Die Gründung des "Europäischen Jugendverbands" und die Frauen- und Jugendorganisation der Falange (Wien, September 1942)

Eine Europakarte, welche durch keinerlei staatliche Grenzen definiert ist. Ein säulenähnlicher Stamm, der genau in ihrer Mitte geradlinig wächst, dessen Wurzeln sich aber quer durch den europäischen Kontinent erstrecken. Eine Baumkrone schließlich, welche zwischen ihren Blättern eine kugelförmige, soeben gekeimte Frucht hält, die das zu symbolisieren scheint, was unmittelbar als Titel angeführt ist: die „Gruendungstagung des Europaeischen Jugendverbandes Wien 1942“. [...]

Die Gründung des „Europäischen Jugendverbands“ und die Frauen- und Jugendorganisationen der Falange (Wien, September 1942)[1]

Von Toni Morant i Ariño

Eine Europakarte, welche durch keinerlei staatliche Grenzen definiert ist. Ein säulenähnlicher Stamm, der genau in ihrer Mitte geradlinig wächst, dessen Wurzeln sich aber quer durch den europäischen Kontinent erstrecken. Eine Baumkrone schließlich, welche zwischen ihren Blättern eine kugelförmige, soeben gekeimte Frucht hält, die das zu symbolisieren scheint, was unmittelbar als Titel angeführt ist: die „Gruendungstagung des Europaeischen Jugendverbandes Wien 1942“.

Mit einer solchen Bildsprache wurde die feierliche Gründung des „Europäischen Jugendverbandes“ (EJV) auf einer Sonderpostkarte metaphorisch dargestellt, welche zu diesem Anlass gedruckt wurde. Europa als ideell-bildliche Darstellung, ein bestimmter Europa-Begriff als Nährboden und Wien als dessen symbolisch-geografisches Zentrum. Hier trafen zwischen dem 14. und 18. September 1942 unter deutsch-italienischer Führung Vertreter von vierzehn faschistischen bzw. autoritären Jugendverbänden Europas zusammen. Wie die Postkarte zu versinnbildlichen suchte, wollte der blühende Baum dieses ‚Jungen Europas’ seine aderähnlichen Wurzeln quer durch den Kontinent schlagen: im Norden wie im (auf der Karte unverhältnismäßig klein dargestellten) Süden, im Nordwesten wie im Südosten – vom Nordkap bis Sizilien, von der iberischen Halbinsel bis zum Kaukasus.

Wie die Wurzeln zu dem Baum, versammelten sich im damaligen Reichsgau Wien Jugendführer und –führerinnen aus vielen Ecken des kontinentalen Europas fünf Tage lang als Gäste der Reichsjugendführung (RJF) anlässlich des Höhepunkts ihrer sogenannten „europäischen Kulturarbeit“. Sie waren aus Bulgarien, Dänemark, Flandern, Finnland, Kroatien, Italien, den Niederlanden, Norwegen, Rumänien, Slowakei, Spanien, Ungarn, und Wallonien zusammengekommen – stammten also aus den europäischen Achsenmächten, ihren Satelliten und denjenigen Ländern, welche in West- und Nordeuropa unter deutscher Besatzung standen. Nur Spanien, das knapp drei Jahre zuvor entstandene ‚Neue Spanien’ von General Francisco Franco, erfüllte zu keinem Zeitpunkt auch nur eine dieser beiden Voraussetzungen – weder war es offiziell Achsenmitglied bzw. ihr Satellit, noch war es von Deutschland besetzt. Und trotzdem nahm das größte Land der iberischen Halbinsel an den Treffen zur europäischen Kulturarbeit der RJF von Anfang an teil.

Franco war im Laufe eines nahezu dreijährigen Bürgerkriegs (Juli 1936 – April 1939), der von einem Putsch ausgelöst worden war, an die Macht gelangt. Doch erst aufgrund der frühen Hilfe aus Deutschland, Italien und dem Portugal Salazars (sowie der Passivität der demokratischen Mächte) konnte dieser Krieg für die militärischen, konservativen und faschistischen Aufständischen entschieden werden. Seitdem wurde die Zusammenarbeit mit diesen drei „befreundeten Ländern“ durch Abkommen und Verträge festgelegt, und nach 1939 weiter ausgebaut. Allerdings war die Hilfe zugunsten der spanischen Rebellen nicht nur militärischer, gar diplomatischer Art – ab den ersten Bürgerkriegsmonaten erfolgte ein reger politisch-ideologischer Kontakt zwischen der Falange Española, also der spanischen faschistischen Partei, und deren Vorbildern, nämlich des Partito Nazionale Fascista und der NSDAP. Im Oktober 1933 gegründet, war die Falange zunächst parteipolitisch eher unbedeutend geblieben und konnte erst im Bürgerkrieg zur Massen-, dann zur Einheitspartei des Franco-Spaniens avancieren. Recht bald entstanden auf verschiedenen Ebenen regelmäßige Verbindungen. Es kam zu Besuchen und Gegenbesuchen des faschistischen Italiens und insbesondere NS-Deutschlands – eine Entwicklung, die von katholischer Seite höchst sorgenvoll beobachtet wurde.[2] Im Rahmen dieser Kontakte reisten zwischen 1937 und 1939 zahlreiche Gruppe der Jugendorganisation der Falange (ab 1940 Frente de Juventudes, Jugendfront), vor allem aber Mitglieder der Frauenorganisation Sección Femenina (SF, der Weiblichen Abteilung) nach Deutschland, seltener Führer der Hitlerjugend (HJ) und Führerinnen des Bund Deutscher Mädel (BDM) nach Spanien.[3]

