Pre-Frontier, Landnahme und Sozioökologische Systeme in Australien, 1788 bis 1901[1]
Von Norbert Finzsch
1. Einleitung
„Sheep eat men“, Schafe fressen Menschen. Dieser Thomas Morus zugeschriebene Satz beschreibt die Situation in Australien zu Beginn des 19. Jahrhunderts sehr adäquat. Während die Zahl der australischen Aboriginal Peoples nach 1788 drastisch fiel, stieg die Zahl der Schafe ebenso dramatisch an. Die geschätzte Bevölkerungszahl von 500.000 bis 750.000 Indigenen der ersten Kontaktphase war bis 1901 auf 100.000 gesunken.[2] Die First Fleet der britischen Siedler hatte 28 Kapschafe an Bord gehabt, 1830 lebten bereits über eine Million Schafe und knapp 400.000 Rinder in New South Wales. Da konnte selbst die britische Einwanderung nicht mithalten, denn 1830 belief sich die Zahl der weißen Siedler auf 70.000 Köpfe. Der Historiker Ben Kiernan hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass der Rückgang der australischen Urbevölkerung, den er den aus Europa unwissentlich eingeschleppten Seuchen zuschreibt, kein Völkermord gewesen sei. Dennoch habe es in der Frühgeschichte der europäischen Besiedlung „multiple deliberate killings and a series of genocidal massacres“ gegeben. Typisch für die britische Verwaltung der Kolonien sei eine Haltung gewesen, die man als laissez-faire bezeichnen kann und die die Entscheidungen Aborigines betreffend der Kolonialverwaltung vor Ort und den Siedlern überließ. Mit der Ausweitung der Siedlungen jenseits der Blue Mountains nach 1813 rückte Sydney mit seinem Gouverneur in noch weitere Ferne. Hier boomte nun die Vieh- und Weidewirtschaft. Das Resultat war genozidal für viele Gruppen von Indigenen.
Das Vordringen verschiedener Frontiers und die Eingriffe der Siedler in das sozioökologische System der Aboriginals in Form von Mikropraktiken machte also einen intentionalen Genozid funktionell überflüssig, führte aber gleichzeitig zu einem Rückgang der Indigenen, der in der kolonialen Literatur allgemein als „Verschwinden“ gekennzeichnet worden ist. Die Frontier war in Australien keine Linie zwischen Besiedelung und Wildnis, sie war noch nicht einmal ein Kontaktraum, vielmehr kann sie nach Julie Evans mit dem postkolonialen Begriff der Pre-Frontier beschrieben werden.[3]
2. Pre-Frontier
Unter Pre-Frontier wird eine Kontaktzone verstanden, die temporal uneinheitlich und topologisch entgrenzt sein konnte. Kontakt bedeutet hier nicht nur direkter Kontakt von Indigenen und Siedlern, sondern auch indirekter Kontakt vermittels Krankheitserregern oder europäischen Pflanzen und Tieren.[4] Die nächste Stufe des Kontakts konnte der direkte, persönliche sein, der mitunter frei war von gegenseitigen Nützlichkeitserwägungen. Darauf folgte in der Regel die Landnahme, entweder durch direkte Besiedlung nach Kauf oder Squatting oder durch vorherige Vertreibung der indigenen Bevölkerung. Die Besiedlung erzwang einen direkteren und länger dauernden Kontakt als die Vertreibung. Mit der Besiedlung einher gingen aber auch ökologische Veränderungen, die das Ergebnis menschlicher intentionaler Handlungen, sogenannter Mikropraktiken, waren. Eine Sonderform der Vertreibung waren die Kolonialkriege gegen die Indigenen, die oft unter Hinzuziehung örtlicher europäischer Milizen und unter Beteiligung von indigenen Polizeitruppen durchgeführt wurden.
Karte aus Baker's Australian County Atlas [cartographic material]: Dedicated by the Publisher to Sir T.L. Mitchell ... Showing the Various Parishes, Townships, Grants, Purchases and Unlocated lands. Sydney : Printed and published by W. Baker ... , [1843?-1846], URL: <http://nla.gov.au/nla.map-raa8>.
