Das Land der Eselställe? Das populäre Italienbild in der Bundesrepublik[1]
Von Roberto Sala
Die gegenseitige Wahrnehmung Italiens und Deutschlands ist ein immer wiederkehrendes Thema für Historikerinnen und Historiker, die sich den deutsch-italienischen Beziehungen oder – je nach Standpunkt des Beobachters – der Geschichte des jeweils anderen Landes widmen.[2] Als Forschungsobjekt ermöglichen es „Bilder“, die Mechanismen nationaler Diskurse zu entlarven und somit das Verhältnis zwischen zwei Staaten bzw. deren Bevölkerungen zu beleuchten. Ihre Untersuchung birgt jedoch gravierende theoretische und methodische Schwierigkeiten, wenn auch einschlägige Studien diese weitgehend verkannt haben.[3] Der vorliegende Beitrag bezieht sich auf eine Leerstelle in den Untersuchungen über das deutsche Italienbild, auf „populäre“ Betrachtungsweisen.[4] Die Argumentation fokussiert auf die Nachkriegszeit und stellt auf der Grundlage eines im Jahr 1980 von einem in Deutschland tätigen italienischen Journalisten erhaltenen Briefes einige Arbeitshypothesen über die Wahrnehmung Italiens durch nicht-elitäre deutsche Milieus auf.
Das in der Geschichtsschreibung thematisierte Italienbild[5] steht unausweichlich mit dem einflussreichen Topos der Italiensehnsucht, der Generationen deutscher Schriftsteller bis in die Gegenwart inspiriert hat[6], im Zusammenhang. Historische Untersuchungen gehen jedoch über spezifisch literarische Wahrnehmungsformen hinaus und zeichnen sich dabei durch zwei Schwerpunkte aus. Zum einen haben das 18. und 19. Jahrhundert – also das ausgehende vornationale Zeitalter sowie die Phase des nation building – besondere Berücksichtigung gefunden[7], zum anderen erscheinen gesellschaftliche und insbesondere politische Eliten als Hauptträger jenes Bildes.[8]
Christof Dipper hat jüngst nochmals betont, dass das deutsche Italienbild in der Bundesrepublik langfristige, bis in das 18. Jahrhundert reichende Kontinuitätslinien aufweise. Im Laufe der Moderne habe sich das deutsche Italienbild in zwei alternativen Topoi kristallisiert, wonach das Land entweder als positives Modell oder im Gegensatz dazu als Inbegriff von Dekadenz gelten kann.[9] Das Verhältnis zwischen Deutschland und Italien werde von der deutschen Öffentlichkeit im Rahmen eines bipolaren Schemas – Parallelität versus Alterität – gedeutet, wobei die eine oder die andere Fassung des Topos je nach der politischen Lage zum Einsatz komme. Folglich sei das deutsche Italienbild auch für die zweite Hälfte des 20. Jahrhundert durch eine Art beständige Unbeständigkeit zu charakterisieren.[10] Aus Dippers Perspektive erklärt diese „Anpassungsfähigkeit des Topos ‚Italien‘ […] seine anhaltende Präsenz; er ist jederzeit abrufbar“.[11] Diese Diagnose trifft zentrale Faktoren, die das Bild Italiens innerhalb deutscher Eliten nach 1945 geprägt haben.[12] Blickt man jedoch auf die Wahrnehmung des Landes über spezifische Milieus hinaus, stellt sich die Frage, wie Italien durch die westdeutsche Massenöffentlichkeit betrachtet wurde bzw. ob die ausgeprägte Bipolarität von negativen und positiven Zuschreibungen einem geeigneten Deutungsmuster für das „populäre“ Italienbild entspricht.
Die jüngste Untersuchung Till Mannings über den westdeutschen Massentourismus in Italien in den 1950er- und 1960er-Jahren bietet eine erste Möglichkeit, sich diesem Thema zu nähern.[13] Der Autor bringt die Entstehung einer „Italiengeneration“ in Zusammenhang mit den diskursiven und strukturellen Veränderungsschüben, die durch die Ausbreitung der Konsumgesellschaft in der Bundesrepublik ausgelöst wurden. Dank der neuen Formen und Dimensionen des Tourismus seien breite Bevölkerungsschichten in den Genuss des bis dato bürgerlichen Eliten vorbehaltenen Privilegs der Italienreise gekommen, wobei alte Topoi und neue Klischees ineinandergeflossen seien. In diesem Zusammenhang betont Manning, dass die touristische Erfahrung ein „Konsumversprechen“ darstellte, das teilweise (noch) nicht direkt beteiligten Individuen und sozialen Gruppen zugänglich war: Durch die mediale Übernahme von Erzeugnissen der italienischen Populärkultur wie Filmen und Schlagern und die massive Ausbreitung der italienischen Gastronomie habe sich das „Italienische“ in immer mehr Formen erproben lassen.