Aus Perspektive der HJ bildete dieser Austausch mit den Falange-Organisationen Teil der sogenannten Auslandsarbeit, welche während der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre mit mehreren ausländischen Jugendorganisationen betrieben wurde.[4] Auf den ersten Blick mag es verwundern, dass die radikal ultranationalistische, rassistisch übersteigerte NS-Ideologie überhaupt eine europäische Dimension gehabt hatte, die nicht allein Unterdrückung, Ausbeutung und militärische Gewalt beinhaltete. Allerdings fanden sich im Nationalsozialismus viele unterschiedliche Gruppen zusammen, welche sich zwar teilweise untereinander unterschieden, jedoch nicht in einem unmittelbaren Gegensatz zueinander standen. Auch im Fall der Europa-Konzeptionen lag nie ein eindeutiges, klares Programm für die politische Integration des Kontinents vor – was durchaus Raum für diverse Initiativen offen ließ.[5]

Im Krieg erlebte der Begriff ‚Europa’ in der nationalsozialistischen Politik Konjunktur. Hatten sich die Kontakte der Jugendorganisationen bis 1939 vorrangig auf zwischenstaatliche Ebene konzentriert, verschob sich mit den Umwälzungen im Frühjahr 1940 das Hauptinteresse der RJF allmählich hin auf eine „europäische“ Ebene. Insofern bemühte sich die HJ-Zentrale, ihren europäischen Projekten Gestalt als einen „überregionalen Zusammenschluss von Jugendverbänden der unter deutschem Einfluss stehenden Ländern“ zu geben; dieser noch zu schaffende europäische Jugendverband sollte vielmehr „ein Gremium mit einer multinationalen Führungsspitze“ darstellen.[6] Infolge der jüngst in Europa erfolgten „Flurbereinigung“ glaubte das Auslandsamt der HJ im August 1940, dort „geistig und politisch eine Umwandlung [...] von entscheidendster Bedeutung“ feststellen zu können: „Wir sind Zeugen der Grundsteinlegung eines neuen europäischen Begriffs [...]. Der Begriff ‚Neues Europa’, noch vor wenigen Jahren unaussprechlich gewesen, ist heute in den Spalten von Zeitungen aller Sprachen ein täglich wiederkehrendes Wort geworden“. Obwohl man dabei den italienischen Beitrag nicht vergaß, betonte man, dass „heute ganz Europa auf Deutschland blickt und von ihm die Verantwortung und Gestaltung eines ‚Neuen Europas’ hofft“. Die HJ erkannte große Handlungsspielräume für die Jugendorganisationen: „Das neugewachsene Europa wird ein junges und damit auch ein Europa der Jugend sein“.[7] Es war naheliegend, dass man dabei gerade auf die deutschen Jugendorganisationen, d.h. auf HJ und BDM, blickte.

Im Gegensatz zu anderen Reichsdienststellen, deren Konzepte bei aller Unterschiede meistens ‚germanisch’-zentriert waren, schlossen die Europa-Konzeptionen der RJF auch die „slawischen“ und „romanischen“ Länder ein. Dies erlaubte die Zusammenarbeit mit der Falange und ihrer Organisationen in der Gestaltung des ‚Jungen Europas’. Die spanischen Faschistinnen und Faschisten sahen im Bürgerkrieg nur eine erste Etappe auf dem Weg zur Verwirklichung ihres totalitären Projekts: die Durchsetzung einer (falangistischen) Revolution im Innern sowie die Schaffung eines Imperio (spanisch für ‚Reich’) nach außen. Schon vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs lag der Horizont ihres faschistischen Ultranationalismus im ‚Neuen Europa’, wo sie eine mit Italien und Deutschland gleichberechtigte Stellung suchten. In diesem – antiliberalen, antidemokratischen – Sinne waren sie „überzeugte Europäer“.[8]

