„Ich versichere bei Strafe des Zuchthauses.“ Die Säkularisierung des Eides in Deutschland und Frankreich 1876–1882[1]
Von Siegfried Weichlein
Die Geschichte des Eides, der Eiddebatten und der Eidreformen wirft ein Licht auf das unterschiedliche Verhältnis von Religion und Politik in Deutschland und in Frankreich. Die politische Arbeit an den Eidesformeln deutet auf verschiedene Wege der Säkularisierung der politischen Sprache in beiden Ländern hin. Sowohl die deutsche wie auch die französische neueste Geschichte kennen zahlreiche Anläufe, die religiösen Eidesformeln des Gerichtseides, der im Folgenden als Beispiel gewählt wird, zu beseitigen, sie zu säkularisieren oder den Gerichtseid durch eine eidesstattliche Versicherung ganz zu ersetzen.[2] Eiddebatten tobten in beiden Gesellschaften. In ihnen stand schon bald mehr auf dem Spiel als die Produktion gerichtsverwertbarer wahrer Aussagen. Es ging dabei regelmäßig um Grundbegriffe des politischen und sozialen Zusammenlebens. In beiden Gesellschaften vermittelte die Debatte um den Gerichtseid Einblicke in Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Verhältnisbestimmung von Religion, Individuum und Gesellschaft.
Trotz des feindlich aufgeladenen Verhältnisses von Staat und Kirche in Frankreich fällt eine Besonderheit ins Auge: In Frankreich existierte der religiöse Gerichtseid bis 1972. Während die Schule, die Krankenhäuser und besonders die Politik weitestgehend laizistisch waren, war es bis in die V. Republik hinein unmöglich, den Gerichtssaal gänzlich laizistisch auszugestalten. In Frankreich enthielt der Gerichtseid erst seit 1972 und nicht schon seit den Religionskämpfen der III. Republik keinerlei religiöse Formeln mehr.
Das deutsche wie das französische Rechtssystem hielten am Eid fest. Sie benötigten für die Ausführung der Gesetze und allgemeiner gesprochen: für die nationale Durchdringung der Gesellschaft verlässliche Erfüllungsstäbe mit einer eindeutigen und überpersonalen Verpflichtungsstruktur. Gleichzeitig waren Liberale verschiedener Couleur in beiden Ländern entschieden der Ansicht, man müsse Religion und Politik und daher auch Religion und Eid genauestens voneinander trennen. Hinzu kam, dass die nationale Rechtsgleichheit unter allen Staatsbürgern in beiden Ländern gegen eine Vielzahl innerer Ungleichheiten noch durchgesetzt werden musste. Besonders die Gleichbehandlung vor dem Recht bildete ein hohes Gut für die Nationalbewegungen. Das war entscheidend in Deutschland mit seinen verschiedenen Rechtsordnungen in den einzelnen Bundesstaaten und seiner langen Geschichte der konfessionellen Spaltung. Das galt aber auch für Frankreich, wo die regionalen Unterschiede bis ins späte 19. Jahrhundert sehr stark ausgeprägt waren.[3]
An diesem Punkt setzten die Bemühungen der Liberalen in zahlreichen europäischen Staaten ein, den Gerichtseid zu reformieren, um so die Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz praktisch durchzusetzen.[4] Die Bedeutung dieser Frage wurde unterstrichen durch die Ausweitung des Gerichtswesens und die damit enorm zunehmende Zahl an Eiden. Die liberalen Reformer stießen in beiden Ländern auf ein starkes Beharrungsvermögen bei den staatlichen Stellen und auf den Widerstand katholischer Abgeordneter in den Parlamenten.
Die liberale Säkularisierung des Eides bezog sich auf zwei Dimensionen: auf den Inhalt der Eidesformeln und auf die Performanz des Eides. Nicht nur die religiösen Eidesformeln begründeten den religiösen Charakter des Eides. Der Akt des Schwörens als solcher konnte religiös verstanden werden und deswegen aus religiösen oder auch nicht-religiösen Gründen abgelehnt werden. Für die genuin religiöse Ablehnung des Schwörens standen die Wiedertäufer und die Quäker. Das Schwören gehörte als bedingte Selbstverfluchung der magischen Sphäre an und wurde schon von daher von vielen als religiöser Akt verstanden.[5]
Die Entfernung der Religion aus dem Eid war das politische Anliegen der Liberalen. Es konnte zweierlei bedeuten: die Reform beziehungsweise die Abschaffung der religiösen Eidesformen wie „je jure devant Dieu ...“ oder „sowahr mir Gott helfe ...“, aber auch, dass der Eid als solcher abgeschafft wurde. Die Verpflichtungsstruktur des Eides musste dann bei einem anderen Wahrheitsgrund erfolgen. Die treibende Kraft der Reform in beiden Ländern war die Frage nach der Religions- und Gewissensfreiheit beim Ablegen des Eides. Wie also musste ein Eid aussehen, der sowohl der Religionsfreiheit der Staatsbürger als auch ihrer Gewissensfreiheit Rechnung trug? Die Religionsfreiheit bezog sich dabei auf die gewählte Konfession oder Religion, die Gewissensfreiheit aber auch auf die atheistischen Eidleistenden. Im Folgenden sollen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Debatten um den Gerichtseid anhand der zentralen Begriffe der Religion-und Gewissensfreiheit aufgezeigt werden.