Zu deutlich anderen Ergebnissen kommt die Analyse, die Italo Michele Battafarano zur Wahrnehmung Italiens durch die (west-)deutsche Presse zwischen Mitte der 1970er-Jahre und dem frühen 21. Jahrhundert vorgelegt hat.[14] Der Germanist blendet „positive Vorurteile“ à la dolce vita nicht aus, vermittelt jedoch den Eindruck, dass das von deutschen Zeitungen und Zeitschriften übermittelte Italienbild sich vor allem durch pejorative Stereotypen ausgezeichnet habe. Diese Tendenz macht er nicht nur für die „Berlusconi-Ära“, in welcher der Populismus und dubiöse Praktiken des italienischen Medientycoons den internationalen Ruf des Landes massiv schädigten, sondern auch für die Jahrzehnte davor aus. Zwar berücksichtigt Baffarano die Folgen der krisenhaften Entwicklung der italienischen Politik seit Anfang der 1990er-Jahre ausführlich, aber implizit suggeriert er die weitgehende Stabilität negativ konnotierter Deutungsmuster. Unter anderem hebt er die besondere Aufmerksamkeit der deutschen Öffentlichkeit für die „typischen italienischen“ Phänomene der Korruption, einer chaotischen Lebensführung sowie der organisierten Kriminalität hervor.
Die Befunde von Till Manning und Italo Michele Battafarano verweisen bei allen Unterschieden auf die Koexistenz klarer negativer und positiver Zuschreibungen und deuten auf ein bipolar gelagertes Italienbild hin. Dennoch stellt sich die Frage, ob sich die These der Bipolarität in ein umfassendes Deutungsmuster einfügen lässt, das einerseits die diachronische Entwicklung nach 1945 und andererseits die Komplexität und Widersprüche, die den Blick der (west-)deutschen Öffentlichkeit auf Italien ausmachten, berücksichtigt.
Einige Überlegungen lassen sich anhand eines an Giacomo Maturi adressierten Briefes von Juli 1980 formulieren. Als in der Bundesrepublik tätiger italienischer Publizist hatte Maturi einige Tage vor dem Erhalt des Briefes die „Kronzucker-Entführung“ in der Bild-Zeitung kommentiert: Die zwei Töchter sowie der Neffe des bekannten Fernsehjournalisten Dieter Kronzucker waren im Sommer jenes Jahres in der Toskana entführt und wochenlang gefangen gehalten worden. Maturi verurteilte dieses Verbrechen mit harten Worten, warnte aber davor, die italienische Bevölkerung dafür pauschal schuldig zu sprechen. Offenbar hatte der Vorfall in der deutschen Öffentlichkeit eine Welle „antiitalienischer“ Ressentiments ausgelöst. Der italienische Publizist erhielt das hier zu erörternde Schreiben von einem Leser, der sich über seinen Artikel empört zeigte und weit über den Entführungsfall hinaus seinen ganzen Unmut über Italien äußerte. Der Brief bietet somit einen Einblick in die negativ konnotierte Version des „Italienbildes“, das nach 1945 über mehrere Jahrzehnte in weiten Teilen der westdeutschen Bevölkerung verbreitet gewesen sein dürfte.
Der Brief zeichnet sich durch scharfe xenophobe Töne aus. Italien und die Italiener erscheinen als „Gangsterland“ und „Mistvolk“. Aufschlussreich sind jedoch nicht die ausländerfeindlichen Übertreibungen, sondern die Gründe, die für die radikale Ablehnung des südeuropäischen Landes angeführt werden. Es lohnt sich mit einer der abschließenden Bemerkungen des Schreibens zu beginnen, da diese auf eine meist verborgene Seite der Wahrnehmung Italiens nach 1945 hinweist.
Der Verfasser bezieht sich auf den doppelten „Verrat“ Italiens im Ersten und Zweiten Weltkrieg zu Lasten der deutschen Verbündeten und betont, dass im letzteren Fall „doch Mussolinie [sic!], der aus Ihrem Lande kam, der Urheber des ganzen Unglücks gewesen“ sei. Das Verratsmotiv, das Gian Enrico Rusconi im Hinblick auf politische Eliten in Zusammenhang mit dem Stereotyp der italienischen Unzuverlässigkeit bringt[15], dürfte bei ehemaligen Wehrmachtsangehörigen bzw. ihren Familien weit verbreitet gewesen sein und somit einen erheblichen Teil der Bevölkerung betroffen haben.
