Vom Ständestaat zur konstitutionellen Monarchie: Der Ort der polnischen Maiverfassung von 1791 in der europäischen Geschichte[1]
Von Jörg Ganzenmüller
Am 3. Mai 1791 verabschiedete der Vierjährige Reichstag in Warschau die erste kodifizierte Verfassung Europas. Dieses Ereignis ist bis heute kaum ins europäische Geschichtsbewusstsein vorgedrungen. Die amerikanische Verfassung von 1789 und die französische Verfassung vom 3. September 1791 gelten als die zentralen Meilensteine in der Geschichte der konstitutionellen Bewegung. Die polnische Maiverfassung hingegen ist außerhalb von Polen nur wenigen bekannt.[2] Wie die amerikanische und die französische Verfassung, so ist auch die Maiverfassung ein Produkt der europäischen Aufklärung. Inspiriert von Montesquieu und John Locke verkündete sie die Souveränität der Nation und führte die Gewaltenteilung ein. Die Exekutive bestand aus dem König sowie einer aus Kronrat und Ministern bestehenden Regierung. Die Legislative bildete ein nach dem Mehrheitsprinzip entscheidender Reichsrat. Die Judikative lag in der Hand von Magistraturen, deren Richter gewählt wurden. Die Maiverfassung verlieh den Städtern bürgerliche Rechte, und obwohl der katholische Glaube zur Staatsreligion erklärt wurde, gewährte sie den anderen Konfessionen eine freie Entfaltungsmöglichkeit.[3]
Doch wie kam es, dass ausgerechnet in Polen die erste moderne Verfassung Europas entstand? Noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts hätte niemand mit einer derartigen Entwicklung gerechnet. Die Verfasstheit der polnischen Adelsrepublik galt vielmehr als überholt und nicht reformierbar. Der Doppelstaat Polen-Litauen war in seinem Selbstverständnis eine Adelsdemokratie, tatsächlich herrschten jedoch wenige magnatische Familien, die ihren Einfluss auf weit verzweigte Klientelsysteme stützen konnten. Die monarchische Macht war in dieser Oligarchie vergleichsweise schwach ausgeprägt. Der polnische König verfügte weder über einen weitläufigen Beamtenapparat, mit dessen Unterstützung er den Staatsausbau hätte voranbringen können, noch über ein schlagkräftiges stehendes Heer, das er gegen das Militärpotential seiner Nachbarn Preußen, Russland und Österreich hätte ins Feld führen können. Es fehlte auch eine Schicht von Kaufleuten und Unternehmern, wie sie der früh entfaltende Kapitalismus etwa in England hervorgebracht hat. Und dennoch bahnten sich in Polen seit 1764 Reformen an, die nach der ersten Teilung des Landes 1772 an Fahrt gewannen und im „Großen Reichstag“ mündeten, der 1791 schließlich die Maiverfassung verabschiedete.[4]
Die ältere Historiographie hat den Niedergang der Adelsrepublik und die Teilungen Polens durch Preußen, das russische Zarenreich und die Habsburgermonarchie stets als eine Erfolgsgeschichte des landesfürstlichen Absolutismus beschrieben. Die hoffnungslos veraltete Adelsrepublik habe den militärisch schlagkräftigen und streng rational organisierten Nachbarstaaten nichts entgegenzusetzen gehabt. Eine überzogene ständische Mitbestimmung, wie man sie im Prinzip der Einstimmigkeit von Reichstagsbeschlüssen erkannte, habe zur innenpolitischen Selbstblockade der Adelsrepublik geführt, da der Reichstag seit der Mitte des 17. Jahrhunderts aufgrund des Einspruchs einzelner Landboten wiederholt zu keiner politischen Beschlussfassung fand. Die Adelsrepublik sei deshalb in erster Linie an ihrer inneren Schwäche gescheitert.[5]