Die These der folgenden Ausführungen ist es, dass die Reform der Gerichtseide in Deutschland und Frankreich verschiedene Verständnisse von Säkularisierung offen legte. Während die Reform des Gerichtseides in Deutschland auf seine Entkonfessionalisierung und Vereinheitlichung und damit die Durchsetzung der Religionsfreiheit hinauslief, bezog sie sich in Frankreich sehr viel stärker auf die Gewissensfreiheit. Aber auch diese schien in beiden Ländern eine andere Bedeutung zu haben. Während sie im Deutschen Reich relativ nah bei der Religionsfreiheit angesiedelt wurde, gingen Vertreter der französischen Linken so weit, Religion und Gewissensfreiheit in einen Gegensatz zu stellen. Der Vergleich der Eiddebatten in Deutschland und Frankreich zeigt zudem Unterschiede in den Zugangsbedingungen zur politischen Öffentlichkeit. Der Grundsatz liberaler Eidreform in Deutschland war, dass Religion Privatsache ist und auf das individuelle Gewissen beschränkt werden muss. Die gemäßigten französischen Republikaner teilten diese Auffassung. Aber ihre laizistischen Kollegen bezweifelten sie. Für sie war auch das individuelle Gewissen so lange nicht frei, wie es sich auf Übernatürliches bezog.
Der deutsche Fall: Die Entkonfessionalisierung des Eides
Die Generation der liberalen Nationalstaatsgründer im Deutschen Kaiserreich favorisierte genauso wie in der französischen III. Republik den auf die exakt gleiche Weise abgelegten Eid für politische Ämter und im Gericht. Das richtete sich gegen die vielfältigen konfessionellen Formeln für politische Eide und Gerichtseide. Im Deutschen Bund waren die Unterschiede zwischen den verschiedenen konfessionellen Eiden markant gewesen. Evangelische schworen bis 1879, indem sie dem Eid hinzufügten „Durch Jesum Christum zur Seligkeit!“, Katholiken durch den Zusatz „und sein heiliges Evangelium. Amen!“.[6] Juden schworen mit der Schlussformel „so wahr mir Gott helfe“.[7] Die deutschen Bundesstaaten und schließlich das Deutsche Reich vereinheitlichten zwischen der Revolution von 1848 und den Reichsjustizgesetzen von 1877 die Eidesformeln. An die Stelle der verschiedenen konfessionellen Eidesformeln trat die allgemein-religiöse Eidesformel „so wahr mir Gott helfe“.
Im Reich wurde die Diskussion um die Gerichtseide 1876 und 1877 mit Verve in der Debatte um das Gerichtsverfassungsgesetz geführt. Die deutsche Zivilprozessordnung sollte Rechtsgleichheit unter allen Prozessbeteiligten im Reichsgebiet herstellen und sichern. Dazu gehörte auch die Frage der Ableistung des Gerichtseides. An die Stelle der verschiedenen konfessionellen Eide sollte eine einheitliche Eidesformel treten. Der Bundesrat schlug dazu die neue Formel vor: „Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden ... so wahr mir Gott helfe“.[8] Er nahm damit eine Forderung der Frankfurter Paulskirchenversammlung wieder auf, die 1848 noch unerfüllt geblieben war. „Die Form des Eides soll eine für alle gleichmäßige, an kein bestimmtes Religionsbekenntnis geknüpfte sein.“[9] Artikel 149 der Paulskirchenverfassung bestimmte knapp: „Die Formel des Eides soll künftig lauten: "So wahr mir Gott helfe"“. Liberale Abgeordnete wie Karl Biedermann hatten sich in Frankfurt entschieden für die restlose Verstaatlichung des politischen Eides und damit die Tilgung jedweder religiösen Eidesformel eingesetzt, waren damit aber noch nicht einmal auf der politischen Linken durchgedrungen. Nicht die Verstaatlichung, sondern die Vereinheitlichung des Eides in der Politik und vor Gericht stellte fortan das Ziel liberaler Rechtspolitik dar. Hinter den Eidbestimmungen der Reichsjustizgesetze stand die Intention, „auf dem Gebiet der bürgerlichen Rechtspflege die noch erhalten gebliebenen Konsequenzen der Auffassung vom christlichen Staat auszumerzen, die konfessionellen Unterschiede der Staatsangehörigen zu verwischen und die rechtliche Gleichheit aller derselben zu verbürgen.“ Dies sollte durch eine allgemein gültige und für alle gleiche religiöse Eidesformel geschehen. Diese Formel trat schließlich am 1. Oktober 1879 in Kraft. Sie entsprach der älteren Formel des Eides für Juden, weshalb er von Antisemiten verunglimpft wurde.[10]
Wiewohl dieser Antrag auf dem Höhepunkt des Kulturkampfes 1876 gestellt wurde, stieß er nicht auf die Ablehnung Ludwig Windthorsts, des Fraktionsvorsitzenden der Zentrumspartei. Windthorst stimmte in dieser Frage vielmehr zu. Mehr noch: Im Reichstag argumentierte er am 20. November 1876 gegen konfessionelle Zusätze: „In den Gerichten muss man genau wissen, was Rechtens ist, und darf derartige Schwankungen nicht zulassen“ (Quelle 1).