An dieser Stelle ist es hilfreich, das Schicksal der italienischen Kriegsgefangenen im „Dritten Reich“, die sogenannten Italienischen Militärinternierten (IMI)[16], in Erinnerung zu rufen. Nach dem Waffenstillstand Italiens mit den Alliierten am 8. September 1943 wurden über eine halbe Million italienische Soldaten entwaffnet und nach Deutschland deportiert. Obwohl die Extreme, die im Rahmen der nationalsozialistischen Rassenideologie zum Tod von Millionen sowjetischer Kriegsgefangenen führten, nicht erreicht wurden, zeichnete sich die Behandlung der IMI durch besondere Härte aus: Dadurch wollten die deutschen Behörden Vergeltung für den italienischen „Verrat“ üben und zugleich propagandistische Zielen gegenüber der deutschen Bevölkerung verfolgen.[17]
Trotz der tragischen Umstände sind jene Erfahrungen nach 1945 sowohl in Deutschland als auch in Italien von öffentlichen Debatten weitgehend ausgeschlossen worden. Die Verdrängung der Deportation und Gefangenschaft der italienischen Soldaten aus einer gemeinsamen Erinnerungskultur dürfte vor allem auf die politische Notwendigkeit beider Staaten zurückgegangen sein, im Kontext der europäischen Integration Verstimmungen zu vermeiden. Doch überlebte das Andenken an das Schicksal der „Militärinternierten“ im privaten Gedächtnis der zahlreichen betroffenen Familien. Diese Erinnerungen und das damit zusammenhängende antideutsche Ressentiment, das auch in der von Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung geprägten Besatzung Mittel- und Norditaliens einen fruchtbaren Nährboden fand[18], gingen in den durch Politik und Massenmedien getragenen öffentlichen Diskurs nicht ein. Sie wurden jedoch von einer unsichtbaren Öffentlichkeit über Jahrzehnte aufrechterhalten.[19] Analog lässt sich annehmen, dass die Rede vom italienischen „Verrat“ in deutschen Hinterzimmern ebenfalls überliefert wurde. Die durch die Kriegsereignisse hervorgerufene Feindseligkeit gegenüber den Italienern durfte zwar in Politik und Medien nicht zum Ausdruck kommen, prägte jedoch über mindestens eine Generation die Wahrnehmung Italiens durch breite Teile der Bevölkerung. Der im Brief enthaltene Verweis auf Mussolini als „Urheber des ganzen Unglücks“ suggeriert im Hinblick auf dessen eklatante Diskrepanz zum historischen Geschehen, dass von der Geschichtswissenschaft unbeachtete populäre Narrative die Schuld Italiens über den Treubruch hinaus noch vergrößerten.
Diese von Kriegserinnerungen geprägte Verachtung stellt jedoch nur einen Aspekt des Schreibens dar. Besondere Aufmerksamkeit schenkt der Brief den ausgeprägten kriminellen Tendenzen, die dem „ganzen italienischen Volk“ zuzuordnen seien. Mit beinahe lyrischem Pathos zählt der Verfasser die alltäglichen Verbrechen der Italiener auf, die unter anderem am Brenner Lastwagen aus Deutschland auflauern würden. Hier baut er eine Brücke zum Tourismus in Italien: Hoffentlich werde der Entführungsfall endlich die Augen der Millionen deutschen Touristen öffnen und sie dazu verleiten, das Land zu meiden – „wie wir es, etwa 15 Familien im Umkreis, schon seit vielen Jahren halten“. Mutmaßlich folgte der Bild-Leser an dieser Stelle nicht lediglich seinem persönlichen Ressentiment, sondern brachte Argumente zum Ausdruck, die in weiteren Kreisen verwurzelt waren.