Dementsprechend kann man von einer Synchronizität verschiedener Kontaktzonen und einer Asynchronizität unterschiedlichen Formen des Kontakts in der gleichen Zone ausgehen: Die Kontaktzonen rund um die Brückenkopfkolonien wie Sydney konnten multipel und synchron sein: Krankheiten nahmen von hier aus ihren Verlauf, persönliche Kontakte wurden geknüpft, Siedler machten sich von hier aus auf die Suche nach Land, Polizeitruppen und reguläres Militär waren hier stationiert. In anderen Gegenden tobten die Pocken, lange bevor ein europäischer Siedler hier gesehen wurde. Die Pockenepidemie von 1789 nahm ihren Anfang in Sydney, verbreitet sich aber von hier in den Norden und den Süden und dauerte bis 1791.
Ist die Weitergabe von Pockenerregern jenseits der Kontakte mit Weißen Siedlern noch Bestandteil der Kontaktzone? Die pastorale Frontier in Queensland, also der Bereich, in dem Viehwirtschaft innerhalb der weißen Expansionsbewegung betrieben wurde, zum Beispiel war weniger eine Kontaktzone mit Rändern als ein hin- und herwabernder Saum, der das Territorium mehrfach durchlief wie ein Buschfeuer. Einzelne HistorikerInnen gehen sogar soweit, die Pastoralfrontier als die Frontier überhaupt in der australischen Geschichte zu definieren, weil australische Aboriginal People in ihr zum ersten Mal dauerhaften Kontakt mit weißen Siedlern gehabt hätten. Es bleibt unbestritten, dass die Einführung großer Herden von Huftieren durch weiße Siedler die Ökologie des Hinterlandes nachdrücklich beeinflusste, alleine schon, weil die verfügbaren Wasservorräte von den durchziehenden Herden aufgebraucht wurden. Man muss sich immer vor Augen führen, dass die Schafe und Kühe nicht alleine nach Australien kamen, sondern von europäischen Siedlern kontrolliert wurden, die darüber entscheiden, wo und wie lange sie grasten und wie die Umwelt aussehen sollte, in denen sie ihre Tiere grasen ließen.
3. Landnahme
In der Murray-Region nahmen weiße Siedler ab 1835 Land in Besitz, wobei 1843 der Höhepunkt erreicht war. Einige dieser „Runs“ genannten Ländereien waren über 80.000 acres groß, das heißt mehr als 320 Quadratkilometer. 1863 sollen in diesem Gebiet schon zwei Millionen Schafe gegrast haben. Die gesamte Kolonie Victoria, die 1851 erst gegründet worden war, war 1861 schon vollkommen aufgeteilt, und zwar wie folgt: Die Kolonie hatte 55.644.160 acres (d.h. über 225.000 Quadratkilometer) Gesamtfläche, von denen 472.800 acres (1.913 Quadratkilometer) vor 1862 verkauft worden und 33.829.760 acres (136.894 Quadratkilometer) durch Squatter besetzt waren. Die Folgen waren tiefgreifend. Die Linien der Landnahme in den Liverpool Plains, einem Gebiet von etwa 1,2 Millionen Hektar, schoben sich nicht linear vor, sondern Squatter besetzten zuerst diejenigen Areale, die gut zu verteidigen und am Ufer eines Wasserlaufs gelegen waren.