Der bayerische linksliberale Abgeordnete Carl Herz wollte weitergehen, auf religiöse Eidesformeln ganz verzichten und nur die Formulierung „ich schwöre“ beibehalten. Aber auch Herz erklärte den Eid ohne religiöse Formel nicht für religionslos. Er arbeitete zwar politisch auf die Trennung von Kirche und Staat hin, wollte aber mitnichten einen völlig religionslosen Eid. Er argumentierte nicht aus einer atheistischen Perspektive, sondern eher aus einer pantheistischen. Vielmehr wollte er die Gewissensfreiheit des einzelnen und das staatliche Interesse an einem unbedingten Mittel zur Erforschung der Wahrheit im Gericht miteinander in Ausgleich bringen. „Wenn der Eid eine wichtige und heilige Handlung ist, wenn ihn die Gesetzgebung immer als wichtigstes Wahrheiterforschungsmittel betrachtet hat, dann darf man nicht verlangen, dass der Schwörende eben, wenn er im Begriff steht, diese heilige Handlung zu vollziehen, während er den Eid leistet, etwas erklärt, was er selbst nicht für wahr hält“.[11] Der Ausgleich zwischen der Gewissensfreiheit des einzelnen und dem staatlich erzwungenen Eid sollte durch den Verzicht auf eine bindende allgemein religiöse Formel erreicht werden. Herz verwies auf ähnliche Bemühungen in Italien, wo der Justizminister vor dem Parlament eine solche Formel mit dem Argument verteidigt hatte, dass „die dogmatisch-konfessionelle Eidesformel […] etwas Unvernünftiges, […] etwas in der Jetztzeit undurchführbares, mit der Gewissensfreiheit in Widerstreit Stehendes“ sei.[12] Tatsächlich bestimmte das italienische Gesetz vom 30. Juni 1876, dass das einfache „giuro“ Rechtsverbindlichkeit vor Gericht besaß.
Gegen den Gesetzgebungsvorschlag Herz protestierten zahlreiche Reichstagsabgeordnete. Die markanteste Kritik kam von Ludwig Windthorst. Er meinte, der Antrag Herz müsse den Eid als solchen in Frage stellen. Konsequenterweise müssten die Antragsteller dann auf den Eid als solches verzichten und ihn durch eine Versicherung ersetzen: „[A]n dem Tage, wo wir den Staat von jeglicher Konfession und Religion trennen – und das geschieht heute –, können wir von den Staatsbürgern nicht mehr verlangen, dass Sie schwören sollen nach irgendwelchen religiösen Anschauungen. Die Eidesformel des modernen Staates kann nur lauten: ‚ich versichere bei Strafe des Zuchthauses‘“ (Quelle 1). An die Stelle der religiös konnotierbaren performativen Selbstverfluchung sollte die einfache Strafandrohung treten. „Wenn die Herren wirklich die Formel des religiösen Inhalts entkleiden wollen, so müssen Sie selbst den Ausdruck ‚ich schwöre‘ gar nicht mehr gebrauchen, denn jedermann, der vom Schwören spricht, setzt als selbstverständlich voraus, dass der Schwörende Gott den Allwissenden und Allmächtigen zum Zeugen dafür anruft, dass er die Wahrheit berichtet.“ Die Formel könne dann nur mehr allgemein gesprochen lauten: „Ich versichere es bei Vermeidung der Strafe, die das weltliche Gesetz auf eine falsche Versicherung setzt“ (Quelle 1). Der Antrag Herz wurde vom Reichstag abgelehnt.
Im deutschen Fall war die Vereinheitlichung des Gerichtseides nicht gleichbedeutend mit seiner Säkularisierung. Die Mehrheit der nationalliberalen und linksliberalen Abgeordneten akzeptierte die allgemein-religiöse Formel „so wahr mir Gott helfe“. Diese Tendenz kam auch in der Form des Eides zum Ausdruck. In Preußen wurde 1869 das Schwören mit den erhobenen drei Schwurfingern, die für die Trinität standen, durch das Erheben der rechten Hand ersetzt, was keine spezifisch konfessionelle Bedeutung mehr hatte. Auch die Nationalversammlung von 1919 beließ es bei der Formel „so wahr mir Gott helfe“, die fakultativ zum verbindlichen „ich schwöre“ hinzugesetzt werden konnte.
Der französische Fall: Die scheiternde Säkularisierung des Gerichtseides
Prima facie lagen die Dinge in Frankreich ähnlich. Auch hier scheiterten bis 29. Dezember 1972 alle Versuche, die Religion gänzlich aus dem Gerichtssaal zu entfernen. Auch hier blieb es bei der religiösen Eidpraxis im Gericht. Der Gerichtseid war nach Artikel 312 des „code de procédure penale“ von 1808 so geregelt: „Le président adressera aux jurés, debout et découvert, le discours suivant: Vous jurez et promettez devant Dieu et devant les hommes d’examiner avec l’attention la plus scrupuleuse les charges qui seront portées contre N.“ Die Geschworenen antworteten dann „je le jure“ und akzeptierten damit performativ den Gottesbezug der vorgesprochenen Formel. Ebenso hatte der Vorsitzende einer Jury bei der Verkündung des Spruches der Geschworenen zu beginnen: „Sur mon honneur et ma conscience, devant Dieu et devant les hommes, …“ (Artikel 348).
In Frankreich hatte die Vereinheitlichung der Eidesformeln bereits mit der Französischen Revolution eingesetzt. Seit dem Beschluss der Nationalversammlung vom 10. August 1792 war die einzige Formalität zur Eidesleistung das „je jure“ – ohne jede angehängte religiöse Eidesformel. 1810 waren jedoch in Frankreich konfessionelle Eidesformeln wieder erlaubt worden, weil der Kassationsgerichtshof die Kultusfreiheit mit der Eidesleistung verbunden hatte.[13] Die Eidesleistung hatte danach auf die Religionszugehörigkeit der Eidleistenden Rücksicht zu nehmen, um so der Kultus- oder Religionsfreiheit zu ihrem Recht zu verhelfen. Betroffen waren davon vor allen Dingen die Wiedertäufer und die Quäker. Die Ersteren versprachen bei ihrer Seele und ihrem Gewissen, die Letzteren gaben ein Versprechen ab, die Wahrheit zu sagen. Ähnliches galt für Juden. Für Religionslose und Atheisten gab es jedoch keinerlei Regelung. Sie mussten mit einer religiösen Formel schwören. Diese Regelung zielte darauf, die kollektive Religionsfreiheit mit dem staatlichen Zwang zur Eidesleistung in einen Ausgleich zu bringen. Die Gewissensfreiheit war demgegenüber nachgeordnet. Die Religionsfreiheit galt als Ausdruck der Gewissensfreiheit. Sie war ein kollektives Recht, das einer religiösen Gemeinschaft, die vom Staat anerkannt worden war, als ganzer gegeben wurde.