Der Beziehung Tourismus-Kriminalität widmete Der Spiegel Ende der 1970er-Jahre die Titelseite „Urlaubsland Italien. Entführung, Erpressung, Straßenraub“, auf der ein Teller Spaghetti mit einer Pistole zu sehen war.[20] Die Titelgeschichte begann mit den Worten „Motorisierte Straßenräuber entreißen Touristen die Taschen; brutale Gangster schießen ihren Opfern in die Beine; die ‚Entführungsindustrie‘ erbeutete seit 1973 über 200 Menschen; Terror und Streik in den Städten – so stellt sich Bella Italia ‘77 dar“. Das Nachrichtenmagazin fügte also Straßenkriminalität, Linksterrorismus, Gewerkschaftskämpfe und die auf sardische Gruppierungen zurückgehende (im Kontext der separatistischen Bestrebungen der Insel häufig politisch motivierte) Entführungen in einen gemeinsamen Rahmen und zeichnete das Bild eines unsicheren, gefährlichen Landes. Unter anderem hob der Artikel die überhöhte Anzahl von Autodiebstählen hervor, einen in jener Zeit anscheinend wirkungsmächtigen Topos. Im Hinblick auf diese heterogenen Zuschreibungen, welche den desolaten Zustand Italiens belegen sollten, lässt sich eine plakative Hypothese aufstellen: Die Aufmerksamkeit für die vermeintlich katastrophalen Verhältnisse des Landes hing nicht wesentlich mit Erfahrungen, die tatsächlich den Alltag deutscher Touristen trübten, zusammen. Vielmehr dürfte sie eine komplexe, nur scheinbar widersprüchliche Folge der „Italomanie“ verkörpert haben. Der Italientourismus stellte eine für die Massen zugängliche Form der konsumorientierten Erfüllung dar und war zugleich ein Zeichen dafür, dass die Entbehrungen und Tristesse des Krieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit überwunden waren. Insofern war er mit einer hohen normativen und emotionalen Aufladung versehen, die über die hedonistischen Sehnsüchte der Konsumgesellschaft hinausgingen. In diesem Rahmen lösten einerseits Gefährdungen jenes mythisierten Ortes latente Ängste und insofern Entrüstung aus, während anderseits das übertrieben positiv konnotierte Bild des Zufluchtsortes Italien leicht in sein Gegenteil umkippen konnte.
Dies war umso mehr der Fall, wenn andere diskursive Elemente in die Wahrnehmung des Landes einflossen, wie der Brief an Giacomo Maturi eindeutig zeigt. Nach den Klagen über die alltäglichen Verbrechen in Italien fordert der Verfasser Maturi und seine Landsleute auf, die Bundesrepublik zu verlassen. Er bezieht sich auf die italienischen „Gastarbeiter“, die faul und kriminell seien und in Deutschland nur zwielichtige Geschäfte treiben würden. In den 1960er- und 1970er-Jahren verkörperten die Italiener den Inbegriff der rückständigen „Südländer“ und waren – zumindest in der Hochphase der Massenmigration – noch mehr als Türken xenophoben Ressentiments ausgesetzt.[21]
Im Brief steht die Verachtung gegenüber den italienischen Migranten im expliziten Zusammenhang mit der Armut Italiens: Die Italiener würden Deutschland nie freiwillig verlassen, weil dort für sie „Milch und Honig“ fließen würden, während sie in ihren Herkunftsorten in „Eselställen“ leben müssten. Die wirtschaftliche Rückständigkeit Italiens, die von der Anwesenheit der „Gastarbeiter“ bezeugt werde, schließt gewissermaßen den argumentativen Kreis des Schreibens ab. Die italienische Bevölkerung sei arm, kriminell und treulos.
Das eindeutig negativ konnotierte Bild Italiens, das der Verfasser des Briefes zum Ausdruck bringt, entsprach nicht den ausländerfeindlichen Prahlereien eines Einzelnen, sondern speiste sich aus Elementen, die im öffentlichen Diskurs vorhanden waren. Vor diesem Hintergrund können deshalb einige Arbeitshypothesen über den Wandel des „populären“ Italienbildes in der Bundesrepublik formuliert werden. Die zentrale Annahme lautet, dass ausgeprägt negative und positive Zuschreibungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stets koexistierten, dass es aber im Laufe der Zeit zu einer bedeutsamen Verschiebung ins Positive kam. Das negative Italienbild des Lesers der Bild-Zeitung kann gewissermaßen als Folie benutzt werden, um ex negativo positive Konnotationen zu identifizieren.
