Die sozialistische und sozialdemokratische Europapolitik in Italien und der Bundesrepublik zu Beginn der 1960er-Jahre

Zu Beginn der 1960er-Jahresahen sich die Sozialdemokraten in der Bundesrepublik und die italienischen Sozialisten durch de Gaulle herausgefordert. Seine Vorstellungen eines Europas vom Atlantik bis zum Ural und der Position Frankreichs innerhalb der NATO sowie der europäischen Organisationen waren von seinem Anspruch nach der grandeur Frankreichs geprägt. Die Größe Frankreichs im Rahmen des Kalten Krieges bestätigt zu sehen war sein Ziel. Folglich konnten seine Schritte und Entscheidungen nicht immer von den westlichen Partnern akzeptiert werden. Die Ablehnung der Europapolitik de Gaulles bestärkte die Sozialisten in Italien, den PSI, und die Sozialdemokraten in der Bundesrepublik Deutschland, die SPD, in dem bereits eingeschlagenen Weg, nach der Zurückweisung der ersten europäischen Institutionen zu Beginn der 1950er-Jahre nun die europäische Integration und die geschaffenen Institutionen zu stützen. Die Reaktion auf de Gaulle war somit ein Indikator für die Entwicklung der europapolitischen Vorstellungen be

Die sozialistische und sozialdemokratische Europapolitik in Italien und der Bundesrepublik zu Beginn der 1960er-Jahre[1]

Von Patrick Bredebach

Einleitung

Zu Beginn der 1960er-Jahresahen sich die Sozialdemokraten in der Bundesrepublik und die italienischen Sozialisten durch de Gaulle herausgefordert. Seine Vorstellungen eines Europas vom Atlantik bis zum Ural und der Position Frankreichs innerhalb der NATO sowie der europäischen Organisationen waren von seinem Anspruch nach der grandeur Frankreichs geprägt. Die Größe Frankreichs im Rahmen des Kalten Krieges bestätigt zu sehen war sein Ziel.[2] Folglich konnten seine Schritte und Entscheidungen nicht immer von den westlichen Partnern akzeptiert werden. Die Ablehnung der Europapolitik de Gaulles bestärkte die Sozialisten in Italien, den PSI, und die Sozialdemokraten in der Bundesrepublik Deutschland, die SPD, in dem bereits eingeschlagenen Weg, nach der Zurückweisung der ersten europäischen Institutionen zu Beginn der 1950er-Jahre nun die europäische Integration und die geschaffenen Institutionen zu stützen. Die Reaktion auf de Gaulle war somit ein Indikator für die Entwicklung der europapolitischen Vorstellungen beider Parteien. Sie hatten sich in beiden Staaten vor dem Hintergrund der faschistischen Diktaturen und des Neuanfangs im Rahmen des Kalten Krieges entwickelt. Ferner sahen sich beide Parteien christdemokratisch dominierten Regierungen gegenüber, sodass sich die SPD und der PSI erst in ihrer Oppositionsrolle finden mussten und ihre politischen Forderungen, auch in der Europapolitik, zunehmend an veränderte gesellschaftliche Realitäten, wie das Wirtschaftswachstum, anpassen mussten. In Deutschland und Italien wurden zu Beginn der 1960er-Jahre Koalitionen mit den christdemokratischen Parteien möglich, wovon die Europapolitik maßgeblich beeinflusst wurde.[3] Die Quellen, auf die sich dieser Essay bezieht, sind Beispiele für die Positionierung in der Europapolitik, die durch die Anforderungen durch de Gaulle nun klarer formuliert wurde.

