die auf beiden Seiten der von den Nationalsozialisten auf das Brutalste geteilten Gesellschaft lebte, kein Widerspruch war. Konfessionelle Zugehörigkeit mengte sich hier also weiterhin mit interkonfessioneller, religiöser Praxis.
Außerdem stellen diese Tagebücher, gerade aufgrund ihrer anderen Ausrichtung, für die künftige Forschung ein Pendant zu den viel rezipierten Tagebüchern des Dresdener Romanisten und Schriftstellers Victor Klemperer dar, der damals – als „Jude“ – ebenfalls in einer „nicht privilegierten Mischehe“ lebte.[18] Sein Anliegen war es vor allem, ungeachtet der Gefahr, die das für ihn bedeutete, durch fast tägliches Schreiben minutiös „Zeugnis abzulegen“ von der sich sukzessive steigernden Ausgrenzung, Entrechtung und Terrorisierung jener Jahre, und damit sein und seiner Frau Leben in der „Vorhölle“ des Holocaust möglichst genau und umfassend, bis in die dadurch evozierten psychischen Verwerfungen hinein, zu dokumentieren.[19] Wie wir gesehen haben, gilt dies für Therese Lindenberg nicht oder nur vermittelt. Ihr Tagebuchschreiben jener Zeit hatte primär andere Funktionen, war – auch im Sinne einer Gegenstrategie – vor allem Arbeit am Gefühl und blieb in der Bezugnahme zur umgebenden Realität stark verschlüsselt. Erst Jahrzehnte später, im Zuge der Neubearbeitung dieser Aufzeichnungen, näherte es sich dem Anliegen an, das einst erlittene Unrecht als „Mischehen-Frau“ bezeugen zu wollen, was die Forschung umso mehr auf die auch temporale Vielschichtigkeit der Holocaust-Erinnerung verweist.[20] Die vielen Erinnerungsanker dafür hatte Therese Lindenberg, wie gezeigt wurde, schon in der Originalfassung gelegt.
[1] Essay zur Quelle: „Apokalyptische Jahre“ – Ausschnitte aus den Tagebüchern der Therese Lindenberg (1938–1946).
[2] Vgl. etwa die vielen Beispiele dafür in: Friedländer, Saul, Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden. Zweiter Band 1939–1945. Aus dem Englischen übersetzt von Martin Pfeiffer, München 2006; Garbarini, Alexandra, Numbered Days. Diaries and the Holocaust, Ann Arbor 2006. Zur Seite der deutschen „Volksgemeinschaft“ vgl. z. B. zur Nieden, Susanne, Alltag im Ausnahmezustand. Frauentagebücher im zerstörten Deutschland 1943 bis 1945, Berlin 1992.
[3] Das Tagebuch der Anne Frank wurde ab 1947 in mehreren Fassungen veröffentlicht und in viele Sprachen übersetzt; vgl. etwa Frank, Anne, Tagebuch. Fassung von Otto H. Frank und Mirjam Pressler. Aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler, Frankfurt am Main 2001 (erste niederländische Ausgabe 1947); Laqueur, Renata, Bergen-Belsen Tagebuch 1944/45. Aus dem Niederländischen übersetzt von Peter Wiebke, Hannover 1983; dies., Schreiben im KZ. Die Tagebücher 1940 bis 1945, Bremen 1992; Das denkende Herz. Die Tagebücher von Etty Hillesum 1941–1943, Reinbek 1990; Lévy-Hass, Hanna, Vielleicht war das alles erst der Anfang. Tagebuch aus dem KZ Bergen-Belsen, hg. von Eike Geisel, Berlin 1979; Berr, Hélène, 1942–1944. Mit einem Vorwort von Patrick Modiano und einem Nachwort von Mariette Job. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl, München 2009; Maier, Ruth, „Das Leben könnte gut sein.“ Tagebücher 1933 bis 1942, hg. von Jan Erik Vold. Aus dem Norwegischen von Sabine Richter, München 2008; Das Tagebuch der Hertha Nathorff, Berlin – New York. Aufzeichnungen 1933 bis 1945, hg. und eingeleitet von Wolfgang Benz, Frankfurt am Main 32010; Laskier, Rutka, Rutkas Tagebuch. Aufzeichnungen eines polnischen Mädchens aus dem Ghetto. Aus dem Polnischen von Friedrich Griese. Mit einer Einleitung von Zahava (Laskier) Scherz und einem Nachwort von Mirjam Pressler, Berlin 2011 (polnische Originalausgabe 2006).