Blicken wir zunächst auf den Schatten des Zweiten Weltkriegs. Während der ersten Jahrzehnte der Nachkriegszeit blieb der italienische „Verrat“ in den Erinnerungen vieler (west-)deutscher Bürger, konnte aber mittel- und langfristig nicht zu einem stabilen lieu de mémoire avancieren, weil hierfür die Voraussetzungen im politischen und medialen Diskurs fehlten. Es ist anzunehmen, dass kriegsbedingte antiitalienische Ressentiments bei Angehörigen von Geburtsjahrgängen während und nach dem Wirtschaftswunder kaum eine Rolle spielte, zumal die guten Beziehungen zwischen beiden Ländern keinen Anlass zur politischen Instrumentalisierung der Kriegsereignisse gaben.[22]
In Bezug auf den Massentourismus in Italien, der den Ausgangspunkt xenophober Parolen des Briefes konstituiert, lässt sich hingegen anmerken, dass sich die hedonistische Wahrnehmung des Landes zwischen den 1950er- und 1990er-- Jahren allmählich pluralisierte und vom Ritual der Urlaubsreise löste. In der Bundesrepublik bildeten die auf das „Italienische“ bezogenen Konsumangebote bald nicht lediglich eine Verlängerung der touristischen Erfahrung – wie von Till Manning hervorgehoben –, sondern einen eigenständigen, massiv wachsenden Bereich. Die italienische Gastronomie in der Bundesrepublik war zur Zeit des Wirtschaftswunders verbreitet, begann aber ihren eigentlichen Siegeszug erst Mitte der 1970er-Jahre[23], als die westdeutsche Bevölkerung bereits begonnen hatte, ihre Reiseziele zu differenzieren. Die italienische, aber auch deutsche und internationale Lebensmittelindustrie machte „Italien“ darüber hinaus zu einem brand, das im Rahmen gezielter Werbestrategien und Produktionsformen – man denke an die Erfindung der Tiefkühlpizza durch Dr. Oetker oder an „Spaghetti-Miracoli“ von Kraft – eingesetzt wurde.[24] Zu analogen Entwicklungen kam es in weiteren Bereichen, wie etwa der Kleidungs- aber auch der Möbelindustrie. Der „italienische Lebensstil“ wurde zum Inbegriff für Genuss- und Luxusgüter – ein Phänomen, das weit über Deutschland hinaus ging und besonders stark im angelsächsischen Raum zu beobachten war. Romantisierende Betrachtungsweisen Italiens gewannen zusätzlich an Kraft, indem populäre Kulturerzeugnisse vom Mythos des dolce vita beständig Gebrauch machten, in Frauenzeitschriften, Belletristik oder Filmen. Die vielschichtige, kommerziell betriebene Trivialisierung der Italiensehnsucht erklärt die nachhaltige diskursive Anziehungskraft der Marke Italien. Obwohl an der Schwelle der 1970er- zu den 1980er-Jahren Spanien als erstes Reiseziel deutscher Touristen Italien ablöste, lässt sich kein vergleichbarer „Spaniendiskurs“ ausmachen.[25]
Dass der Tourismus zugunsten anderer Formen der „Italomanie“ zunehmend an Bedeutung einbüßte, dürfte zu den Gründen gehören, aus denen auch die Aufmerksamkeit für die Kriminalität in Italien seit den 1980er-Jahren verblasste – mit Ausnahme vielleicht der Mafia, die jedoch eher wegen ihres medial geformten „romantischen“ Charakters Interesse weckte. Indem das „Italienische“ in der Bundesrepublik allgegenwärtig wurde, wurde auf diskursiver Ebene weniger relevant, was in Italien passierte.
Im Hintergrund stand jedoch eine andere, häufig vernachlässigte Entwicklung, die das populäre Italienbild beeinflusste: Zwischen den 1970er- und 1980er-Jahren verbesserte sich der internationale Ruf Italiens im beträchtlichem Maße, vor allem weil das Land seine Stellung als Teil des „wohlhabenden Westen“ verfestigte. Bereits nach dem Koreakrieg führte die massive Expansion der Industrieproduktion in der Lombardei, in Piemont und Ligurien zu einem „Wirtschaftswunder“, das Italien in eine der führenden Industrienationen – es gehörte 1976 zu den Gründungsmitgliedern des G7 – verwandelte.[26] Die ausgeprägt exportorientierte italienische Wirtschaft zeigte sich auch nach der Ölkrise leistungsfähig, da der Produktionseinbruch von Großbetrieben, der insbesondere die Schwerindustrie traf, durch die rasche Ausbreitung von Klein- und Mittelunternehmen ausgeglichen wurde. Diese fassten in diversen Gebieten Nord- und Mittelitaliens Fuß, zeichneten sich durch effiziente Vernetzung auf lokaler und regionaler Ebene aus und konnten dank hoher Spezialisierung und Anpassungsfähigkeit bedeutsame Positionen auf den Weltmärkten erreichen.[27]
Trotz der wirtschaftlichen Erfolge lebte das Bild von Italien als einem armen Land lange fort. Hierzu trug nicht zuletzt die anhaltende Rückständigkeit der südlichen Regionen und der zwei großen Inseln bei. Obwohl das industrielle Leistungspotential nie in den Vordergrund öffentlicher Diskurse trat und von hedonistischen Wahrnehmungsmustern überschattet wurde, setzte sich jedoch mittel- und langfristig das Image Italiens als wirtschaftlich wohlhabendes „westeuropäisches“ Land latent durch. Maßgeblich war auch der europäische Integrationsprozess, der für Italien sowie andere südeuropäische Länder wesentliche diskursive und strukturelle Folgen mit sich brachte. Erst die „Schulden-“ bzw. „Eurokrise“ seit 2010 hat gezeigt, dass jene Staaten im Vergleich zu anderen europäischen Partnern nicht in der Lage gewesen sind, erhebliche Strukturdefizite zu lösen, eine Entwicklung, die zum Wiederaufleben alter Stereotypen führt.