Die Blitzkrieg-Siege im Frühjahr 1940 hatten nicht nur zahlreiche Reichsdienststellen in eine Art ‚Europarausch’ versetzt, sondern verstärkten auch die Euphorie der Falange für die „neue europäische Ordnung“: „[I]n dieser ersten, bedeutungsvollen Stunde einer aufbrechenden Zeit [...] sind wir als Spanier weder untergeordnet, noch dürfen wir uns gleichgültig zeigen“.[9] Der einzige Weg zum Imperio führte über einen Kriegseintritt auf Seiten der Achsenmächte. Zwar hatte Spanien am 12. Juni 1940, d.h. zwei Tage vor dem Fall Paris’, seine offizielle (in der Tat aber Deutschland gegenüber wohlwollende) Neutralität aufgegeben und sich, dem italienischen Vorbild folgend, als „nicht kriegführendes“ Land erklärt – jedoch verschob sich der eigentliche endgültige Kriegseintritt immer wieder aufgrund der militärisch und wirtschaftlich ungünstigen Lage des Landes sowie der (zum Teil nur temporären) Differenzen zwischen Franco und Hitler.[10] Da die Falangistinnen und Falangisten fürchteten, aufgrund der Passivität ihres Landes nicht am weltgeschichtlichen Geschehen teilhaben zu können, versuchten sie ihre gleichberechtigte Stellung im ‚Jungen Europa’ der Nachkriegsordnung zu untermauern, indem sie an der europäischen Kulturarbeit der RJF von Anbeginn aktiv mitwirkten.

Im Oktober 1940 hatte die Falange-Jugendorganisation eine Abordnung nach Padua geschickt, die dort zusammen mit jungen Führern aus Italien, Deutschland, Rumänien und Ungarn noch unter italienischer Ägide vor Mussolini vorbei marschierte. Danach aber übernahm die RJF nach Monaten konzeptueller Vorbereitungen deutlich die Initiative und ging einen Weg, der zwei Jahre später über verschiedene Etappen in Wien mündete. Unter italienischer Mitarbeit wurden über die nächsten achtzehn Monaten drei Treffen mit Vertretern der faschistischen bzw. autoritären Jugendverbände Europas veranstaltet. Gleich zum ersten Treffen Ende Februar/Anfang März 1941 in Garmisch-Partenkirchen bei den Winterkampfspielen der HJ entsandte die Falange eine Sportabordnung ihrer Jugend- sowie drei hochrangige Führerinnen der Frauenorganisation.[11]

Als sich Ende August desselben Jahres die Jugendführerinnen und –führer der mittlerweile vierzehn europäischen Länder anlässlich der Fünften Sommerkampfspiele der HJ in Breslau versammelten, war der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion schon zu einem „wirkungsvollen Begründungsmuster“ der NS-Europa-Ideologie avanciert, zum „zentrale[n] Bindemittel“, das eine eindeutige Wir-Identität der verschiedenen Ländern stiftete.[12] Franco-Spanien konnte dies nur gelegen kommen, da es sich am Krieg mit der sogenannten Blauen Division, einem „Freiwilligen“-Armeeverband aus Falangisten und Soldaten aktiv beteiligte: „Europas Front [...] ist heute ein Kreuzzug gegen Sowjetrussland [...]. Von der Logik der Ideen und der Gefühle her tritt Spanien wie ein weiterer Verbündete an – besser gesagt, wie ein weiterer Bruder innerhalb der Brüderschaft des antikommunistischen Europas“.[13] Baldur von Schirach, ehemaliger Reichsjugendführer und nunmehriger Reichsleiter der NSDAP für Jugenderziehung, beschwor in Breslau die gemeinsamen kulturellen und ideologischen Grundlagen der versammelten Delegationen: „Wir, meine Kameraden, wir verstehen uns. Unsere Sprache ist vielleicht verschieden, aber unsere Herzen schlagen im selben Takt. Gemeinsame Ideale verbinden uns [...]. Wir sind Brüder und Schwestern im Kampf um die Freiheit des europäischen Geistes gegen den Terror des Bolschewismus und gegen die Macht des Goldes. Für diese Ideale marschieren wir und kämpfen wir“.[14]