In der III. Republik wurde diese Regelung problematisch. Die kollektive Religionsfreiheit konnte nicht mehr gegenüber der individuellen Religionsfreiheit privilegiert werden. Und die Gewissensfreiheit konnte ihr auch nicht mehr untergeordnet werden. 1882 insistierten mehrere linke laizistische Abgeordnete darauf, die religiösen Eidesformeln auch im Blick auf die Gewissensfreiheit der Atheisten und Religionsfernen zu regeln. Alle Staatsbürger sollten nach der gleichen Formel schwören. Hintergrund dieser Debatte war, dass es 1882 zu zahlreichen Eidverweigerungen aus individuellen Gewissensgründen gekommen war. Zahlreiche Atheisten, Materialisten und Positivisten hatten sich geweigert, eine Eidesformel zu sprechen, mit der sie implizit ein religiöses Referenzsystem anerkannten. Alleine zwischen dem Februar 1882 in dem Februar 1886 verweigerten 61 Agnostiker und Atheisten den Eid. Sieben wurden mit einer Geldstrafe bestraft (500 bzw. 200 Francs).[14]
Die beiden Justizminister des Jahres 1882, Gustave Humbert und Paul Devès, sahen in den Eidverweigerungen aus Gewissensgründen einen gravierenden Missstand, der geregelt werden musste. Damit aber bezog sich die Frage der Vereinheitlichung der Eidesformeln – anders als im Deutschen Reich – nicht nur auf die Vielfalt konfessioneller Formeln, sondern auch auf die Haltung zur Religion überhaupt, auf Religiöse und Nicht-Religiöse. In der Nationalversammlung ging es im Kern um Gesetzgebungsvorschläge, die auch den religionslosen Staatsbürgern den Eid ermöglichen sollten.
Die französische Debatte reagierte damit auch auf die soziale Entfremdung weiter Teile der Bevölkerung von der katholischen Kirche. Politisch stand sie im Zusammenhang mit der republikanischen Trennung von Religion und Schule, die in dem großen Schulgesetz vom 28. März 1882 zum Ausdruck gekommen war. Zum gleichen Zeitpunkt entstanden die Gesetzesvorschläge zur Reform des Gerichtseides. Der Standpunkt der republikanischen Regierung war es, den Einfluss der Religion auf die Gesetzgebung aufzuheben und die Religion auf den Bereich des individuellen Gewissens zu beschränken.[15] Während diese politische Richtlinie für den Bereich der Schule, der Krankenhäuser und 1905 auch generell für die Politik durchgesetzt werden konnte, stieß sie in der Frage des Gerichtseides auf eine besondere Schwierigkeit. Weil die Reform des Gerichtseides nicht nur der Religionsfreiheit, sondern auch der individuellen Gewissensfreiheit Rechnung tragen wollte, musste sie paradoxerweise der Religion Rechnung tragen, die ja in der offiziellen laizistischen Lesart bis dahin auf das individuelle Gewissen beschränkt worden war. Genau das aber lehnten die entschiedenen Republikaner ab. Sie wollten jeglichen expliziten oder performativen Bezug auf die Religion in der Eidesleistung streichen. Als der Jurist Jean Jeanvrot 1881 auf die Inkompatibilität des Gerichtseides mit der Gewissensfreiheit hinwies, stellte er eine neue Verhältnisbestimmung zwischen Religion und Gewissensfreiheit her.[16] Diejenigen laizistischen Politiker, die den Gerichtseid von jedweder religiösen Bedeutung reinigen wollten, standen auf dem Boden der zeitgenössischen positivistischen Weltanschauung. Als Bekräftigungsformeln anerkannten sie die Natur und das Gewissen des Individuums, auf keinen Fall aber irgendetwas Übernatürliches. Der Positivismus bildete das Rationalitätsmodell für die „republikanische Moral“. Für die Religion war so gesehen im individuellen Gewissen kein Platz mehr. Die republikanische Moral verband in der Frage des Gerichtseides einen erkenntnistheoretischen Positivismus mit einem scharfen Antiklerikalismus. Diese Überzeugung ging auf die Allianz von Positivismus und Republikanismus zur Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Der Positivismus diente dem radikalen Laizismus der linken Republikaner als erkenntnistheoretisches, immer häufiger aber auch als politisches Argument gegen Religion und Kirche.[17]
Beide Positionen – die Religion auf das individuellen Gewissen zu beschränken und die positivistische politische Erkenntnislehre, die dies nicht zugestehen konnte – können den wichtigsten Reformvorschlägen zum Gerichtseid zugeordnet werden. Entweder sollte der Eid gänzlich von der Religion getrennt werden, indem man die religiöse Eidesformel strich (Jules Roche), oder es sollte alternativ die Möglichkeit bestehen, den Eid religiös abzulegen bzw. eine bürgerliche Versicherung abzugeben (Justizminister Gustave Humbert).