Die dem Essay beigefügte Quelle stammt aus den Beratungen des englischen Oberhauses in London im Jahr 1844, in denen die Verhältnisse in der Kolonie New South Wales (NSW) diskutiert wurden. Die Lords interessierten sich besonders für die Frage, wie aus der ehemaligen Sträflingskolonie möglichst schnell eine Siedlerkolonie werden könnte und hatten dabei besonders die Landvergabepolitik im Visier, die eine Klasse von unabhängigen Bauern und Viehzüchtern etablieren sollte: Kronland sollte zu möglichst günstigen Bedingungen an die Siedler vergeben werden. Andererseits galt es, die Besiedlung der Kolonie kontrolliert ablaufen zu lassen, um Konflikte mit der indigenen Bevölkerung zu minimieren und einem Wildwuchs bei der Besiedlung entgegen zu wirken. Der Prozess der Landnahme gestaltete sich uneinheitlich. Neben den offiziellen Landversteigerungen durch das Land Office der Krone kam es immer wieder zum Squatting, also der eigentlich ungesetzlichen Besetzung des Landes. Das Ende der Gefängniskolonie Australien in den 1840er-Jahren sah auch eine starke Zunahme des Squatting vor. Ab 1842 wurden alle Landverkäufe durch Auktionen organisiert, wogegen sich Opposition der Siedler erhoben, die ein Recht auf Preemption, d.h. Inbesitznahme ohne Erwerb von Eigentumsrechten verlangten. Squatting wurde 1846 in New South Wales durch den Australian Land Act (6 Vic 36) und die Orders im Council legalisiert.[5] In Victoria, dem aus New South Wales 1851 herausgeschnittenen Teil der Kronkolonie, begannen schon 1835 Squatter, sich im Land festzusetzen. Squatting verlief in Australien in fünf Phasen. Zwischen 1820 und 1830 geschah es auf Gebieten nahe der Südküste, die die Regierung für die Besiedlung durch Yeoman Farmer vorgesehen hatte. Diese Gebiete hießen the limits of location und nur hier konnte Land von der Regierung legal erworben werden. Das „heroische Zeitalter“ des Squatting begann in den 1830er-Jahren, als immer mehr Viehbesitzer außerhalb der vorgesehen Gebiet siedelten, also beyond the limits. Hier konzentrierte sich das Squatting auf Victoria und New South Wales, obwohl auch schon in Queensland und South Australia gesiedelt wurde. Mit der Ausgabe der für ein Jahr geltenden Weidelizenzen für Squatting im Jahre 1836 begann die dritte Phase. Damit wurde das Land beyond the limits zu riesigen open commons, bei denen sich jeder bedienen konnte. Dies war auch die Phase der größten Bevölkerungsverluste unter den betroffenen Aborigines. Nach 1846/47 wurden diese Gebiete weitgehend in leaseholds umgewandelt, das heißt das Land wurde de facto dauerhaft übertragen und nach 1852 wurden die leaseholds in freeholds umgewandelt, das heißt die ehemaligen Squatter besaßen das Land nun auch de jure als Eigentum.[6]
Bei den in der Quelle angesprochenen depasturing licences handelt es sich um Landlizenzen, die im Zeitraum 1837 bis 1846 an Familien vergeben wurden, die außerhalb der limits of Location siedeln wollten. Diese Lizenzen konnten käuflich erworben werden.[7]
Die Quelle stammt aus einem umfangreichen Kompendium, in dem hunderte von australischen Honoratioren, Siedlern und Politiker befragt wurden. John Clements Wickham (1798–1864) war Offizier der königlichen Marine und diente als Leutnant auf der HMS Beagle während der zweiten Reise von 1831 bis 1836, an der auch der junge Charles Darwin teilgenommen hat. Nach seiner Beförderung zum Kapitän zur See diente Wickham als Kommandant der Beagle während der dritten Reise (1837) und führte zahlreiche wissenschaftliche Experimente an der australischen Küste durch. Nach seiner Pensionierung von der Marine wurde Wickham 1843 Polizeichef im Moreton Bay District in NSW, später der offizielle Repräsentant der Regierung in diesem Bezirk. Nach der Umwandlung des Distrikts in die Kolonie Queensland (1859) ging Wickham nach Frankreich, wo er auch verstarb.