Diese Rede hörte auch die nach Breslau gekommene Frauenführerin der Falange, Pilar Primo de Rivera. Für die Schwester des 1936 hingerichteten Falange-Gründers war es der zweite ihrer insgesamt sechs (!) Deutschlandbesuche zwischen 1938 und 1943. Die Monatszeitschrift des BDM berichtete von ihrer „Begeisterung“ für Deutschland: Seine „unbesiegbare Kraft“ befähige das Land, so die Spanierin, „die aufbauwilligen Völker Europas um sich zu sammeln und die Grundsteine für die zukünftige Entwicklung zu legen“.[15] In Berlin traf sie Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink, mit der sie die „gemeinsamen Ziele“ der beiden Frauenorganisationen besprach.[16] Die von der höchsten SF-Führerin angedeutete Entwicklung nahm kurz darauf öffentliche Gestalt an, als im Januar 1942 das Führerorgan der RJF ankündigte, aufgrund der „politische[n] Bereitschaft der Jugend für das neue Europa“ und mit Blick auf die „Aufbauarbeit nach der militärischen Beendigung des Krieges“ einen „Europäischen Jugendverband“ gründen zu wollen.[17]

Eine dritte, letzte vorausgehende Etappe fand aber noch im Juni 1942 in Form einer „Kulturbrücke“ zwischen Weimar und Florenz statt. Neben 30 Vertretern der Jugendfront waren aus Spanien José Antonio Elola Olaso (Nationalführer der Jugendfront), Julia Alcántara (Nationalbeauftragte der weiblichen Jugend), Carmen de Icaza (Nationalsekretärin des Sozialen Hilfswerks) und Pilar Primo de Rivera an der Spitze der Abordnung eingetroffen.[18] Waren die Treffen in Garmisch und Breslau 1941 im Zeichen der sportlichen Wettkämpfe gestanden, so wurde nunmehr ein dichtes kulturelles Programm geboten. Der ideologische Hintergrund war nicht zu übersehen: Weimar sei „eine politische Demonstration der europäischen Jugend gegen die zersetzenden und kulturvernichtenden Kräfte der Welt“.[19] Die Monatszeitschrift der SF sah dort die Vereinigung der Jugendorganisationen Europas wie in einer „Kommunion der europäischen Völker“. Wie auch in Breslau zeigten die in der spanischen Presse veröffentlichten Bilder Primo de Rivera als Beweis ihrer Hochschätzung in Deutschland neben den höchsten Jugendführerinnen und -führern, in Breslau an Schirachs Seite, nun neben Reichsreferentin Jutta Rüdiger.[20]

Zweieinhalb Monate später erfolgte schließlich in Wien die mehrmals angekündigte Gründung des „Europäischen Jugendverbands“. Im ‚Gauhaus’, dem einstigen österreichischen Parlament, das 1938 in den Sitz der NSDAP umgewandelt worden war, fand zwischen dem 14. und 18. September 1942 die ‚Krönung’ der europäischen Kulturarbeit der RJF statt. Es waren Stunden der Vorahnung des ‚Endsiegs’. Tausende Kilometer entfernt war es der Wehrmacht vier Tage zuvor gelungen, die Wolga südlich von Stalingrad zu erreichen, womit die Stadt nur noch über den Flussweg Kontakt zu den eigenen Linien hatte. Weiter südlich rollten Panzereinheiten Richtung Kaukasus weiter und in Nordafrika standen das Afrika-Korps und die italienische Armee keine zehn Kilometer von El Alamein entfernt. Am Eröffnungstag betitelte ein spanischer Korrespondent seinen Bericht aus Berlin wie folgt: „Stalingrad wird fallen“. Der Leitartikel seiner Zeitung sprach von der „Schlacht des zivilisierten Europas gegen die antieuropäische Barbarei“.[21] Die Verwirklichung des ‚Neuen Europa’ schien unmittelbar bevorzustehen.

Auch die etwa 300 in Wien anwesenden jungen Führerinnen und Führer dürften es so gesehen haben und wollten ihrerseits nicht zurückstehen. Wille und Macht, das ‚Führerorgan‘ der RJF, nannte sie „Vorboten der neuen Ordnung“. Offiziell waren Abordnungen derselben vierzehn Jugendorganisationen vertreten, welche schon in Breslau und Weimar/Florenz, teilweise auch in Garmisch anwesend waren, nämlich aus Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Flandern, Italien, Kroatien, aus den Niederlanden, Norwegen, Rumänien, Slowakei, Spanien, Ungarn und Wallonien. Mit diesem – aus ihrer Sicht – gesamteuropäischen Treffen beabsichtigten sie, nach zwei Jahren Vorbereitung ihren eigenen Beitrag zum ‚Jungen Europa’, d.h. zu einer Art jungen Version der europäischen ‚Neuen Ordnung’ zu leisten. Vor diesem „Strahlenbündel nationaler Kräfte“ sprach der Wiener Gauleiter und Reichsstatthalter Schirach in seiner Öffnungsrede vom EJV als „einzigartige[m] Bekenntnis der Jugend Europas zu einer nationalen und sozialen Schicksalsgemeinschaft der Völker dieses Kontinents“, von einem „Sinnbild der neuen und besseren Ordnung“, und erklärte die „Festigung und Stärkung des Bewusstseins der europäischen Zusammengehörigkeit“ zu dessen Aufgabe.[22]