Die erste Quelle, ein Kommentar im Avanti! vom 19. April 1962 unter dem Titel Welches Europa?, zeigt die grundlegende Position der italienischen Sozialisten zum geeinten Europa auf. Wenige Tage zuvor waren Verhandlungen im Rahmen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gescheitert, wonach eine Europäische Politische Union geschaffen werden sollte. Der Plan de Gaulles, die EWG durch weitere Institutionen zu ergänzen, schlug fehl. Kritiker sprachen von einer Entleerung der EWG durch ein stärker von den Regierungen geprägtes Europa. Er scheiterte an dem Nein der Regierungen Belgiens und der Niederlande, die den angedachten neuen Strukturen nur zustimmen wollten, wenn die gleichzeitig stattfindenden Verhandlungen mit Großbritannien für einen Beitritt zur EWG erfolgreich abgeschlossen wurden. De Gaulle wiederum hatte bereits in den Jahren zuvor die Nähe zum deutschen Bundeskanzler Adenauer gesucht. Einerseits wurde hiermit die deutsch-französische Aussöhnung weiterentwickelt und zur Freundschaft ausgebaut. Andererseits erweckte die enge Zusammenarbeit der beiden größten Staaten in den europäischen Institutionen das Misstrauen der kleineren Partner, aber auch der USA und Großbritanniens.

Das Scheitern der Europäischen Politischen Union bestärkte Adenauer und de Gaulle. Im Herbst 1962 kam es zu Verhandlungen über eine engere Zusammenarbeit, die schließlich in dem deutsch-französischen Vertrag vom Januar 1963 mündeten. Der Vertrag griff Elemente der Europäischen Politischen Union auf. Diese wurden nun nicht zu sechst, sondern zu zweit umgesetzt. Die deutsch-französische Aussöhnung hatte damit einen bedeutendes Teilziel erreicht, das jedoch durch de Gaulles Zurückweisen eines möglichen britischen Beitritts zur EWG sowie amerikanisch-britischer Pläne zur atomaren Bewaffnung der NATO überschattet wurde. Ein Streit um die Vereinbarkeit dieser Schritte mit den bisherigen außenpolitischen Entscheidungen war vorprogrammiert. Waren sie mit dem beschworenen „europäischen Geist“ vereinbar? Gefährdeten diese Sonderinteressen nicht gar die atlantische Partnerschaft? Jene Fragen beschäftigten die SPD im Frühjahr 1963, als der deutsch-französische Vertrag beraten und mit einer klärenden Präambel versehen wurde. Über jene Diskussion gibt die Quelle 2, ein Artikel aus dem SPD-Pressedienst, Aufschluss.

Die italienischen Sozialisten und Europa

Die italienischen Sozialisten standen zu Beginn der 1950er-Jahre klar auf die Seite der Sowjetunion und lehnten sich eng an die italienischen Kommunisten an, während sich die westlich orientierten Sozialdemokraten in den 1940er-Jahren abgespalten hatten. Folglich lehnten die Sozialisten die Gründung erster westlicher europäischer Institutionen ab.[4] Doch seit dem Tode Stalins im Jahr 1952 lösten sich die Sozialisten zusehends von dieser alten Position. Dies korrespondierte mit einer langsam steigenden Zustimmung für die europäischen Organisationen. Bei der Abstimmung zu den Römischen Verträgen im Jahr 1957 zur EWG und der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) enthielt man sich bereits der Stimme. Die langsam positiver werdende Einstellung gegenüber den europäischen Institutionen und auch der NATO bei gleichzeitiger Annäherung an die christdemokratisch geführten Regierungen führte intern zu heftigen Debatten, wobei sich die Befürworter einer zunehmenden Akzeptanz der westlichen Strukturen im PSI durchsetzen konnten.