Der radikale Abgeordnete Jules Roche, der 1881 für das Arrondissement Draguignan (Var) in die Nationalversammlung gewählt worden war und sich der radikalen Linken angeschlossen hatte, stellte am 6. Februar 1882 – auf dem Höhepunkt der Debatte um das republikanische Schulgesetz – den Antrag, einen klaren Bruch mit der herrschenden Praxis religiöser Eidesformeln zu vollziehen. Roche wollte gemeinsam mit seinen Kollegen von der radikalen Linken Georges Clemenceau, Clovis Hugues, Jean de Lanessan, Désiré Barodet, dem Grafen de Douville-Maillefeu, Camlille Pelletan, Tony Revillon, Cantagrel und Charles Beauquier auf sämtliche religiösen Bezüge im Gerichtseid verzichten, um der individuellen Gewissensfreiheit der Freidenker, der Deisten, der Positivisten, der Atheisten, der Rationalisten und aller Nicht-Christen Rechnung zu tragen.[18] Sein Antrag lief darauf hinaus, die revolutionäre Formulierung des Gerichtseides im Strafgesetzbuch vom 3. Brumaire des Jahres IV (25. Oktober 1795) wieder allgemein verbindlich zu machen: „Sur mon honneur et ma conscience, je le jure.“ Diese Formel sei besser angepasst an die in einer Demokratie nötigen Prinzipien, „qui veut s’affranchir de toute prétention théocratique et ne reposer que sur la raison et la science“.
Aus ihrer positivistischen Religionskritik ergaben sich für die Antragsteller politische Konsequenzen: Das Prinzip der Gewissensfreiheit war für sie nicht nur durch das Konkordat und das Kultusbudget, das die Religionsgemeinschaften finanzierte, verletzt, sondern auch durch eine ganze Reihe von Verpflichtungen, Vorschriften und Privilegien. Dazu gehörten auch die Formalien beim Ablegen des Eides. Es gelte also, die Gewissensfreiheit bei den Bürgern, die in den Gerichten zu Zeugen oder Geschworenen gerufen wurden oder als Richter dienten, wiederherzustellen. Die Gerichte mussten von einer gefährlichen und überflüssigen theologischen Formel („superfétation théologique dangereuse“) befreit werden. Man durfte nicht zulassen, dass die Gerichte unter Rückgriff auf das Übernatürliche Recht sprachen. „Tout au contraire: l’intervention de la religion dans les institutions judiciaires est d’autant moins admissible que les dogmes sont contraire à la raison et la grâce au droit.“ (Quelle 2). In der Antragsbegründung hatte es weiter geheißen: „Un peuple libre et éclairé, qui veut atteindre à la Justice, n’a besoin de consulter que la nature, les rapports nécessaires des hommes entre eux, et de n’invoquer que la conscience.“ [19]
Noch prinzipieller wurde der Abgeordnete Freppel. Für ihn konnte es keine Gewissensfreiheit begeben, die sich auf Gott berief, weil das Gewissen nun einmal „n’est pas l’écho de Dieu dans l’homme.“[20] Damit ging die Frage der Vereinheitlichung des Gerichtseides in Frankreich – ganz im Unterschied zum Reich – unmittelbar in die Frage seiner Säkularisierung über. Und Säkularisierung meinte nicht Trennung von Religion und Eid, sondern, dass sich die Religion im Irrtum befinde. Politisch ausgedrückt: Die Kirche stand der Gewissensfreiheit im Weg. Sie war kein Teil von ihr. Die Garantie für die Wahrheit des Eides sollte nicht mehr in einem Übernatürlichen, sondern in der persönlichen Moralität des Eidleistenden liegen, die ihrerseits nicht mehr religiös gebunden war.[21] Darin kam das Säkularisierungsverständnis der französischen Laizisten zum Ausdruck. Es ging im Kern über die Trennung von Staat und Kirche oder von Religion und Politik hinaus. Laizismus und Säkularisierung waren für die radikale Linke in Frankreich zwar auch politische Begriffe, vor allen Dingen aber standen sie für eine fundamentale philosophische Erkenntnisposition, die jede Berufung auf das Übernatürliche als illegitim und als Angriff auf die Gewissensfreiheit abwehrte. Die Religion musste aus ihrer Sicht den einzelnen daran hindern, am Rechtsstaat teilzunehmen und legitimerweise eine öffentliche Rolle einzunehmen. Das galt auch dann, wenn der einzelne religiöse Überzeugungen als Gegenstand von Gewissensfreiheit ins Spiel brachte. Die linke Mehrheit der Kammer der Nationalversammlung nahm diesen Vorschlag am 24. Juni 1882 an.
So weit wie Jules Roche wollten Justizminister Gustave Humbert und der Senat, der ihm darin folgte, nicht gehen. Humberts Vorschlag verkörperte die weniger radikale Sicht, die Religion nicht zu negieren, sondern auf das Gewissen zu beschränken. Er unterstrich wie Roche die Bedeutung der Gewissensfreiheit, betrachtete sie jedoch unter politischen Gesichtspunkten und trennte sie von der Frage der „richtigen“ republikanischen Moral. Sein Ziel war es, die „liberté de conscience la plus large“ zu sichern und damit auch den Angehörigen der Religionsgemeinschaften den Rückgriff auf die Gewissensfreiheit im öffentlichen Raum zu ermöglichen. Entsprechend schlug er vor, dass die Eidleistenden entweder gemäß ihrer Überzeugung den bisherigen Eid oder aber ein feierliches Versprechen ablegen sollten „de dire la vérité, rien que la vérité“.[22] Neben der bisherigen Formel „je jure“ mit der impliziten Anerkennung eines religiösen Horizontes sollte daher die bürgerliche Versicherung „je promets …“ treten. Sobald ein atheistischer Zeuge vor den Präsidenten eines Tribunals treten würde, sollte er die Worte „je le jure“ ersetzen können durch „je le promets sur mon honneur et ma conscience“. Die Regelung, die bis dahin nur für den religiös motivierten Widerspruch der Wiedertäufer und Quäker gegolten hatte, sollte auf den atheistischen Widerspruch gegen die Religion ausgedehnt werden. Im Sinne dieses Gesetzesvorschlags war nicht nur mehr das laizistische Gewissen die einzige Zutrittsmöglichkeit zum öffentlichen Raum. Dem Regierungsvorschlag lag vielmehr daran, sowohl Religionszugehörigen als auch Atheisten Zugang zum Rechtsstaat und zum öffentlichen Raum zu gewähren.