Zu Ehrenpräsidenten dieses neuen „Wiener Kongresses“ wurden die ehemaligen Jugendführer der beiden Achsenmächte, also Schirach selbst und der nunmehrige Korporationsminister Renato Ricci ernannt, zu effektiven Präsidenten die amtierenden Jugendführer Artur Axmann und Aldo Vidussoni, der Führer der Gioventù Italiana del Littorio. Es hieß, beide hätten einen Arm im Krieg gegen den Kommunismus (der Italiener in Spanien, der Deutsche in Russland) verloren, was wiederum den spanischen Bürger- und Weltkrieg miteinander verband. Dem deutsch-italienischen Präsidium unterstanden die Präsidenten der fünfzehn in Wien gegründeten Arbeitsgemeinschaften – zusammen bildeten sie den ‚Führerring’. Wie abgesprochen kündigte Schirach zu Beginn die Gleichberechtigung und Selbstständigkeit aller Gründungsmitglieder an, unabhängig von deren Größe und Bevölkerungsgewicht. Dementsprechend war jedes einzelne Land in allen Arbeitsausschüssen vertreten und erhielt auch die Leitung eines Spezialgebiets, für das es als besonders kompetent erachtet wurde. Nur den Deutschen und den Italienern wurden je zwei Leitungspositionen übertragen.[23]

Die Arbeitsgemeinschaft zum Thema „Weibliche Jugend“ wurde von den Frauen- bzw. Mädelführerinnen Italiens, Deutschlands und Spaniens (Penelope Testa, Jutta Rüdiger und Pilar Primo de Rivera) zusammen geleitet. Als AG-Präsidentinnen nahmen auch sie am ‚Führerring’ teil. Die BDM-Reichsreferentin begründete dies nachträglich damit, dass in allen drei Ländern „die Arbeit der weiblichen Jugend bereits besondere Beachtung gefunden hatte und schon weitgehend ausgebaut“ war. In zweierlei Hinsicht weist das auf eine Sonderstellung der spanischen Führerin im Vergleich zu ihrem Landsmann Elola hin. Zum einen leitete sie paritätisch die einzige ‚Frauen’-AG, er aber nur eine der restlichen fünfzehn AGs. Zum andern hatte er, nach zweijähriger Vorbereitung, erst unmittelbar vor seiner Anreise über seine Partei- sowie Außenminister vergebens eine dritte Präsidentschaft im EJV für sich verlangt. Umso bezeichnender ist es also, glaubt man Axmanns späterer Darstellung, dass in der „freundschaftlichen Aussprache“ mit Elola und Primo de Rivera in Wien letztere für die deutsche Seite Stellung bezog und die Kandidatur ihres eigenen Landmannes nicht unterstützte.[24]

Am letzten Tag des Treffens erklärte Schirach, dass nach dem Kriege „die neue Welt die alte sein und das ewig junge Europa die neue sein“ werde. Die Präsidenten jeder AG verlasen die jeweiligen Arbeitsergebnisse. Diejenigen der „Weiblichen Jugend“ las die Spanierin im Namen des „Triumvirats“ vor, wie sie die Leitung ihrer Arbeitsgruppe in einem Interview nach ihrer Rückkehr in Madrid nannte. Ausgerechnet mit diesem aus der römischen Politik entlehnten Begriff (trium-virorum, d.h. „von drei Männern“) negierte sie rhetorisch - bewusst oder unbewusst - jeglichen Unterschied in den männlichen und weiblichen Machtpositionen.[25] Eine nächste Zusammenkunft für 1943 in Italien wurde angekündigt. Inzwischen sollten die verschiedenen Arbeitsausschüsse (für Axmann „das eigentliche Kernstück des Kongresses“) zuerst im Land des jeweiligen Präsidenten zusammengerufen werden.