4. Sozioökologische Systeme
Sozioökologische Systeme (Social Ecological Systems, kurz SES) sind Systeme, in denen menschliche Akteure und Akteure in den ökologischen Systemen miteinander verkoppelt sind. Ökologische Muster und Prozesse beinhalten den Bereich der primären Produktion, die ökologische Bevölkerungsentwicklung, die Verteilung organischer Materie im ökologischen Raum (Biomasse), die Nahrungsmittelkette des Ökotops und Störungen desselben. Soziale Muster und Prozesse meinen die Entwicklung der menschlichen Demografie, die Technologie, die Wirtschaft, die Kultur und den Fluss von Informationen in menschlichen Gesellschaften. SES stellen die Interaktionen zwischen ökologischen und sozialen Mustern auf dem Bereich der Landnutzung, der Landflächen, der Produktion, Konsumption und der Beseitigung von Abfällen dar. Sozioökologische Systeme werden durch die interdisziplinäre Wissenschaft der Systemökologie erforscht, die einen Sonderfall der generellen Systemtheorie auf dem Bereich der Ökosysteme darstellt und für die historische Abläufe von großer Bedeutung sind. Zentral für die Analyse der sozioökologischen Systeme ist die Vorstellung, dass es sich dabei um komplexe Systeme handelt. Die Systemökologie verwendet Konzepte der Thermodynamik, vor allem von Ilya Prigogines Theorie der nicht-linearen Systeme. Ein fundamentales Problem bei der Analyse von sozioökologischen Systemen ist die große Komplexität solcher Systeme. Ein konventionelles stochastisches Vorgehen wird keine geeigneten Aussagen oder gar Voraussagen generieren können, weil auch die statistische Aussage in ihrer Zuverlässigkeit nicht bestimmt werden kann. Dies liegt vor allem daran, dass klimatische Veränderungen unvorhersagbar, weil nicht-linear sind. Menschliche Handlungen im Hinblick auf gemachte Voraussagen sind außerdem reflexiv und können den Ausgang der historischen Entwicklung entscheidend beeinflussen. Entscheidend für die Veränderungen eines solchen komplexen Systems sind auch die menschlichen Mikropraktiken, die für sich genommen unbedeutend zu sein scheinen, in ihrer Summe und ihrer massenhaften Reiteration aber systemverändernde Bifurkationen auslösen. Die australische Frontier stellte ein solches SES dar und ich will zeigen, wie dieses System durch menschliche Akteure aus dem Gleichgewicht gebracht werden konnte und kollabierte. Deshalb werde ich nachfolgend einige Beispiele für derartige Mikropraktiken an der australischen Frontier nennen. Zu den wichtigsten systemverändernden Praktiken gehörten das Überjagen, das in Australien weit praktizierte Bark Ringing zur raschen Entwaldung großer Flächen, die in beiden Siedlerkolonien vorgenommene Einführung exotischer Tier- und Pflanzenarten, die für Australien dominante Pastoralwirtschaft und der damit im Zusammenhang stehende stark erhöhte Wasserverbrauch.
4.1 Überjagung
Im Gegensatz zu einem Teil der Forschung, der davon ausgeht, es habe in Australien keine systematische Überjagung gegeben, sagen die Zahlen alleine für den Zeitraum 1883 bis 1920 etwas anderes aus.
Tabelle aus: Short, Jeff; Smith, Andrew, Mammal Decline and Recovery in Australia, in: Journal of Mammalogy 75, 2 (1994), S. 288–97, hier S. 290. Alle hier genannten Tiere sind Marsupials (Beuteltiere) verschiedener Art und Größe, eine Unterklasse der Säugetiere, die ihre Jungen in einem Beutel aufziehen. Die Gruppe der eigens aufgeführten „Marsupials“ bezieht sich auf nicht näher spezifizierte Tiere und ist wohl der Ungenauigkeit der spezifischen Quellen geschuldet.
Australien hat mit Abstand die schlechteste Statistik, wenn es um das Überleben von einheimischen Säugetierarten geht. Für den Niedergang der einheimischen Mammal Population machen Biologen die Jagd, die Einschränkung der Lebensräume durch Roden und Ackerbau, die Übergrasung durch Schafe und Rinder, den Niedergang der Firestick Ecology und den Einsatz von Brandstiftung durch Viehhalter und Förster verantwortlich.