Die Gründe für die Positionsänderung waren vielfältig. Einer war die Hoffnung, dass das Wirtschaftswachstum planbar und sozial ausgewogen weitergeführt werden könnte. Die italienischen Sozialisten, insbesondere deren wirtschaftspolitischer Vertreter Lombardi, hofften, die zweite industrielle Revolution fortschrittsoptimistisch mitzugestalten.[5] Die zunehmende Automatisierung versprach Wohlstand, an dem die Arbeitnehmer partizipieren sollten. Um dies durchzusetzen, erschien der Nationalstaat zunehmend als zu klein. Die Volkswirtschaften schienen sich immer stärker zu verflechten und das Ziel eines gemeinsamen europäischen Marktes forderte geradezu heraus, Europa als Ort für soziale Forderungen zu begreifen. Europa schien also für die Durchsetzung von Arbeitnehmerrechten geeignet zu sein. Darüber hinaus versprach ein größerer Wirtschaftsraum automatisch ein höheres Wachstum zu generieren. Diese These verfochten fast alle politischen Parteien, doch nun schloss die Mehrheit der Sozialisten, dass hierdurch zugleich die kapitalistischen Kräfte kontrolliert werden könnten. Gestützt wurde die These der Notwendigkeit größerer Räume durch die Annahme, dass insbesondere technische Entwicklungen eine trans-, wenn nicht gar supranationale Kooperation notwendig machten. Die Diskussion um die Nutzung der Kernenergie war hierfür ein gutes Beispiel. Die grundsätzlich als notwendig erachtete Investition in diese Technologie schien für die einzelnen Staaten zu groß zu sein. Eine Kooperation war somit logisch und geboten. Darüber hinaus ermöglichte ein europäischer Zugriff die Möglichkeit, Partner von eventuellen militärischen Nutzungen der Kernenergie abzuhalten, was insbesondere den Konservativen als eigentliche Intention für die europäische Zusammenarbeit unterstellt wurde.[6]

In dem Kommentar des Avanti! war von einem fortschrittlichen Europa als Gegenmodell zum konservativen Europa de Gaulles und Adenauers die Rede. Dieser Fortschritt hatte eine wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Dimension. Das Europa des PSI sollte eine moderne, demokratische und soziale Alternative zu einem Europa sein, das als Europa der Konzerne und Konservativen beschrieben wurde. In Ablehnung dieses Gesellschaftsbilds schärfte der PSI sein Europabild als Gegenmodell, wobei die aktuellen Institutionen als Plattform für eigene Forderungen erkannt wurden.

Technische Errungenschaften und soziale Gerechtigkeit mussten also nach Lesart der italienischen Sozialisten in Einklang gebracht werden. Das galt nicht nur für den europäischen oder den nationalen Raum, sondern auch im Verhältnis zu den Entwicklungsländern. Die wirtschaftliche Kooperation wurde als integraler Bestandteil einer gelungenen Entwicklungspolitik aufgefasst. Wirtschaftliches Wohlergehen durch faire Kooperation erschien als Grundlage für den Frieden. Auch in der Außen- und Verteidigungspolitik sollte ein geeintes Europa helfen, eigene Vorstellungen durchzusetzen. Wenn nun im Avanti! von einem Europa der Entspannung gegen ein Europa des Kalten Krieges die Rede war, bedeutete dies genau jenes. Nach der Abnabelung der italienischen Sozialisten von der Sowjetunion forderten diese umso stärker eine Politik der Entspannung zwischen Ost und West. Die Mehrheit des PSI um dessen Vorsitzenden Nenni wollte dafür die Mitsprache in der NATO über europäische Gremien stärken. Hier hatte man Gemeinsamkeiten mit den abgespaltenen italienischen Sozialdemokraten gegen ein autoritäres Europa. Statt den Ost-West-Konflikt zu verschärfen, und dies hielt man den Bestrebungen de Gaulles und Adenauers im Kern vor, sollte die Politik in einem gemeinsamen Europa auf die internationale Situation entspannend wirken. Somit wurde gerade mit der Negation der Ideen de Gaulles und Adenauers Europa innerhalb des PSI immer mehrheitsfähiger.[7]