[4] Hämmerle, Christa; Gerhalter, Li (Hgg.) (unter Mitarbeit von Ingrid Brommer und Christine Karner), Apokalyptische Jahre. Die Tagebücher der Therese Lindenberg 1938 bis 1946, Wien u.a. 2010. Im Folgenden stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders vermerkt, aus den hier mit veröffentlichten Quellenausschnitten.
[5] Eine sog. „Notzivilehe“ war damals in Österreich die einzige Möglichkeit zur Eheschließung zwischen einem christlichen und nichtchristlichen Partner; die Regelung ging auf die „Maigesetze“ vom 25. Mai 1868 zurück; vgl. Harmat, Ulrike, Ehe auf Widerruf? Der Konflikt um das Eherecht in Österreich 1918–1938, Frankfurt am Main 1999, S. 12.
[6] Der Begriff „Mischehe“ wurde zunächst seit dem 19. Jahrhundert zur Beschreibung von Ehen zwischen Angehörigen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit verwendet. Die Nationalsozialisten eliminierten in der Definition das frühere Kriterium der Religionsverschiedenheit gänzlich, stattdessen wurde „der Unterschied des Blutes und damit der Rasse eingeführt“ und das künftige Eingehen solcher „Mischehen“ mit dem „Blutschutzgesetz“ vom September 1935 als „Rassenschande“ verboten; das trat, wie die „Nürnberger Rassegesetz“ insgesamt, in der nunmehrigen „Ostmark“ am 20. Mai 1938 in Kraft. Vgl. u. a. Saurer, Edith, Verbotene Vermischungen. „Rassenschande“, Liebe und Wiedergutmachung, in: Bauer, Ingrid et al. (Hgg.), Liebe und Widerstand. Ambivalenzen historischer Geschlechterbeziehungen, Wien u.a. 2005, S. 341–361.
[7] Vgl. für Wien, wo die Unrechtsgesetzgebung gegen die jüdische Bevölkerung beginnend mit dem „Anschluss“ sehr rasch und unbarmherzig exekutiert wurde, insbes. Botz, Gerhard, Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/39, Wien 2008.
[8] Das Eingehen einer Ehe nach kanonischem Recht zwischen religionsverschiedenen Partnern war im aufgrund eines am 1. Mai 1934 geschlossenen Konkordats möglich geworden, wurde jedoch nach dem „Anschluss“ nur sehr kurz anerkannt.
[9] Vgl. zu den Unterscheidungskriterien zwischen beiden Formen einer „Mischehe“ im nationalsozialistischen Sinne, die jedoch nie rechtlich fixiert wurden und regional verschieden ausgelegt und gehandhabt wurden, bes.: Meyer, Beate, „Jüdische Mischlinge“. Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933–1945, München u.a. 1999, S. 30f. In Wien wurden auch Ehepaare in „privilegierter Mischehe“ aus ihren Wohnungen vertrieben, und der jüdische Partner in diesen Ehen war hier nicht von der Regelung ausgenommen, den „Judenstern“ tragen zu müssen.
[10] In Wien kam es bereits am 20. und 30. Oktober 1939 zu ersten Zwangstransporten jüdischer Männer nach dem Generalgouvernement. Die späteren Deportationen kulminierten im Februar und März 1941 und vom Frühjahr bis Oktober 1942. Vgl. auch: Botz, Gerhard, Ausgrenzung, Beraubung und Vernichtung. Das Ende des Wiener Judentums unter der nationalsozialistischen Herrschaft, in: ders. et al. (Hgg.), Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert. 2., neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Wien 2002, S. 315–339; Leiter, Philomena, Assimilation, Antisemitismus und NS-Verfolgung. Austritte aus der jüdischen Gemeinde in Wien 1900 bis 1944, 2 Bde., Wien (Univ. Diss.) 2003, S. 472–494.
[11] Saurer, Verbotene Vermischungen, S. 347.
[12] Hämmerle, Gerhalter (Hgg.), Apokalyptische Jahre ; darin insb.: Hämmerle, Christa, Trost und Erinnerung. Kontexte und Funktionen des Tagebuchschreibens von Therese Lindenberg (März 1938 bis Juli 1946), S. 1–60.