4.2 Bark Ringing
Im englischen und amerikanischen Gartenbau wurde in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch propagiert, das ringförmige Einschneiden der Rinde von Bäumen und Sträuchern führe zu einer Erhöhung der Fruchtbarkeit der so behandelten Pflanzen. Aber schon A. J. Downing widersprach dem 1845 energisch und wies auf die Schädlichkeit dieses Verfahrens für die betroffenen Bäume hin.[8] Dessen ungeachtet scheint es in der Frühzeit der australischen Besiedlung üblich gewesen zu sein, die Rodung zunächst durch eine Kombination von Holzschlagen und Verbrennen durchzuführen, so dass die Baumstümpfe im Boden verblieben. Die Kosten dieser Form der Rodung beliefen sich auf etwa fünf Pfund Sterling pro acre, konnten also bei großen Flächen sehr teuer werden. Später wurde es üblich, Bäume zu fällen, indem Kolonnen von bis zu 70 (oft chinesischen) Landarbeitern die Rinde der Bäume nahe dem Boden ringförmig einschnitten und die Borke in dem Einschnitt vollkommen entfernten. Dies führte binnen eines Jahres zum Absterben des Baumes. Im Hunter Valley, einem Distrikt nördlich von Sydney, wurden drei Viertel des Landes auf diese Weise gerodet. So heißt es in einer Quelle aus Westaustralien im Jahre 1897: „The cost per acre to clear ready for the plough ?“ “The clearing of trees, large and small, costs about £5 per acre, but many of the paddocks are cultivated while the trunks of the big gums are ringed and left standing.”[9]
Crosby hat diese Techniken unter der Rubrik „ecological imperialism“ eingereiht. Nirgendwo ist die Angemessenheit dieses Erklärungsansatzes deutlicher als in der Frage der Entwaldung.[10] Schon George Perkins Marsh konnte 1864 die Effekte der Entwaldung als Ergebnis kolonialen Vordringens deutlich hervorheben. Die Praxis des bark ringing wurde schon in den 1870er-Jahren als desaströs für die Wasservorkommen erkannt, ohne dass sie aufgegeben wurde.
4.3 Einführung exotischer Tier- und Pflanzenarten
Unter portmanteau biota versteht man in Anlehnung an Alfred W. Crosby eingeschleppte europäische Lebensformen, die in den kolonisierten Regionen „Neueuropas“ entstehen lassen, indem sie die einheimische Pflanzen- und Tierwelt überformten.[11] Alfred W. Crosby führt in seinem grundlegenden Buch Ecological Imperialism aus, dass ökologischer Imperialismus die Invasion europäischer portmanteau biota, also europäischer Nutztiere, Pflanzen, Krankheitserreger, Schädlinge und Gräser in warme Klimazonen der Erde bedeutet.[12] Ein Teil der nach Australien verbrachten portmanteau biota, also der aus Europa stammenden Krankheitserreger, Tiere und Pflanzen, wurde nicht zufällig, sondern gezielt eingeschleppt. 26 Arten exotischer Säugetiere und 27 Arten exotischer Vögel sind in Australien seit 1788 eingeführt worden. Zu diesen gehören die als „Schädlinge“ (pest) geführten europäischen Eindringlinge Kaninchen, Fuchs, Esel, Katze, Büffel und das afrikanische Kamel, die einen nachhaltigen Einfluss auf den Bodenbewuchs ausübten und eine Störung des Gleichgewichts der Tierarten bedeuteten.