Allerdings wirkte sich der für die Achse ab Herbst 1942 endgültig ungünstige Kriegsverlauf auch auf die Entwicklung der AGs aus und ließ neben den längst begonnenen Streitigkeiten zwischen der RJF und Auswärtigem Amt, dem Propaganda-Ministerium und der SS die Planungen des EJV stocken. Hatte sich eine AG im Oktober 1942 in Rom sowie die von Elola geleitete AG „Familie und Jugend“ noch im Dezember (wenn auch in stark reduzierter Besetzung) in Madrid versammelt, fanden z.B. die für den Februar 1943 in Oslo geplanten oder die für das Frühjahr desselben Jahres in Italien vorgesehenen AG-Treffen nicht mehr statt. „Die militärischen Ereignisse hatten uns überrollt“.[26]

Als jugend- und machtpolitisches Projekt, als Baum, dessen Wurzeln sich ideell quer durch den Kontinent erstreckten, ließ sich dieses „neugewachsene Europa“ vom Kriegskontext nicht lösen, der erst die Bedingungen für seine Entstehung geschaffen hatte. Gerade der Vernichtungskrieg gegen die zum Anderen stilisierte, als Orient ausgegrenzte Sowjetunion, den Inbegriff des absoluten Feindes, war es, was die vierzehn in Wien beteiligten Länder zu einer Wir-Identität verhalf. Am Ende brachte der Kriegsverlauf das Projekt zum Scheitern, die europäischen Faschismen zur totalen Niederlage – zum Glück für Europa und seine Bewohner.

Der Europäische Jugendverband sollte aber nicht ausschließlich aus einer heutigen Perspektive betrachtet werden. Auch wenn dessen Gründungstagung letztendlich den Anfang vom Ende der europäischen Kulturarbeit der RJF signalisierte, war sie von ihren Initiatoren doch als erste Etappe in der Verwirklichung eines (jugend-)politischen Projekts gedacht. Ebenso wie die wechselseitigen Besuche vor wie nach Kriegsbeginn und die gemeinsamen Treffen (Garmisch, Breslau, Weimar/Firenze), sollte einer immer engeren Kooperation dienen, der von Pilar Primo de Rivera angedeuteten ‚zukünftige[n] Entwicklung’. Auch scheint die Tatsache nicht ganz unbedeutend zu sein, dass die RJF jedem Kompetenzgerangel und allen Konflikten mit anderen Reichsdienststellen zum Trotzt in der Lage war, ein Treffen mit vierzehn Ländern Europas zu veranstalten – umso mehr, wenn man berücksichtigt, dass das Deutsche Reich 1942 diplomatische Beziehungen mit nur noch 22 Staaten der Welt unterhielt und keine Delegationen aus den neutralen Staaten Europas (Schweden, Schweiz, Portugal, Türkei) teilnahmen.

Während mindestens zweier Jahre, in denen kein anderes Europa als das Hitlers möglich schien, fehlte es der RJF unter den faschistischen bzw. autoritären Jugendorganisationen nicht an bereitwilligen Partnern. So wie der italienische oder der französische Faschismus stellte auch die ultranationalistische Ideologie der Falange keine unbedingte Antithese zum Europa-Gedanken dar. Freilich handelt es sich hier aber um das Gegenteil eines den Ideen von Aufklärung, Liberalismus und Demokratie verpflichteten Europa-Konzepts, wie es heute beherrschend sein mag.

Die Falange nahm eine eindeutig europafreundliche Haltung in einem totalitären Sinn ein. Ihre Teilorganisationen, allen voran die Sección Femenina, hatten ab 1937 auf einer zwischenstaatlichen Ebene regelmäßige Kontakte mit den entsprechenden italienischen und deutschen Organisationen gepflegt. Auch wenn es ihr aus innen- und außenpolitischen Gründen nicht gelang, ab 1940 einen Kriegsantritt Spaniens auf Seiten der Achsenmächte durchzusetzen, bemühten sich ihre Frauenabteilung und Jugendfront um Anschluss an das ‚Neue Europa’, indem sie die bisherigen Kontakte nunmehr auch auf einer europäischen Ebene weiterentwickelten. Falangistinnen und Falangisten befürchteten, in Spanien abseits vom ‚Lauf der Geschichte’ zu bleiben, zu einem Zeitpunkt, wo in Europa gegen die verhassten liberalen Demokratien, und dann auch gegen den Kommunismus gekämpft wurde. Sie drängten hinaus nach Europa, um gemeinsam mit ihren deutschen und italienischen Kameraden und Kameradinnen die ‚aufbauwilligen Völker’ zu führen. Deshalb machten sie sich von Anbeginn auf den Weg zu dem von der RJF entworfenen ‚Jungen Europa’; ein Weg, der zahlreiche Abordnungen ihrer Organisationen sowie ihre höchsten Führerinnen und Führer nach Deutschland brachte.