[13] Insgesamt sind hier im Nachlass 3 neben anderen Texten Therese Lindenbergs 64 handschriftliche Tagebuchbände und tagebuchähnliche Texte mit chronologischen Einträgen archiviert; das früheste Tagebuch begann sie im Oktober 1909, das letzte endet wenige Tage vor ihrem Tod am 21. April 1980, vgl. Sammlung Frauennachlässe Uni Wien, URL: <www.univie.ac.at/geschichte/sfn> (28.03.2012).
[14] Vgl. das von Li Gerhalter unter Mitarbeit von Brigitte Semanek zusammengestellte Bestandsverzeichnis der „Sammlung Frauennachlässe“, Wien 2012 (Eigenvervielfältigung).
[15] Lindenberg, Therese, „Die Leopoldstadt unter Hitler“, ein erst nach 1969 fertig gestellter Text, nun abgedruckt in: Steiner, Ruth, Was ich dich noch fragen wollte ... Eine Christin auf der Suche nach ihrer jüdischen Identität, Wien 2006, S. 34–70.
[16] Ähnliches stellt etwa Garbarini für im Holocaust verfasste Tagebücher jüdischer Menschen fest, vgl. dies., Numbered Days, z.B. S. 164,
[17] Vgl. zu Hamburg insbes. Meyer, „Jüdische Mischlinge“, sowie zu Berlin u.a. Stoltzfus, Nathan, Widerstand des Herzens. Der Aufstand der Berliner Frauen in der Rosenstraße – 1943. Aus dem Amerikanischen von Michael Müller, München u.a. 1999; Gruner, Wolf, Widerstand in der Rosenstraße. Die Fabrik-Aktion und die Verfolgung der „Mischehen“ 1943, Frankfurt am Main 2005; Leugers, Antonia (Hg.), Berlin, Rosenstraße 2–4: Protest in der NS-Diktatur. Neue Forschungen zum Frauenprotest in der Rosenstraße 1943, Annweiler 2005. Das Thema wurde von Margarethe von Trotta unter dem Titel „Rosenstraße“, mit Katja Riemann und Maria Schrader in den Hauptrollen, verfilmt.
[18] Die Erstausgabe erschien 1995: Klemperer, Victor, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten: Tagebücher 1933–1945. Bd. i–viii, Berlin 1995. Die Tagebücher von Victor Klemperer sind besonders gut erforscht; vgl. etwa Dirschauer, Johannes, Tagebuch gegen den Untergang. Zur Faszination Victor Klemperers, Gießen 1997.
[19] Als „Vorhölle“ hat Reemtsma die Erfahrungen von Victor Klemperer analysiert; vgl. Reemtsma, Jan Philipp, „Buchenwald wird von anderen geschildert werden; ich will mich an meine Erlebnisse halten“. Stenogramme aus der Vorhölle, in: Heer (Hg)., Im Herzen der Finsternis, S. 170–193, hier S. 178.
[20] Vgl. u.a. Heuser, Magdalena, Holocaust und Gedächtnis: Autobiographien, Tagebücher und autobiographische Berichte von verfolgten Frauen, in: Niethammer, Ortrun (Hg.), Frauen und Nationalsozialismus. Historische und kulturgeschichtliche Positionen. Osnabrück 1996, S. 83–99; Friedländer, Die Jahre der Vernichtung S. 123f.
Literaturhinweise
Garbarini, Alexandra, Numbered Days. Diaries and the Holocaust, Ann Arbor 2006.
Gruner, Wolf, Widerstand in der Rosenstraße. Die Fabrik-Aktion und die Verfolgung der „Mischehen“ 1943, Frankfurt am Main 2005.
Hämmerle, Christa, Trost und Erinnerung. Kontexte und Funktionen des Tagebuchschreibens von Therese Lindenberg (März 1938 bis Juli 1946), in: dies.; Gerhalter, Li (Hgg.) unter Mitarbeit von Ingrid Brommer und Christine Karner, Apokalyptische Jahre. Die Tagebücher der Therese Lindenberg 1938 bis 1946, Köln u.a. 2010, S. 1–60.
Meyer, Beate, „Jüdische Mischlinge“. Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933–1945, Hamburg.
Saurer, Edith, Verbotene Vermischungen. „Rassenschande”, Liebe und Widergutmachung, in: Bauer, Ingrid; Hämmerle, Christa; Hauch, Gabriella (Hgg.), Liebe und Widerstand. Ambivalenzen historischer Geschlechterbeziehungen, Wien u.a. 2005, S. 341–361.