Hinzu kam ein taktisches Argument. Wollte man an der Regierung teilhaben, und ab Ende 1963 kam es zur Regierungsbeteiligung der italienischen Sozialisten, musste in der Außenpolitik zumindest teilweise eine Einigung erzielt werden. Die Europapolitik bot sich hier an, da in der Verteidigungs- und Bündnispolitik der NATO größere Unterschiede bestanden. Ein modernes Europa sollte aus Sicht des PSI den alten Antagonismus des Kalten Kriegs überwinden und zusammen mit den new frontiers Kennedys alte konservative Positionen in Europas Gesellschaften ablösen. Gleichzeitig rief die Diskussion um die Europapolitik bei den italienischen Christdemokraten heftige interne Verwerfungen hervor.[8] Insbesondere die Frage, wie mit dem deutsch-französischen Vertrag umgegangen werden sollte, war umstritten. Sie ging mit der gleichzeitig stattfindenden Debatte über die Regierungsbeteiligung der Sozialisten einher. Angesichts des anstehenden Wahlkampfes im Frühjahr 1963 waren die europapolitischen Dissonanzen innerhalb der italienischen Christdemokraten jedoch schnell überwunden. Rasch dominierte wieder die Formel, Europa schnell zu einigen und eine weitere Spaltung zu verhindern. Dabei herrschte in Italien ein parteiübergreifender Konsens vor, dass Europa föderalistisch aufgebaut sein müsse. Was diese Chiffre genau bedeuten sollte, blieb indes ungewiss.

Eine europäische Einigung wurde stets zur Lösung von Problemen gefordert. Dabei wurde von allen Parteien ein „wahres Europa“ gefordert, das in Abgrenzung zu bestehenden Vorstellungen und Systemen definiert wurde. Bei gleichzeitiger Akzeptanz trans- und supranationaler Kooperation konnte dies nur bedeuten, die bestehenden institutionellen Möglichkeiten für die eigenen Forderungen zu nutzen. Damit ging aber die Akzeptanz der europäischen Institutionen einher, um Schlimmeres zu verhindern.[9] De Gaulles Vorstellungen trugen somit dazu bei, die europäische Integration als Korrektiv zu verstehen und verhalfen der europäischen Integration zur Akzeptanz in weitere Bevölkerungskreise, die jetzt auch die Sozialisten, nicht jedoch die Kommunisten umfasste. Somit konnte sich eine europäische Einigung einer breiteren Zustimmung als zuvor erfreuen. Für den PSI wirkte der Antagonismus zum Europabegriff de Gaulles dabei mobilisierend.

Europa im atlantischen Bündnis – die SPD und Europa

Die SPD hatte sich seit ihrem Bestehen für eine europäische Einigung ausgesprochen.[10] Doch dies fand nur bedingt Niederschlag in der Nachkriegspolitik der SPD, die durch ihren Vorsitzenden Schumacher dominiert wurde. Sein Antikommunismus ließ einerseits an der Einordnung der Bundesrepublik in den Westen nach dem Zweiten Weltkrieg und den aufziehenden Kalten Krieg keinen Zweifel. Andererseits betonte Schumacher stärker als sein christdemokratischer Konkurrent Adenauer das Ziel einer deutschen Einheit und einer wirklichen deutschen Gleichberechtigung innerhalb der westlichen und europäischen Organisationen. Beides sah die SPD durch die Gründung der europäischen Organisationen und der NATO gefährdet. Sie lehnte somit die EGKS und den deutschen Beitritt zum Europarat ab. Nach dem Tode Schumachers und der Niederlage bei der Bundestagswahl 1953 setzte in der SPD eine personelle und inhaltliche Wende ein. Davon war auch die Europapolitik betroffen. Der unübersehbare wirtschaftliche Aufschwung und die zunehmende Konsolidierung des politischen Systems zwangen die SPD, sich neu zu positionieren. Nicht mehr Fundamentalopposition, sondern die Möglichkeit zur Mitentscheidung dominierte zunehmend. Gleichzeitig arbeitete die SPD in den europäischen Gremien mit. Durch diese Zusammenarbeit änderte sich langsam die Einstellung zu den Institutionen selbst. Dies zeigte sich bei der Beratung der Römischen Verträge zur Gründung der EWG und der Euratom. Die EWG wurde als Überwindung alter Kritikpunkte aufgefasst und die europäische Ebene galt nun als geeignete Instanz zur Mitbestimmung. Eine sich schneller entwickelnde Wirtschaft und Gesellschaft sollte gestaltet, die konstatierte „zweite industrielle Revolution“ positiv begleitet und sozial ergänzt werden. Dies traf mit der These zusammen, wonach größere Wirtschaftsräume mehr Wachstum generierten. Ferner sollte der technische Fortschritt durch transnationale Kooperation forciert und gelenkt werden, um Europas Position in der Welt zu festigen.