Eine letzte Komponente des populären Italienbildes in der Bundesrepublik betrifft die Wahrnehmung italienischer Migranten und Migrantinnen. Standen die italienischen Einwanderer während der „Gastarbeiterära“ noch im Mittelpunkt xenophober Stigmatisierung, gelten sie spätestens seit den 1990er-Jahren im medialen und politischen Diskurs als perfekt integriert, als die guten Ausländer, und sind somit das Gegenstück zu den Türken, deren vermeintliche mangelnde Integrationsfähigkeit immer wieder zum sozialen Problemfall erklärt wird. Dass Menschen aus Familien ehemaliger italienischer Arbeitsmigranten weiterhin unter erheblichen sozialen Schwierigkeiten – wie insbesondere im Bildungsbereich – leiden, wird völlig ausgeblendet. Das „positive Vorurteil“ gegenüber in Deutschland lebenden Personen italienischer Herkunft geht dabei vor allem auf die allgemeine Verbesserung des deutschen Italienbildes zurück.[28] Einen besonderen Einfluss übten hierbei die italienischen Gastronomen aus. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft stellt sich häufig vor, die Italiener seien von Fließbandarbeitern zu Restaurantbesitzern aufgestiegen und somit zu Gewinnern geworden. Allerdings entstammen die meisten italienischen Inhaber von Gaststätten und Eisdielen nicht dem „Gastarbeitermilieu“, sondern sind als Kleinunternehmer ins Land gekommen.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts prägen nach wie vor auch negative Wahrnehmungsmuster das populäre deutsche Italienbild, wobei die langjährige Präsenz Silvio Berlusconis auf der politischen Bühne alte und neue Stereotype massiv gefördert hat. Solche pejorativen Betrachtungsweisen werden nicht zuletzt durch negative Deutschlandlandbilder innerhalb der italienischen Bevölkerung bekräftigt, da der seit der Nationalstaatsgründung sich wiederholt verschärfende Antagonismus zwischen beiden Ländern zur polarisierenden Interdependenz nationaler Diskurse beigetragen hat: Dem Bild des korrupten und unzuverlässigen Italiens steht dasjenige des arroganten und bedrohlichen Deutschlands entgegen.[29] Nichtsdestotrotz ist nicht zu verkennen, dass in der Bundesrepublik diskursive Positionen, die eine grundsätzliche Ablehnung Italiens implizierten, zwischen der unmittelbaren Nachkriegszeit und der Jahrtausendwende weitgehend überwunden wurden. Obwohl die auf der Grundlage des Briefes an Giacomo Maturi formulierten Thesen zwangsläufig skizzenhaft und als Anregung für weitere Untersuchungen zu betrachten sind, lässt sich also bestätigen, dass Dippers Argument der Bipolarität des deutschen Italienbildes im Hinblick auf die breitere bundesrepublikanische Bevölkerung nur gültig ist, wenn dessen dynamischer Wandel in Richtung „positiver“ Zuschreibungen berücksichtigt wird.
[1] Essay zur Quelle: Kommentar des italienisches Publizisten Giacomo Maturi und Leserbrief zur „Kronzucker-Entführung“, Bild-Zeitung (28.7.1980).
[2] Siehe beispielsweise Petersen, Jens, Italienbilder – Deutschlandbilder. Gesammelte Aufsätze, Köln 1999.
[3] Dies betrifft im Allgemeinen die im Folgenden zitierten einschlägigen historischen Untersuchungen.