Die neuere Forschung folgt dieser politischen Legitimation der Teilungsmächte nicht mehr. Inzwischen herrscht ein weitgehender Konsens darüber, dass die Adelsrepublik durch die aggressive Expansionspolitik seiner Nachbarn zerstört wurde. Die späteren Teilungsmächte förderten bereits seit dem beginnenden 18. Jahrhundert aktiv die Souveränitätskrise der Adelsrepublik durch eine „negative Polenpolitik“, wie Klaus Zernack die systematische Behinderung souveräner Machtentscheidungen durch die starken Nachbarmächte bezeichnet hat.[6] Und die drei Monarchen griffen stets dann zum Mittel der Teilung, wenn sich die Adelsrepublik anschickte, durch Reformen im Inneren die Souveränitätskrise zu überwinden und den Einfluss der Nachbarstaaten einzudämmen. Die Adelsrepublik hatte sich also sehr wohl als reformfähig erwiesen, doch die Nachbarstaaten verfolgten das Kalkül, Reformen, die zur inneren Konsolidierung führten, zu verhindern.[7]
Die Adelsrepublik zeigte sich nicht nur in der Lage, ihre innere Verfasstheit zu modifizieren und die Ursachen für die Souveränitätskrise zu beheben. Am Ende dieses 1764 einsetzenden Reformprozesses stand im Mai 1791 die erste kodifizierte Verfassung Europas. Damit hatte sich Polen an die Spitze jener konstitutionellen Entwicklung gesetzt, welche in Preußen erst 1848, in der Habsburgermonarchie 1849 und im Zarenreich nie zu einer Verfassung führen sollte. In ihren Bestimmungen über ein parlamentarisches Regierungssystem war die Maiverfassung ihrer Zeit voraus und ging auch weiter als viele spätere europäische Verfassungswerke. Wie kam es dazu, dass ausgerechnet in der als rückständig geltenden polnischen Adelsrepublik die bis dahin modernste Konstitution Europas entstand. Welche historische Konstellation machte die Maiverfassung möglich? Und welchen Stellenwert hat sie in der europäischen Verfassungsgeschichte?
Die Verabschiedung der Maiverfassung war nur in einer spezifischen innen- und außenpolitischen Konstellation möglich. Die Ausgangslage im Inneren war von einem Konflikt zweier Parteien geprägt. Auf der einen Seite standen die Reformkräfte, welche die Zentralgewalt des Königs stärken wollten, und auf der anderen Seite die selbst ernannten Verteidiger der „Goldenen Freiheit“ des polnischen Adels. Der frühneuzeitliche Dualismus zwischen Krone und Adel hatte wie in Böhmen und Ungarn auch in Polen eine Adelskultur hervorgebracht, die von einem egalitären Freiheitsdenken geprägt war. Jedem Adligen standen die gleichen Rechte zu, und der Adel vertrat auf dem Reichstag das Land gegenüber dem König.[8] In Polen-Litauen gingen die Rechte des Adels noch weiter als in anderen ständestaatlichen Ordnungen Ostmitteleuropas: Der polnische Adel wählte den König und seit dem Ende des 15. Jahrhunderts waren die politischen Beschlüsse des Reichstages für den Monarchen bindend. Seit dem Reichstag von 1652 etablierte sich das liberum veto als neue politische Praxis. Man legte das Privileg der „freien Stimme“ jedes Landboten in dem Sinne aus, dass Reichstagsbeschlüsse nur noch einvernehmlich getroffen werden konnten. Formal konnte fortan jeder Landbote mit seiner Gegenstimme einen politischen Beschluss des Reichstages zu Fall bringen, und im 18. Jahrhundert führte die immer häufiger eingesetzte Praxis des „Zerreißens“ von Land- und Reichstagen zu einer tief greifenden Verfassungskrise der Adelsrepublik.[9] Seit dem 17. Jahrhundert fiel es dem König immer schwerer, seine Macht gegenüber dem Adel zu behaupten, geschweige denn diese auszubauen. Stattdessen gewannen die Magnaten an Bedeutung, die den Kleinadel in Klientelsysteme einbanden und so ihre eigenen oder regionalen Interessen gegenüber der Krone durchsetzten. Gleichzeitig waren die Magnaten darauf bedacht, einen Ausbau der monarchischen Herrschaft zu verhindern.[10]