Der Senator Robert de Massy verteidigte am 1. Juli 1882 die Bedeutung der Religion für die Moral und widersprach einer strikt laizistischen republikanischen Moral, die auf der Grundlage des Positivismus beruhte. „Le législateur sait de plus que le sentiment religieux est moralisateur, qu’il est le germe des aspirations les plus hautes et des vertus les plus fécondes, qu’il élève et fortifie les consciences, enfin qu’il inspire à l’homme le respect de ses devoirs et de sa responsabilité morale.“ Hier stand Religion in einer quasi protestantischen Lesart in engster Beziehung zur Moral, sie war nicht ihr Hemmnis, sondern selbst „moralisateur“.[23] Eine öffentliche Moral konnte – musste nicht! – auf die Religion zurückgreifen. Dem widersprachen die Vertreter einer strikten Laizität mit dem Argument, so werde der Gerichtssaal zum Tribunal der Unterscheidung zwischen Religion und Nicht-Religion, wenn nicht sogar zum Ort eines öffentlichen religiösen Bekenntnisses gemacht. Beides komme ihm aufgrund seiner konstitutiv laizistischen Natur nicht zu. Hier waren die bis in die Gegenwart wichtigsten Positionen in der Debatte um den staatlichen Religionsunterricht in Deutschland vorgezeichnet.
Die semantische Nähe des „je promets“ zu dem (polemisch gemeinten) Vorschlag von Ludwig Windthorst im Reichstag sechs Jahre zuvor konnte jedoch über die Unterschiede nicht hinwegtäuschen. Für Windthorst konnten nur mehr die Religion oder das Strafrecht die Wahrheit des Eides garantieren. Für Massy waren dies die Religion und die Moral des Eidleistenden. Der Verzicht auf den Eid hatte in der Debatte um die Reichsjustizgesetze 1876 die Pointe, dass dann nur noch die staatliche Strafandrohung die Garantie dafür bieten könne, dass aus dem bürgerlichen Versprechen tatsächlich die Wahrheit sprach. Windthorsts alternative Formulierung zum Eid hatte gelautet: „[I]ch versichere bei Strafe des Zuchthauses“. Dagegen setzten die Befürworter des Antrags Humbert 1882, die im Senat eine Mehrheit bildeten, darauf, dass der Sachgrund für die Wahrheit des feierlichen Versprechens – neben der Religion – die Moral bzw. die Vernunft des Eidleistenden sei. Beide Anträge – Roche und Humbert – wurden letztlich nicht angenommen. Die Pariser Nationalversammlung sprach sich am 24. Juni 1882 für den Antrag von Roche aus, der Senat lehnte diesen am 26. Februar 1883 mit 153 zu 113 ab und favorisierte das Projekt Humbert, dem wiederum die Kammer nicht folgen wollte. 1894 verwarf sie den Senatsvorschlag der alternativen Eidesleistung bzw. Versicherung. Damit blieb die alte Regelung der implizit religiösen Eidesleistung weiterhin gültig – bis 1972![24]
Die deutsche und die französische Diskussion spiegelte die Debatte, wie sie auch in anderen europäischen Gesellschaften geführt wurde. Die liberale Politik einer Trennung von Staat und Kirche stieß überall auf den Widerstand des erstarkenden politischen Katholizismus. In der Schweiz, in Spanien, Belgien, Ungarn, England und Neuseeland führten die Eiddebatten dazu, dass neben den religiösen Eidesformeln alternativ auch die feierliche oder bürgerliche Versicherung als Praxis der Selbstverpflichtung akzeptiert wurde. In der Schweiz war dieser Prozess besonders markant. Die revidierte Bundesverfassung der Schweizer Eidgenossenschaft, die ihren Namen dem Eid verdankte, griff am 29. Mai 1874 tief in das Eidesrecht ein. Auch hier ging es um die Definition von Glaubens- und Gewissensfreiheit. Art. 49 der revidierten Bundesverfassung bestimmte: „Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist unverletzlich. Niemand darf […] zur Vornahme einer religiösen Handlung gezwungen oder wegen Glaubensansichten mit Strafen irgendwelcher Art belegt werden. […] Die Glaubensansichten entbinden nicht von der Erfüllung der bürgerlichen Pflichten.“ Jedermann war damit berechtigt, einen religiösen Eid zu verweigern. Die Wahrheit konnte bei Gericht alternativ durch die feierliche Versicherung festgestellt werden. Die entgegenstehenden Bestimmungen in den Kantonen traten außer Kraft. Die Bundesgesetzgebung erklärte den religiösen Eid für fakultativ und erlaubte die Ersetzung durch die „einfache Gelobung.“ In der Schweiz besaß die Eidverweigerung eine besonders lange Tradition seit der Reformation, die eine strenge Auffassung der Heiligkeit des Schwurs durchgesetzt hatte. Aus genuin religiösen Gründen kannte etwa das Züricher Zivilprozessrecht den Eid nicht als Beweismittel.[25]
Fazit
Zusammenfassend ergeben sich aus der vergleichenden Analyse der Reform des Gerichtseides in Deutschland und in Frankreich drei Beobachtungen:
1. So verschieden die Entwicklung des Eides diesseits und jenseits des Rheins im 19. Jahrhundert auch war, ein Merkmal verband die Diskussion im Deutschen Bund, im Frankreich des Bürgerkönigs Louis Philippe, des Empire und der III. Republik miteinander: Die Debatte um Religion und Eid wurde anhand der Eidesformeln geführt. Dies galt sowohl für die religiös-katholische beziehungsweise konfessionelle Seite als auch für die Verfechter der Trennung von Kirche und Staat. Die Reform des Gerichtseides lief auf einen Streit um die Eidesformeln hinaus. Die religiösen Formeln sollten entweder gesichert oder abgeschafft werden. Ein Eid galt über die längste Zeit des 19. Jahrhunderts immer dann als frei von Konfession und später sogar von Religion, wenn seine Eidesformel keine religiösen Referenzen enthielt. Die Abschaffung der religiösen Eidesformel bedeutete die Säkularisierung des Eides: wünschenswert für die einen, Schreckensszenario für die anderen.