[4] Eine fundierte Auseinandersetzung der analytischen Implikationen von auf nationalen Diskursen aufbauenden Wahrnehmungsmustern würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen. Für einige Überlegungen am Beispiel der Einwanderung in die Bundesrepublik siehe Sala, Roberto; Wöhrle, Patrick, Fremdheitszuschreibungen in der Einwanderungsgesellschaft zwischen Stereotypie und Beweglichkeit, in: Janz, Oliver; Sala, Roberto (Hgg.), Dolce Vita? Das Bild der italienischen Migranten in Deutschland, Frankfurt am Main 2011, S. 18–36.
[5] Vgl. Locher, Alexandra; Nydegger, Jolanda; Bellofatto, Sabina (Hgg.), Bilder und Zerrbilder Italiens, Zürich u.a. 2010.
[6] Oswald, Stefan, Italienbilder. Beiträge zur Wandlung der deutschen Italienauffassung 1770–1840, Heidelberg 1985; Hausmann, Frank-Rutger (Hg.), „Italien in Germanien“. Deutsche Italien-Rezeption von 1750–1850, Tübingen 1996; Scharpen, Antje von, Im Spiegel des anderen. Italien und die Italiener in der deutschen und Deutschland und die Deutschen in der italienischen Literatur seit 1945, Berlin 1999.
[7] Vgl. Ara, Angelo; Lill, Rudolf (Hgg.), Immagini a confronto. Italia e Germania dal 1830 all’unificazione nazionale. Deutsche Italienbilder und italienische Deutschlandbilder in der Zeit der nationalen Bewegungen (1830–1870), Bologna u.a. 1991; Altgeld, Wolfgang, Das politische Italienbild der Deutschen zwischen Aufklärung und europäischer Revolution von 1848, Tübingen 1984; Heitmann, Klaus; Scamardi, Teodoro (Hgg.), Deutsches Italienbild und italienisches Deutschlandbild im 18. Jahrhundert, Tübingen 1993; Esch, Arnold; Petersen, Jens (Hgg.), Deutsches Ottocento. Die deutsche Wahrnehmung Italiens im Risorgimento, Tübingen 2000.
[8] Vgl. Brüting, Richard; La Salvia, Adrian, Italien-Ansichten. Italien in Selbst- und Fremdwahrnehmung. Immaginario dell’Italia in patria e all’estero, Frankfurt am Main 2005; Rusconi, Gian Enrico, Deutschland-Italien, Italien-Deutschland. Geschichte einer schwierigen Beziehung von Bismarck bis zu Berlusconi, Paderborn 2006.
[9] Dipper, Christof, Traditionen des Italienbildes in Deutschland, in Janz; Sala (Hgg.), Dolce Vita?, S. 39–61. Vgl. das Nachwort zur deutschen Ausgabe von Corni, Gustavo; Dipper, Christof (Hgg.), Italiener in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Kontakte, Wahrnehmungen, Einflüsse, Berlin 2012. Als Beispiel für auf negative Zuschreibungen fokussierende Deutungsmuster siehe Elisabetta Moneta, Deutsche und Italiener. Der Einfluß von Stereotypen auf interkulturelle Kommunikation. Deutsche und italienische Selbst- und Fremdbilder und ihre Wirkung auf die Wahrnehmung von Italienern in Deutschland, Frankfurt am Main 2000.
[10] Dipper, Traditionen des Italienbildes, S. 59–61.
[11] Ebd., S. 61. Die Aktualität des bipolaren Italienbildes wird indirekt von den jüngsten Debatten über die deutsch-italienischen Beziehungen bestätigt. Siehe Rusconi, Gian Enrico; Schlemmer, Thomas; Woller, Hans, Schleichende Entfremdung? Deutschland und Italien nach dem Fall der Mauer, München 2009.
[12] Hierzu vgl. Petersen, Jens, Das deutschsprachige Italienbild nach 1945, in: ders., Italienbilder – Deutschlandbilder, S. 288–318 (zunächst erschienen in: Quellen und Forschung aus italienischen Archiven und Bibliotheken 76 (1996), S. 455–495.
[13] Manning, Till, Die Italiengeneration. Stilbildung durch Massentourismus in den 1950er und 1960er Jahren, Göttingen 2011.