Aus der Verfassungskrise resultierte eine „Souveränitätskrise“ der Adelsrepublik. Durch politische Überzeugungsarbeit oder mittels Bestechung einzelner Landboten gewannen die europäischen Höfe Einfluss auf die Gestaltung der inneren Angelegenheiten Polens. Die Adelsrepublik wurde so zu einem Objekt der politischen Steuerung durch die Nachbarmächte. Insbesondere das Russische Reich betrachtete Polen als unmittelbares Vorfeld des eigenen Herrschaftsbereiches und wirkte darauf hin, die innere Schwäche des Unionsstaates zu erhalten.[11] Somit war eine neue außenpolitische Konstellation die zweite Voraussetzung für die Verabschiedung der Maiverfassung. Der erste Reformversuch von 1764 war noch an einer militärischen Intervention gescheitert und schließlich in die erste Teilung Polens gemündet. Ein erneuter Anlauf konnte nur dann Aussichten auf Erfolg haben, wenn das Zarenreich bereit war, die Reformen zu akzeptieren. Eine solche außenpolitische Konstellation war in den Jahren 1787 bis 1792 gegeben. Russland und Österreich waren durch den gemeinsamen Krieg gegen das Osmanische Reich gebunden und Preußen hatte kein Interesse an einem weiteren russischen Machtzuwachs in Ostmitteleuropa. Das Einvernehmen der Teilungsmächte war gestört, und für die Adelsrepublik bot sich somit die Chance, sich durch eine Reform im Inneren auch aus der politischen Umklammerung St. Petersburgs zu befreien. Als sich die Krise im preußisch-russischen Verhältnis 1790 zuspitzte, ließ der Vierjährige Sejm alle Rücksichten fallen und beschloss, das stehende Heer mit einem Schlag zu vervierfachen. Mit der Überführung des Ständischen Rates in Ministerien, der Reform der Landtage und der Neuordnung der Städte begründete man einen neuen Staat, der mit der Verfassung vom 3. Mai geradezu im Handstreich vollendet wurde und Polen in eine Erbmonarchie umwandelte.[12]
Zur Verabschiedung der Maiverfassung bedurfte es neben den innen- und außenpolitischen Voraussetzungen noch einen dritten Faktor, der die Ereignisse entscheidend vorantrieb: die Französische Revolution. Die Ereignisse in Paris übten einen großen Einfluss auf die Arbeit des Vierjährigen Reichstages aus, denn auch in Warschau verfolgte man die Einschränkung der französischen Monarchie und die Ablösung der ständischen Gesellschaftsordnung mit großer Aufmerksamkeit. Im Juli 1789 hatte die bäuerliche Gewalt gegen den französischen Landadel eine Emigrationswelle ausgelöst, und im August wurden sämtliche adligen Privilegien einschließlich der bäuerlichen Leibeigenschaft abgeschafft. Die Ereignisse in Frankreich stärkten die polnischen Republikaner. Schon nach der ersten Teilung Polens von 1772 hatten einzelne Reformpublizisten wie Stanislaw Staszic oder der Rektor der Universität Krakau, Hugo Kollataj, dafür plädiert, die „Adelsnation“ für andere Schichten zu öffnen und schrittweise in eine ständeübergreifende Gesellschaft zu transformieren. Zunächst setzten sich die polnischen Republikaner nur aus einer kleinen Bildungselite zusammen, doch seit der französischen Revolution gewannen diese schnell an Boden. Zur Reformpartei des Königs und dem konservativen Landadel trat also 1789 eine dritte politische Kraft hinzu, die sowohl anti-absolutistisch eingestellt war als auch die alten Privilegien der Szlachta beschneiden wollte.