2. In diesen beiden Quellen werden die Unterschiede im Verhältnis von Religion und Politik in Deutschland und Frankreich sichtbar. Selbst im Deutschland des Kulturkampfes ging die liberale Reichstagsmehrheit nicht so weit, den Eid als solchen abzuschaffen oder über die Vereinheitlichung im Sinne einer allgemein-religiösen und konfessionell unspezifischen Formel hinauszugehen. Es blieb bei der Vereinheitlichung der zuvor konfessionell verschiedenen Eide. Die Vereinheitlichung der Eidesformeln war im Reich Teil des Projektes, den Rechtsstaat zu sichern und die Rechtsgleichheit unter allen Staatsangehörigen herzustellen. In Frankreich dagegen war sie Teil der Debatte um die „republikanische Moral“, die die Republik im Innern befestigen sollte. Die französische Debatte um den Gerichtseid ging bereits vom konfessionslosen Akt des Schwörens aus und drehte sich darum, ob die Selbstverpflichtung auf der Basis einer die Religion umfassenden Praxis oder einer sie dezidiert ausschließenden Formel geschehen sollte. Beide Richtungen – die religionsinkludierende und die religionsexkludierende – hatten je eine Abstimmung für sich entschieden. Am extremen Rand des republikanischen Laizismus deutete sich damit eine Form der Säkularisierung an, die selbst wieder Religionscharakter hatte. Der durch den Positivismus begründete Ausschluss der Religion aus der Gewissensfreiheit machte den Laizismus nicht zu einer Alternative zum religiösen Bekenntnis, sondern zu einer laizistischen Gegenreligion mit Dogmen und scharfen Exklusionen.
3. Der religiöse Charakter des Eides wie auch seine Reform hing entscheidend von der vorherrschenden Konzeption der Gewissensfreiheit in den jeweiligen Gesellschaften ab.[26] In der französischen Nationalversammlung stand die Gewissenfreiheit im Zentrum der Eiddebatte. Sie wurde individuell interpretiert, was auch in der Berliner Debatte der Fall war. Doch während in Berlin selbst noch von der liberalen Seite, die die Trennung von Kirche und Staat favorisierte, die Gewissensfreiheit der Religionsanhänger unbestritten blieb, argumentierte die radikale laizistische Linke in Frankreich mit dem Widerspruch von Religionsbekenntnis und Gewissensfreiheit. Das individuelle Gewissen konnte nicht frei sein, wenn es sich an ein religiöses Bekenntnis band. Dem widersprachen freilich die gemäßigten Republikaner. Die alternative Ersetzung des Eides durch die eidesstattliche Versicherung sollte die Gewissensfreiheit der Religiösen wie auch der dezidiert Nicht-Religiösen sichern und einen Ausgleich zwischen den gemäßigten und den radikalen Laizisten schaffen. Die Alternative „religiöser Eid oder religionslose Versicherung“ stand in einem sachlichen Widerspruch zur positivistischen republikanischen Moral, die als Beglaubigungsinstanzen für Wahrheiten nur die Natur und die Vernunft, in keinem Fall aber das Übernatürliche kannte. Der Gegensatz zwischen den gemäßigten und den radikalen Republikanern in Frankreich war in dieser Frage größer und schärfer als derjenige zwischen den gemäßigten Republikanern in Frankreich und dem politischen Katholizismus in Deutschland.
[1] Essay zu den Quellen: Reden vor dem Deutschen Reichstag und dem französischen Senat von Ludwig Windthorst und M. Robert de Massy (1876/1882).
[2] Vgl. Siegfried Weichlein, Religion und politischer Eid im 19. und 20. Jahrhundert, in: Harald Bluhm u. Karsten Fischer u. Marcus Llanque (Hg.), Ideenpolitik. Geschichtliche Konstellationen und gegenwärtige Konflikte, Berlin 2011, 399-420.
[3] Vgl. Eugen Weber, Peasants into Frenchmen: the Modernisation of Rural France 1870–1914, Stanford 1976 (London 1977).
[4] Zur Geschichte des vormodernen Eides vgl. neben Holenstein, André, ?Die Huldigung der Untertanen: Rechtskultur und Herrschaftsordnung (800–1800)?, Stuttgart 1991; ders., Seelenheil und Untertanenpflicht. Zur gesellschaftlichen Funktion und theoretischen Begründung des Eides in der ständischen Gesellschaft, in: ders.; Blickle, Peter (Hgg.), Der Fluch und der Eid. Die metaphysische Begründung gesellschaftlichen Zusammenlebens und politische Ordnung in der ständischen Gesellschaft, Berlin 1993 (ZHF Bd. 15), 11–63. v.a.: Prodi, Paolo, Das Sakrament der Herrschaft. Der politische Eid in der Verfassungsgeschichte des Okzidents, a.d. Ital. v. Judith Elze, Berlin 1997; juristisch jüngst: Börsch, Thomas, Eidesstattliche Versicherung. Strafrechtliche Bedeutung einer Formhülse, Münster 2009.