[14] Battafarano, Michele, Pregiudizi e intuizioni italo-tedesche. Trent'anni di vita italiana nella stampa tedesca (1976–2006), Sassari 2007. Im Hinblick auf das Italienbild in deutschen Medien ist auch auf die Studie von Wolfgang Pütz hinzuweisen, die sich jedoch durch analytische Schwäche sowie eine Fokussierung auf selbstreferentielle medientheoretische Fragestellungen auszeichnet: Pütz, Wolfgang, Das Italienbild in der deutschen Presse. Eine Untersuchung ausgewählter Tageszeitungen, München 1993.
[15] Rusconi, Gian Enrico, Deutschland-Italien, Italien-Deutschland.
[16] Durch diese Bezeichnung sollte vor allem verhindert werden, Mussolinis Marionettenregime in Norditalien zu schwächen. Hammermann, Gabriele, Zwangsarbeit für den „Verbündeten“. Die Arbeits- und Lebensbedingungen der italienischen Militärinternierten in Deutschland 1943–1945, Tübingen 2002, S. 59–73.
[17] Ebd., S. 73ff. Vgl. Schreiber, Gerhard, Die italienischen Militärinternierten im deutschen Machtbereich, 1943 bis 1945. Verraten – Verachtet – Vergessen, München 1990.
[18] Vgl. Schreiber, Gerhard, Deutsche Kriegsverbrechen in Italien. Täter – Opfer – Strafverfolgung, München 1996.
[19] In diesem Zusammenhang kam es auch zu einer durch das Massenpublikum nicht rezipierten, aber lebendigen Memorialistik. Vgl. Poggio, Pier Paolo, Gli Internati Militari Italiani tra storia e memorialistica, Brescia 2007.
[20] Der Spiegel, Nr. 31, 25.7.1977.
[21] Vgl. Sala, Roberto, Die Nation in der Fremde. Zuwanderer in der Bundesrepublik Deutschland und nationale Herkunft aus Italien, in: IMIS-Beiträge 29 (2006), S. 99–122.
[22] Man darf nicht ausblenden, dass brutale Kriegshandlungen durch die Wehrmacht zweifelsohne Eingang in die italienische Erinnerungskultur gefunden haben, wie beispielsweise die Tötung von Tausenden italienischen Soldaten, die sich nach dem Waffenstillstand Italiens mit den Alliierten auf der griechischen Insel Kefalonia ergeben hatten. Vgl. Rochat, Giorgio (Hg.), La divisione Aqui a Cefalonia: settembre 1943, Mailand 1993. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts traten Berichte über die „Italienischen Militärinternierten“ in der italienischen Presse verstärkt auf, denen die deutschen Behörden Entschädigungszahlungen für ehemalige Zwangsarbeiter verweigert haben. Jedoch handelt es sich um Erinnerungsbestände, die das Verhältnis zwischen beiden Ländern nie dominiert haben und bezeichnenderweise häufig erst nach diversen Jahrzehnten ans Licht gekommen sind.
[23] Bernhard, Patrick, „Dolce Vita“, „Made in Italy“ und Globalisierung, in Janz; Sala (Hgg.), Dolce Vita?, S. 62–81, hier S. 71f.
[24] Ebd., S. 76.
[25] Vgl. Badisches Landesmuseum (Hg.), ¡Viva España! Von der Alhambra bis zum Ballermann. Deutsche Reisen nach Spanien, Karlsruhe 2007.
[26] Zur italienischen Wirtschaftsgeschichte nach 1945 siehe Sapelli, Giulio, Storia economica dell’Italia contemporanea, Mailand 1997.
[27] Vgl. Becattini, Giacomo, Il distretto industriale. Un nuovo modo di interpretare il cambiamento economico, Turin 2000.
[28] Siehe hierzu die Beiträge in Janz; Sala (Hgg.), Dolce Vita?
[29] Vgl. Rusconi, Deutschland-Italien, Italien-Deutschland.
Literaturhinweise
Battafarano, Italo Michele, Pregiudizi e intuizioni italo-tedesche. Trent'anni di vita italiana nella stampa tedesca (1976–2006), Sassari 2007.
Corni, Gustavo; Dipper, Christof (Hgg.), Italiener in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Kontakte, Wahrnehmungen, Einflüsse, Berlin 2012.
Janz, Oliver; Sala, Roberto (Hgg.), Dolce Vita? Das Bild der italienischen Migranten in Deutschland, Frankfurt am Main 2011.
Manning, Till, Die Italiengeneration. Stilbildung durch Massentourismus in den 1950er und 1960er Jahren, Göttingen 2011.
Petersen, Jens, Italienbilder – Deutschlandbilder. Gesammelte Aufsätze, Köln 1999.