Nicht nur die politische Konstellation verschob sich infolge der Französischen Revolution. Auch die Bedeutung eines zentralen Begriffs in der innenpolitischen Debatte der Adelsrepublik war einem Wandel unterzogen: der Freiheitsbegriff. Ursprünglich gehörte „Freiheit“ zum argumentativen Repertoire der Reformgegner. Die Vorstellung einer spezifischen „Polnische Freiheit“ war in der Mitte des 16. Jahrhunderts aufgekommen und war eine zutiefst ständische Freiheitsvorstellung, da Stadtbürger und Bauern von den adligen Privilegien wie der Steuerfreiheit oder der wirtschaftlichen Niederlassungs- und Gewerbefreiheit ausgeschlossen blieben.[13] Die republikanischen Kräfte versuchten nun, den Freiheitsbegriff neu zu besetzen und für ihre Zwecke zu vereinnahmen. Stanislaw Staszic gab etwa zu bedenken, dass es für die Stärkung der Macht Polens besser sei, „die Freiheit der anderen Mitbewohner zu vergrößern, als sich Tag und Nacht vor dieser schrecklichen Stunde zu fürchten, in der ein Mächtigerer alle für unfrei erklärt.“[14] Staszic kritisierte hier zum einen die Angst der Szlachta vor einem allzu mächtigen König, zum anderen spielte er auf die außenpolitische Bedeutung der „polnischen Freiheit“ an. Noch wichtiger erscheint allerdings, dass er dafür plädierte, „die Freiheit der anderen Mitbürger zu vergrößern“. Als Gegenentwurf zur Adelsnation trat er für eine Gesellschaft freier Bürger ein, die Verantwortung für das gesamte Staatswesen übernehmen sollten. Staszic stellte die Freiheit der Republik also über die ständische Freiheit, und erklärte zugleich die Freiheit ihrer Bürger zur Garantie der Adelsrepublik. Die Reformkräfte griffen in dieser Argumentation jenen egalitär-demokratischen Freiheitsbegriff auf, der auf Rousseau zurückging und sich durch die Idee der Volkssouveränität auszeichnete. Diese Freiheitsvorstellung stellten sie dem privilegiert-ständischen Freiheitsbegriff der Szlachta gegenüber, der um die persönliche Freiheit und individuelle Unabhängigkeit des einzelnen Adligen kreiste.[15]
Damit hatte sich für die Reformgegner die politische Herausforderung gewandelt. Die größte Gefahr ging jetzt nicht mehr vom Machtstreben des Königs, sondern vom Gleichheitsstreben der Unterprivilegierten aus. Die Entwicklung in Frankreich hatte gezeigt, dass nicht nur das liberum veto auf dem Spiel stand, sondern sämtliche Adelsprivilegien. Jan Dekkert, der ehemalige Präsident der Stadt Warschau, hatte die Zeichen der Zeit erkannt, als er den adligen Delegierten des Reichstages mit einer Revolution drohte, sollten diese die Bürger weiterhin von der Gesetzgebung ausschließen.[16] Und Ignaz Potocki, der zu den Reformkräften um den König gehörte, kündigte an, das Bürgertum gegen den Adel zu mobilisieren und die Leibeigenschaft abzuschaffen, wenn der Reichstag der Einführung einer Erbmonarchie nicht zustimmen sollte.[17]
In dieser neuen politischen Konstellation fand sich auch der König in einer veränderten Lage wieder. Auf einmal stand er zwischen den republikanischen Reformern und dem konservativem Landadel. Seine Chance bestand darin, zum Mittler dieser divergierenden Interessen zu werden. Stanislaw II. August gab in dieser Situation sein bis dahin nicht zuletzt mit Blick auf Russland vorsichtiges Taktieren auf. Unter dramatischen Umständen setzten er und seine Getreuen am 3. Mai 1791 die Verabschiedung der Verfassung im Sejm durch. Er übernahm mit seiner Initiative die Führung der Reformbewegung und nahm ihr zugleich ihre politische Spitze.[18]
Schließlich blieb die Maiverfassung jedoch hinter den Ideen der französischen Revolution zurück. Sie etablierte zwar die Gewaltenteilung, doch fehlte eine Proklamation von Grundrechten und der bürgerlichen Gleichheit, wie sie in der wenig später verabschiedeten französischen Verfassung und in den Verfassungen einiger amerikanischer Bundesstaaten enthalten waren. Und statt die Glaubensfreiheit festzuschreiben, erklärte die Maiverfassung die Priorität der katholischen Religion. Der Übertritt zu einem anderen Bekenntnis galt als strafbare Handlung.[19] Nicht die Volkssouveränität wurde zur Grundlage des polnischen Staates, sondern die Freiheiten und Privilegien des Adels bestätigt, der in Artikel 2 als „wahrhaftes Band der Gesellschaft, als den Augapfel der bürgerlichen Freiheit“ und zur „ersten Stütze der Freiheit und der gegenwärtigen Verfassung“ erklärt wurde.[20] So ist es letztlich nicht verwunderlich, dass auch die Bauern nicht befreit wurden, sondern die Leibeigenschaft erhalten blieb. Neue Legitimationsstrukturen eines modernen Verfassungskonzeptes sind in der Maiverfassung nicht enthalten, stattdessen schrieb sie die Strukturen einer mittelalterlichen Ständegesellschaft fest.