4.4 Pastoralwirtschaft und Wasserhaushalt
Die Gegenwart von europäischem Großvieh in den ariden Gebieten Inneraustraliens bedeutet nicht nur einen Eingriff in die Biodiversität des Kontinents, sondern stellte eine unmittelbare Bedrohung der Aborigines dar. Weil sie im Ruf standen, das Vieh zu verschrecken, gingen Siedler mit brutalen Mitteln gegen Aborigines vor, indem sie ihnen den Zugang zum Land, zum dringend benötigten Wasser und damit zu den wichtigsten Lebensmitteln versagten. Siedler eröffneten das Feuer auf Aborigines, sobald diese sich auf dem von Siedlern besetzten Land zeigten oder ließen sie von ihren Knechten verprügeln. Schlimmer als die Vertreibung vom Land wog noch der Eingriff der Viehhalter in den prekären Wasserhaushalt der Indigenen. Flüsse, die das ganze Jahr Wasser führten, galten als Ausnahme, Seen und Tümpel waren selten und die knappen Wasserlöcher wurden von Aborigines in Ehren und Instand gehalten. Wenn eine Viehherde durch ein Gebiet getrieben worden war, so waren die Wasservorräte in der Regel verbraucht. Quellen berichten von Tümpeln, die nach Heimsuchung durch eine Viehherde so trocken waren wie ein Marktplatz und auf deren Boden Fische nach Luft schnappend auf- und absprangen. Die Folge war nicht nur der Verlust lebenswichtiger Wasservorräte für die Ureinwohner, sondern auch die zunehmende Zerstörung von Flächen, auf denen Gräser wachsen konnten.
Um den Grad der Zerstörung ermessen zu können, muss man sich ein paar Zahlen vor Augen führen: Um 1830 war die Pastoralisierung, das heisst die Überführung von Wald- und Savannenlandschaft in Weideland, von New South Wales weitgehend abgeschlossen. Teile von Victoria und Queensland waren ebenfalls erfasst. Die Landnahme geschah in der Regel zunächst auf den von Indigenen schon genutzten Flächen, ging also zu ihren Lasten. Zunächst folgten die Viehhalter den Flussläufen in den Gegenden, wo sich der geringste indigene Widerstand regte. 1839 gab es in den Arealen, die nicht vermessen und zum Verkauf freigegeben waren, bereits 1,4 Millionen Schafe und Gouverneur George Gipps beschrieb die Verbreitung des Viehs als unvermeidlich und unaufhaltsam.[13]
5. Zusammenfassung
Die Erklärung der komplexen Dynamik der Frontiers ist ohne eine ökologisch-informierte Deep History unmöglich. Die Vertreibung und Vernichtung der Aborigines kann nur im Kontext des Zusammenbruchs des SES analysiert werden, dessen Teil sie waren. Die Quelle weist ausdrücklich auf den Zusammenhang zwischen rascher weißer Landnahme, aggressiver Siedlungspolitik und Widerstand der Aborigines hin. Nicht zuletzt die Kontrolle der indigenen Bevölkerung durch die berittene „Polizei“, die in Wirklichkeit eine Militäreinheit war, schien der Londoner Regierung am Herzen zu liegen.
[1] Essay zur Quelle: Beratungen des englischen Oberhauses über die Verhältnisse der Kolonie New South Wales (1844). Dieser Essay ist Teil einer Serie von fünf Beiträgen, die aus einer Sektion des 48. Deutschen Historikertages in Berlin mit dem Titel „Grenzmissverständnisse in der Globalgeschichtsschreibung (ca. 1500–1900)“ hervorgegangen sind. Für eine Übersicht aller Beiträge und eine einführende und übergreifende Darstellung der Thematik vgl. Susanne Rau und Benjamin Steiner, Europäische Grenzordnungen in der Welt. Ein Beitrag zur Historischen Epistemologie der Globalgeschichtsschreibung, in: Themenportal Europäische Geschichte, URL: <http://www.europa.clio-online.de/2013/Article=611>.
[2] Kiernan, Ben, Blood and Soil: A World History of Genocide and Extermination from Sparta to Darfur, New Haven 2007, S. 250.