Auch vor diesem Hintergrund erscheint es nicht angemessen, die Haltung Franco-Spaniens im Zweiten Weltkrieg pauschal als neutral zu bewerten. Ab Ende 1942 zog sich Spanien im Zuge der Distanzierung von den Achsenmächten aus dem Projekt des ‚Neuen Europa’ zurück. Wegen ihrer engeren Kontakte mit den faschistischen Mächten zögerten Falangistinnen und Falangisten dabei länger. Pilar Primo de Rivera, die zwischen August 1941 und September 1942 Deutschland vier Mal besucht hatte, reiste noch Ende Juli 1943, am Tag nach Mussolinis Sturz, zum letzten Mal nach Berlin – auch wenn dieser Besuch ihrem Land zu diesem Zeitpunkt nur noch außenpolitische Schwierigkeiten bereiten konnte. Das in der offiziellen Einladung angegebene Ziel, die Spanierin möchte „die Arbeit einiger Einrichtungen der NSDAP“ kennenlernen,[27] erscheint nach über sechs Jahre bestehenden Beziehungen kaum glaubwürdig.

Als sich die totale Niederlage des Nationalsozialismus definitiv abzeichnete, galt es nur, jegliche Verbindung mit den europäischen Faschismen auch rückwirkend abzustreiten, sich mit allen Mitteln von ihnen rhetorisch abzugrenzen und die eigene Katholizität bis zum Extrem zu betonen, um die Franco-Diktatur zu retten. Oder anders gesagt – um vergessen zu lassen, dass auch im ‚Neuen Spanien’ die Projekte einer faschistischen Nachkriegsordnung zahlreiche Anhängerinnen und Anhänger, die Wurzeln des Europäischen Jugendverbands fruchtbaren Nährboden vorgefunden hatten.



[1] Essay zur Quelle: “Gruendungstagung des Europaeischen Jugendverbandes Wien 1942” (September 1942).

[2] Diese Sorgen stellen eine Konstante im Schriftverkehr der spanischen und vatikanischen Kirchenvertreter dar. So brachte Isidro Kardinal Gomá, Erzbischof von Toledo und Primas von Spanien im April 1937 seine Befürchtung vor einer in der Falange unter deutschem Einfluss „sich abzeichnenden halbheidnischen Ideologie“ zum Ausdruck, oder sprach im Februar 1939 vom deutsch-spanischen Kulturabkommen als einem „potentiellen Instrument der Entchristianisierung“; vgl. die Aktenedition Archivo Gomá. Documentos de la Guerra Civil, hg. von José Andrés-Gallego und Antón Pazos, Madrid 2001–2010, 13 Bände, hier jeweils B. 5, S. 160–161 und B. 13, S. 231–232.

[3] Dazu siehe Morant i Ariño, Toni, „Junge, tapfere Spanierinnen!“ – „Starkes und sportliches BDM-Mädel“. Selbst- und Fremdbilder in den Kontakten zwischen der Sección Femenina de Falange und dem Bund Deutscher Mädel in der HJ (1937–1943)“, in: Jahrbuch für historische Bildungsforschung 13 (2008), S. 187–210.

[4] Zu den Auslandsaktivitäten der HJ in der Vorkriegszeit, siehe Buddrus, Michael, Totale Erziehung für den totalen Krieg. Hitlerjugend und nationalsozialistische Jugendpolitik, München 2003, S. 742–753.

[5] Vgl. Kluke, Paul, Nationalsozialistische Europaideologie, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 3 (1955), S. 240–275; Neulen, Hans Werner, Europa und das 3. Reich. Einigungsbestrebungen im deutschen Machtbereich 1939–45, München 1987, hier S. 22ff.; Christoph Kühberger, Europa als „Strahlenbündel nationaler Kräfte“. Zur Konzeption und Legitimation einer europäischen Zusammenarbeit auf der Gründungsfeierlichkeit des „Europäischen Jugendverbandes“ 1942, in: Journal of European Integration History 15/2 (2009), S. 11–28.

[6] So Buddrus, Totale Erziehung, S. 787; kursiv im Original.

[7] „Das ist Deutschlands Jugend“. Monatlicher Nachrichtendienst des Auslandsamts der Reichsjugendführung 7–8 (15.8.1940).

[8] So Saz Campos, Ismael, Discursos y proyectos españoles sobre el nuevo orden europeo, in: Vilanova, Francesc; Ysàs, Pere (Hgg.), Europa 1939. El año de las catástrofes, València 2010, S. 129–145. Zu Imperio und Revolution in der Falange, s. ders., España contra España. Los nacionalismos franquistas, Madrid 2003, Kap. 3.

[9] Vgl. die Zeitung España, 14.9.1940. „Europarausch“, bei Neulen, Europa und das 3. Reich, S. 25.

[10] Die offizielle Abgabe der Neutralität, in: ABC sowie Arriba, 13.6.1940. Zu Spaniens Rolle im Zweiten Weltkrieg, siehe u.v.a. Pike, David Wingeate, Franco and the Axis Stigma, in: Journal of Contemporary History 17/3 (1982), S. 369–407; Tusell, Javier, Franco, España y la II Guerra Mundial. Entre el Eje y la neutralidad, Madrid 1995; sowie Preston, Paul, The Politics of Revenge. Fascism and the military in 20th century Spain, London 1995 [1990], S. 49–81.