War die Maiverfassung letztlich also nur eine ständische Einhegung der Ideen der französischen Revolution? War sie eine defensive Reform der Adelsrepublik, deren eigentliches Ziel es war, die altständische Gesellschaftsordnung Polens zu bewahren und allenfalls mit den Erfordernissen der Zeit in Einklang zu bringen?[21] Oder war die Maiverfassung aus dem Geist der Aufklärung geboren und schuf etwas Neues, wenn auch nicht durch einen radikalen Umbruch, sondern in der Form einer „kontrollierten Revolution“?
Die Leistungen der Maiverfassung liegen zweifellos in der Konstituierung eines handlungsfähigen, sich als politische Einheit verstehenden Staatsgebildes, das nach außen abwehrbereit und nach innen entscheidungs- und durchsetzungsfähig gewesen wäre. Zudem schrieb sie den Elitenumbau fest, den die beiden wenige Wochen zuvor beschlossenen Gesetze über die Landtage und die Städte vollzogen hatten. Politische Rechte waren fortan nicht mehr an Herkunft, sondern weitgehend an Besitz gebunden. Während bislang alle Adligen das aktive und passive Wahlrecht besaßen, wurde nun neben der adligen Abstammung Grundbesitz zu einem weiteren Kriterium für das Wahlrecht erhoben. Damit waren die besitzlosen Adligen fortan von den Wahlen ausgeschlossen. Von insgesamt rund 700.000 polnischen Adligen verloren auf diese Weise etwa 300.000 ihre politischen Rechte. Daneben gewährte das Gesetz über die freien Städte den Stadtbewohnern den Anspruch, eine begrenzte Zahl von Abgeordneten auf den Reichstag zu wählen.[22] Da zudem der Weg zur Nobilitierung für vermögende Bürger erleichtert wurde, erhielt die Adelsrepublik eine neue soziale Grundlage: Nicht mehr die Szlachta bildete die politische Elite des Staatswesens, sondern die grundbesitzenden Adligen und vermögenden Bürger. Damit hatte man die Aufstiegskanäle für wohlhabende Städter geöffnet und zugleich den besitzlosen Kleinadel von der politischen Partizipation ausgeschlossen. Diese Reformen bedeuteten zweifellos den Einstieg in eine Gesellschaft von Staatsbürgern, doch stellte sie noch keine grundsätzliche Abkehr von der ständischen Ordnung dar.[23]
Bettet man den polnischen Reformprozess in die europäische Geschichte ein, dann ist die Maiverfassung ein Beleg dafür, dass der Weg zu einer konstitutionellen Monarchie nicht nur aus dem Absolutismus heraus möglich war. Davon zeugt zum einen die Entwicklung Großbritanniens, zum anderen die Reformära unter dem letzten polnischen König Stanislaw II. August.[24] Die Reformen der späten Adelsrepublik sind ein Beispiel für eine Staatsbildung jenseits des landesfürstlichen Absolutismus. Hier formulierten aufgeklärte Reformer vielmehr den Anspruch, ständisch verfasste Freiheit und landesfürstliche Obrigkeit miteinander zu verbinden. Eine konstitutionelle Staatlichkeit erwuchs aus den Traditionen korporierter Selbstregulierung und ständischer Freiheit. Die Genese der Maiverfassung verdeutlicht, dass der moderne Verfassungsstaat auch aus einer Ständeordnung auf evolutionärem Weg erwachsen konnte.
[1] Essay zur Quelle: Die polnische Verfassung vom 3. Mai 1791.