[3] Julie Evans, Beyond the Frontier: Possibilities and Precariousness along Australia’s Southern Coast, in: Russell, Lynette (Hg.), Colonial Frontiers: Indigenous-European Encounters in Settler Societies. Studies in Imperialism, Manchester 2001, S. 151–172.
[4] Finzsch, Norbert, Die Frühgeschichte der biologischen Kriegsführung im 18. Jahrhundert: Nordamerika und Australien im Vergleich, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 22 (2003), S. 9–29.
[5] Clune, David; Ken Turner, The Governors of New South Wales 1788–2010, Annandale 2009, S. 193 f. Davidson, Alastair, The Invisible State: The Formation of the Australian State 1788–1901. Studies in Australian History, Cambridge, Melbourne 1991, S. 73. Further Papers Relative to the Alterations in the Constitutions of the Australian Colonies, London 1852/53, Band 63, S. 98.
[6] Weaver, John C., Beyond the Fatal Shore: Pastoral Squatting and the Occupation of Australia, 1826 to 1852, in: The American Historical Review 101, 4 (1996), S. 981–1007, hier S. 984 f.
[7] State Records NSW, NRS 14363, Certificates for Depasturing Licenses 1837–1846, 19 Bde.
[8] Downing, A. J., The Fruits and Fruit Trees of America; or, the Culture, Propagation, and Management, in the Garden and Orchard, of Fruit Trees Generally; with Descriptions of All the Finest Varieties of Fruit, Native and Foreign, Cultivated in This Country, New York, London 1845, S. 34.
[9] Lindley-Cowen, L.; Bureau of Agriculture (Western Australia), The West Australian Settler's Guide and Farmer's Handbook. Part 1, [Perth?] 1897, S. 135.
[10] Williams, Michael, Ecology, Imperialism and Deforestation, in: Griffiths, Tom; Robin, Libby, Ecology and Empire: Environmental History of Settler Societies, Melbourne, Victoria 1997, S. 169–184.
[11] Crosby, Alfred W. The Columbian Exchange: Biological and Cultural Consequences of 1492. Westport 2003. Ders. Germs, Seeds & Animals Studies in Ecological History, Armonk 1994.
[12] Crosby, Alfred W. Ecological Imperialism: The Biological Expansion of Europe, 900–1900, Cambridge u.a. 2004.
[13] Die Gebiete, die große Viehhalter und kleine Squatter kontrollierten, waren beachtlich. So vermerkt ein Bericht des Gouverneurs von New South Wales aus dem Jahre 1846: „Taking the four largest and the four smallest occupiers of land in each of the [...] 14 districts, we shall have 56 large and 56 small squatters, and it will be found that the 56 large occupiers hold collectively [...] 7,750,640 acres of land, and that the 56 small occupiers [...] hold 433,460 acres, so that the largest squatters have each [...] 138,404 acres; the small squatters only 7,740 acres [...]” (The Sessional Papers Printed by Order of the House of Lords or Presented by Royal Command in the Session 1846, London 1846, S. 254 f.).
Literaturhinweise
Butzer, Karl W.; Helgren, David M., Livestock, Land Cover, and Environmental History: The Tablelands of New South Wales, Australia, 1820–1920, in: Annals of the Association of American Geographers, 95 (2005), S. 80–111.
Campbell, Judy, Invisible Invaders. Smallpox and Other Diseases in Aboriginal Australia, 1780–1880, Carlton South, Victoria 2002.
Finzsch, Norbert, „The Aborigines [...] were never annihilated, and still they are becoming extinct“: Settler Imperialism and Genocide in Nineteenth-Century America and Australia, in: Moses, Dirk; Stone, Dan, (Hgg.), Colonialism and Genocide, London 2007, S. 253–270.
Ders., Die Frühgeschichte der biologischen Kriegsführung im 18. Jahrhundert. Nordamerika und Australien im Vergleich, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 22 (2003), S. 9–29.
Goodall, Heather, Invasion to Embassy: Land in Aboriginal Politics in New South Wales, 1770–1972, St. Edwards, NSW, Australia 1996.