[11] Vgl. jeweils Il Corriere della Sera, 9.10.1940 und La Vanguardia Española (LVE), 22.2.1941.

[12] Vgl. je Buddrus, Totale Erziehung, S. 787; Kühberger, Europa als „Strahlenbündel nationaler Kräfte“, S. 21f.

[13] So der Leitartikel von LVE, 2.9.1941.

[14] Völkischer Beobachter (VB), 30.8.1941.

[15] Das Deutsche Mädel. Die Zeitschrift des Bund Deutscher Mädel in der HJ (DDM), Oktoberheft 1941.

[16] LVE, 3.9.1941.

[17] Wille und Macht. Der Führerorgan der Reichsjugendführung, Januarheft 1942.

[18] Parteizeitung Arriba, 16.6.1942.

[19] Deutsche Allgemeine Zeitung, 20.6.1942.

[20] Vgl. Y. Revista para la mujer (Y), jeweils Oktoberheft 1941 und Augustheft 1942.

[21] Beide LVE, 15.9.1942.

[22] Wille und Macht, Oktober 1942; VB, 16.9.1942 und DDM, Oktoberheft 1942.

[23] LVE, 15.9.1942.

[24] ABC, 19.9.1942. Dazu siehe auch Jutta Rüdiger, Ein Leben für die Jugend. Mädelführerin im Dritten Reich, Preußisch Oldendorf 1999, S. 115, sowie Artur Axmann, “Das kann doch nicht das Ende sein”. Hitlerjugend. Erinnerungen des letzten Reichsjugendführers, Koblenz 1993, S. 309.

[25] Vgl. je VB, 21.9.1942 und Y, Novemberheft 1942. Im selben Interview referierte sie von der im Arbeitsausschuss herrschenden “vollkommenen Einmütigkeit”; einen sehr ähnlichen Ausdruck („in aller Harmonie“) benutzte Rüdiger diesbezüglich nahezu 60 Jahre später; vgl. Rüdiger, Ein Leben, S. 115.

[26] Vgl. LVE, 19.9.1942 und 10.12.1942, sowie Buddrus, Totale Erziehung, S. 793f. Beide nachträgliche Zitate, aus Axmann, „Das kann doch nicht das Ende sein“, je S. 303 und 310.

[27] Vgl. Mitteilung der deutschen Botschaft in Madrid an das spanische Außenministerium, 22.7.1943, in: Archivo General del Ministerio de Asuntos Exteriores (Hauptarchiv des spanischen Außenministeriums, Madrid), Bestand R-1724/58.



Literaturhinweise

  • Buddrus, Michael, Die HJ und das Ausland, in: ders., Totale Erziehung für den totalen Krieg. Hitlerjugend und nationalsozialistische Jugendpolitik, München 2003, S. 742–852.
  • Kühberger, Christoph, Europa als „Strahlenbündel nationaler Kräfte“. Zur Konzeption und Legitimation einer europäischen Zusammenarbeit auf der Gründungsfeierlichkeit des „Europäischen Jugendverbandes“ 1942, in: Journal of European Integration History 15/2 (2009), S. 11–28.
  • Neulen, Hans Werner, Europa und das 3. Reich. Einigungsbestrebungen im deutschen Machtbereich 1939–45, München 1987.
  • Reulecke, Jürgen, „Baldurs Kinderfest“ oder: Die Gründung des Europäischen Jugendverbandes in Wien am 14.09.1942, in: Jelich, Franz-Josef; Goch, Stefan (Hgg.), Geschichte als Last und Chance. Festschrift für Bernd Faulenbach, Essen 2003, S. 315–323.
  • Saz Campos, Ismael, Discursos y proyectos españoles sobre el nuevo orden europeo, in: Vilanova i Vila-Abadal, Francesc; Ysàs i Solades, Pere (Hgg.), Europa 1939.

„Gruendungstagung des Europaeischen Jugendverbandes Wien 1942” (September 1942)[1]

Detailausschnitt der Postkarte, Europabaum




[1] Anonyme(r) Autor/Autorin. Die Postkarte befindet sich im Privatbesitz von Toni Morant i Ariño.


Für das Themenportal verfasst von

toni Morant i Ariño

( 2012 )
Zitation
toni Morant i Ariño, Die Gründung des "Europäischen Jugendverbands" und die Frauen- und Jugendorganisation der Falange (Wien, September 1942), in: Themenportal Europäische Geschichte, 2012, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1574>.
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