[2] Zur Maiverfassung als polnischer Erinnerungsort im 19. und 20. Jahrhundert vgl. Kusber, Jan, Vom Projekt zum Mythos. Die polnische Maiverfassung 1791, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 52 (2004), S. 681–699.
[3] Vgl. Die Verfassung vom 3. Mai 1791, in: Gosewinkel, Dieter; Masing, Johannes (Hgg.), Die Verfassungen in Europa 1789–1949. Wissenschaftliche Textedition unter Einschluß sämtlicher Änderungen und Ergänzungen sowie mit Dokumenten aus der englischen und amerikanischen Verfassungsgeschichte, München 2006, S. 377–384. Zu den einzelnen Bestimmungen und der Verfassungspraxis vgl. Tenzer, Eva; Pleitner, Berit, Polen, in: Brandt, Peter; Kirsch, Martin; Schlegelmilch, Arthur (Hgg.), Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel. Bd. 1: Um 1800, Bonn 2006, S. 546–600. Siehe auch: Fiszman, Samuel (Hg.), Constitution and Reform in Eighteenth-Century Poland. The Constitution of 3 May 1791, Indianapolis 1997.
[4] Vgl. den Problemaufriss von Schramm, Gottfried, Reformen unter Polens letztem König. Die Wandlungsfähigkeit eines Ständestaates im europäischen Vergleich (1764–1795), in: Berliner Jahrbuch für osteuropäische Geschichte 1996/1, S. 203–215, hier S. 206.
[5] Zur Historiographie der Teilungen Polens siehe Müller, Michael G., Die Teilungen Polens 1772 – 1793 – 1795, München 1984, S. 65–87.
[6] Vgl. Zernack, Klaus, Negative Polenpolitik als Grundlage deutsch-russischer Diplomatie in der Mächtepolitik des 18. Jahrhunderts, in: Liszkowski, Uwe (Hg.), Russland und Deutschland. Festschrift für Georg von Rauch, Stuttgart 1974, S. 144–159; Zernack, Klaus, Polen und Rußland. Zwei Wege in der europäischen Geschichte, Berlin 1994, S. 256.
[7] Den besten Überblick über den Weg zu den Teilungen Polens findet sich bei Müller, Die Teilungen Polens, S. 26–55. Siehe außerdem: Lukowski, Jerzy, The Partitions of Poland 1772, 1793, 1795, London 1999; Freiherr von Aretin, Karl Otmar, Tausch, Teilung und Länderschacher als Folgen des Gleichgewichtssystems der europäischen Großmächte. Die Polnischen Teilungen als europäisches Schicksal, in: Zernack, Klaus (Hg.), Polen und die polnische Frage in der Geschichte der Hohenzollernmonarchie 1701–1871, Berlin 1981, S. 53–68.
[8] Vgl. Puttkamer, Joachim von, Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert, München 2010, S. 6.
[9] Die ältere Historiographie hat die innenpolitische Blockade durch das „liberum veto“ allerdings stark überzeichnet. In der Praxis ging es häufig um die Organisation von Mehrheiten, vgl. Müller, Michael G., Polen zwischen Preußen und Russland. Souveränitätskrise und Reformpolitik 1736–1752, Berlin 1983, S. 112–151.
[10] Vgl. Jaworski, Rudolf; Lübke, Christian; Müller, Michael G., Eine kleine Geschichte Polens, Frankfurt am Main 2000, S. 169f.
[11] Vgl. Zernack, Polen und Russland, S. 276–295.
[12] Zu den Umständen ihrer Verabschiedung vgl. Kalinka, Valerian, Der vierjährige Reichstag 1788 bis 1791, 2 Bde., Berlin 1898, Bd. 2, S. 725–744; Lukowski, Jerzy, Liberty’s Folly. The Polish-Lithuanian Commonwealth in the Eighteenth Century, 1697–1795, London, New York 1991, S. 247–252; ders., The Partitions of Poland, S. 138–141; Zamoyski, Adam, The Last King of Poland, London 1992, S. 326–340; Daniel Stone, Polish Politics and National Reform 1775–1788, New York 1976, S. 277–282.