[5] Der Charakter des Eides als bedingte Selbstverfluchung wird besonders deutlich in den Märchen.Vgl. Brückner, Wolfgang, Artikel ‚Eid, Meineid’, in: Enzyklopädie des Märchens Bd. 3, Berlin 1981, S. 1142–1150.
[6] Diese beiden Formeln gingen auf den Passauer Vertrag und den späteren Reichstagsabschied von 1555 zurück.
[7] Zur jüdischen Eidesleistung vgl. Frankel, Zacharias, Die Eidesleistung der Juden in theologischer und historischer Beziehung, Dresden 1840; Zunz, Leopold, Die Vorschriften über die Eidesleistung der Juden, Berlin 1859.
[8] Zur Entstehung dieser Eidesformel vgl. Hubrich, Eduard, Konfessioneller Eid oder religionslose Beteuerung, Rechtshistorisch und rechtsdogmatisch beleuchtet, Leipzig 1899, S. 62. Damit blieb die Frage der Eidesleistung von bekennenden Atheisten ungeregelt.
[9] Wigard, Franz, Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, 9 Bde., Frankfurt am Main 1848–1850, Bd. 3, S. 2014.
[10] Hubrich, Konfessioneller Eid oder religionslose Betreuung, S. 159; Zum “Judeneid“ vgl. Vormbaum, Thomas, Der Judeneid im 19. Jahrhundert, vornehmlich in Preußen, ein Beitrag zur Juristischen Zeitgeschichte, Berlin 2006.
[11] Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichtags. Zweite Legislatur-Periode IV. Session 1876, Erster Band, Berlin 1876, S. 231.
[12] Ebd., S. 232.
[13] Auch in Italien setzte sich die Formulierung „giuro“ durch. Vgl. Piboubès, Jean-Yves, La liberté de conscience à 1'épreuve du serment. Individu, religion et politique au XIXe siède, in: Demartini, Anne-Emmanuelle; Kalifa, Dominique (Hgg.), Imaginaire et sensibilites au XIXe siecle. Études pour Alain Corbin, Paris 2005, S. 157–167, S. 160; Garçon, Emile, Code pénal, Paris 1901–1905, Tome I, Livre III, art. 364 u. 365, S. 1009.
[14] Vgl. Lalouette, Jacqueline, Expulser Dieu: la laicisation des écoles, des hôpitaux et des prétoires, in: mots, juin 1991, Nr. 27, S. 23–39, S. 35.
[15] Notiz des Justizministeriums von 1882, zit. in: Piboubès, La liberté de conscience, S. 163.
[16] Vgl. Jean Jeanvrot, La question du serment, Paris 1882, S. 7f.
[17] Vgl. dazu: Beilecke, François, Französische Intellektuelle und die Dritte Republik. Das Beispiel einer Intellektuellenassoziation 1892–1939, Frankfurt am Main 2003.
[18] Proposition de loi tendant à garantir la liberté de conscience devant les tribunaux en modifiant les articles 75-155-189-312-317 du Code d'instruction criminelle et en supprimant dans les salles d' audience tout emblème religieux, troisième législature, session de 1882, proposition Nr 383.
[19] Lalouette, Jacqueline, La libre pensée en France, 1848–1940, Paris 1997, S. 273 (Zitat aus dem Gesetzesantrag). „Il ne faut pas laisser croire que la justice ne peut pas être rendue sans recourir au surnaturel.”
[20] Vgl. Lalouette, Jacqueline, De quelques aspects de l’athéisme en France au XIXe siècle, in: Cahiers d'histoire. Revue d'histoire critique (87) 2002, (Religion et culture au XIXe siècle en France), S. 81–100.
[21] So: Piboubès, La liberté de conscience, S. 165.
[22] Vgl. Projet de loi Humbert, garde des Sceaux, 18. März 1882, zit. in: Piboubès, La liberté de conscience, S. 164.
[23] Sénat, annexe au procès-verbal de la séance du 1er juillet 1882, nr. 332, 4–6, zit. in: Lalouette, De quelques aspects de l’athéisme en France, S. 100.
[24] Allerdings wurden erst mit dem ministeriellen Rundschreiben vom 9. April 1904 (einem Gründonnerstag!) alle Kreuze und religiösen Gegenstände aus den Gerichtssälen entfernt.
[25] Vgl. Stooß, Karl, Der Meineid, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Besonderer Teil, Bd. 3, Religionsvergehen, Falsche Anschuldigung, u.a., bearb. v. Wilhelm Kahl et al., Berlin 1906, S. 282–369, bes. S. 349–351.
[26] Vgl. Charles Lessona, Le serment judiciaire en droit comparé, in: Revue de droit internationale et de législation comparée (28) 1896, S. 159–176, S. 159.
Literaturhinweise
Ernst Friesenhahn, Der politische Eid, Bonn 1979 (Erstauflage 1928).
Giorgio Agamben, Das Sakrament der Sprache. Eine Archäologie des Eides (Homo Sacer II,3), Frankfurt am Main 2010.
Jacqueline Lalouette, La libre pensée en France, 1848–1940, Paris 1997.
Jean-Yves Piboubès, La liberté de conscience à 1'épreuve du serment. Individu, religion et politique au XIXieme siede, in: Demartini, Anne-Emmanuelle; Kalifa, Dominique (Hgg.), Imaginaire et sensibilites au XIXe siecle. Études pour Alain Corbin, Paris 2005, 157–167.