[13] Vgl. Bömelburg, Hans-Jürgen, „Polnische Freiheit“ – Zur Konstruktion und Reichweite eines frühneuzeitlichen Mobilisierungsbegriffs, in: Schmidt, Georg; Gelderen, Martin van; Snigula, Christopher (Hgg.), Kollektive Freiheitsvorstellungen im frühneuzeitlichen Europa (1400–1850), Frankfurt am Main u.a. 2006, S. 191–222, hier S. 193.
[14] Staszic, Stanislaw, Bemerkungen zum Leben Jan Zamoyskis, in: Libera, Zdzislaw (Hg.), Polnische Aufklärung. Ein literarisches Lesebuch, Frankfurt am Main 1989, S. 302–307, hier S. 302.
[15] Zu den Freiheitsbegriffen im Europa jener Zeit vgl. Hahn, Hans-Werner, Die alte Freiheit und der Beginn der Moderne. Überlegungen zur Bedeutung der „deutschen Freiheit“ in den politischen Formierungsprozessen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Schmidt, Georg; Gelderen, Martin van; Snigula, Christopher (Hgg.), Kollektive Freiheitsvorstellungen im frühneuzeitlichen Europa (1400–1850), Frankfurt am Main u.a. 2006, S. 515–535, hier S. 516.
[16] Merkwürdiges Schreiben des Herrn Johann Dekkert, weiland Präsident der alten Stadt Warschau, an den Reichstags- und Kronconföderations-Marschall, Stanislaus Malachowski, in: Historisch-Politisches Magazin 1790, Nr. 8, S. 559–564, hier S. 562f.
[17] Vgl. Kalinka, Der vierjährige Reichstag, S. 701.
[18] Vgl. Zamoyski, The Last King of Poland, S. 332f.
[19] Vgl. Olszewski, Henryk, Die Maikonstitution als Krönung der Reformbewegung in Polen im 18. Jahrhundert, in: Jaworski, Rudolf (Hg.), Nationale und internationale Aspekte der polnischen Verfassung vom 3. Mai 1791, Frankfurt am Main 1993, S. 24–42, hier S. 35f.
[20] Verfassung vom 3. Mai 1791, Artikel 2, S. 378.
[21] So Schramm, Reformen unter Polens letztem König, S. 207.
[22] Vgl. Lukowski, Liberty’s Folly, S. 246; Zamoyski, The Last King of Poland, S. 336. Die beiden Gesetze sind in deutscher Übersetzung abgedruckt in: Jaworski, Rudolf (Hg.), Nationale und internationale Aspekte der polnischen Verfassung vom 3. Mai 1791, Frankfurt am Main u. a. 1993, S. 144–169.
[23] Vgl. Müller, Michael G., Adel und Elitenwandel in Ostmitteleuropa. Fragen an die polnische Adelsgeschichte im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 50 (2001), S. 497–513, hier S. 503.
[24] Die englische Verfassung hatte auch einen maßgeblichen Einfluss auf Stanislaw II. August und die polnische Maiverfassung, vgl. Butterwick, Richard, Poland’s Last King and English Culture. Stanislaw August Poniatowski, 1732–1798, Oxford 1998.
Literaturhinweise
Bömelburg, Hans-Jürgen, "Polnische Freiheit" – Zur Konstruktion und Reichweite eines frühneuzeitlichen Mobilisierungsbegriffs, in: Schmidt, Georg; Gelderen, Martin von; Snigula, Christoph (Hgg.), Kollektive Freiheitsvorstellungen im frühneuzeitlichen Europa (1400–1850), Frankfurt am Main 2006, S. 191–222.
Fiszman, Samuel (Hg.), Constitution and Reform in Eighteenth Century Poland. The Constitution of 3 May 1791, Indianapolis 1997.
Schramm, Gottfried, Reformen unter Polens letztem König. Die Wandlungsfähigkeit eines Ständestaates im europäischen Vergleich (1764–1795), in: Berliner Jahrbuch für Osteuropäische Geschichte 1996,1, S. 203–215.
Stone, Daniel, Polish Politics and National Reform 1775-1788, New York 1976.
Zamoyski, Adam, The Last King of Poland, London 1992.