Ein zu einigendes Europa war dabei stets Teil des Kalten Kriegs. Dessen war sich die SPD bewusst. Sie akzeptierte an der Wende zu den 1960er-Jahren die Grundsatzentscheidungen der Ära Adenauer.[11] Vermehrt wurde über eine mögliche große Koalition spekuliert. Die Herausforderung durch die Politik de Gaulles und dessen enge Absprachen mit Bundeskanzler Adenauer boten noch bessere Perspektiven. Die SPD konnte sich nun als staatstragende Partei inszenieren und somit einer Regierungsbeteiligung näher rücken. Darüber hinaus wurden ihre Politiker immer stärker europäisch eingebunden. So arbeitete Herbert Wehner – geradezu das verkörperte deutschlandpolitische Gewissen, der lange davor gewarnt hatte, dass gerade die europäischen Integrationsschritte die deutsche Einheit verhindern könnten – nun im Aktionskomitee zur Einigung Europas von Jean Monet mit und wurde zu einem Befürworter der europäischen Integration. Ebenso profilierte sich Birkelbach als Europapolitiker, indem er die sozialistische Fraktion im Europäischen Parlament führte. Dass der Artikel aus dem SPD Pressedienst beide Redner hervorhebt, ist wenig verwunderlich, waren doch beide Mahner Teil der Debatte zur außenpolitischen Grundorientierung.

Mit seiner Anlehnung an die Politik de Gaulles ging Adenauers zunehmend pessimistischere Einschätzung der USA einher. Die westliche Supermacht garantierte im Grunde die Sicherheit der Bundesrepublik, doch zunehmend verbreitete sich die Befürchtung, dass diese nicht mehr bereit wäre, bis zum äußersten Europa und die Bundesrepublik zu verteidigen. Wie sollte man damit umgehen? Es gab hierauf im Grunde zwei Antworten. Die erste wurde von der SPD und Teilen der Union vertreten. Demnach durfte man den USA keinen Vorwand geben, selbst an den eigenen Bündnisverpflichtungen zu zweifeln. Treue und Vertrauen in die Entscheidungen der USA seien notwendig. Erst dadurch könnten diese auch beeinflusst werden. Die zweite Antwort hielt zwar auch an den Bündnispflichten fest. Sie sollten aber ergänzt werden. Dazu sollte die engere Zusammenarbeit mit Frankreich dienen. Doch konnten diese Schritte von den Befürwortern der ersten Strategie als Zeichen außenpolitischer Unzuverlässigkeit aufgefasst werden, die ja gerade vermieden werden sollte. Diese Positionen prägten die Diskussion des deutsch-französischen Vertrags.

Die SPD konnte sich nun mit diesem Argument als Hüter außenpolitischer Zuverlässigkeit ausgeben. Alleingänge mit Frankreich gefährdeten demnach die verteidigungspolitischen und außenpolitischen Grundannahmen der NATO. Adenauer schien von seinem eigenen Standpunkt abgerückt und geradezu ein Auslaufmodell zu sein. Europa sollte nach den Vorstellungen der SPD innerhalb der atlantischen Gemeinschaft gestärkt werden, und zwar nicht mit einer engeren, eventuell besonderen Verbindung mit Frankreich, sondern vor allem durch eine Erweiterung der EWG um Großbritannien, zumal die europäische Einigung ohnehin häufig von der SPD als „zu klein und zu konservativ“ kritisiert worden war. Dass die Europapolitik in den Unionsparteien selbst umstritten war, kam den Sozialdemokraten dabei zu Pass.[12] Die SPD wurde zu einem Mahner, die NATO nicht bedeutungslos werden zu lassen. Adenauers Politikstil und dessen Gesellschaftsbild wurden dichotomisch der neuen Politik Kennedys gegenüber gestellt. Der Kampf für ein richtiges Europa wurde dabei von der SPD mit dem alten Argument untermauert, wonach sie die erste Partei gewesen sei, die ein wahres Europa gefordert hätten. Darüber hinaus schien nur die europäische Ebene geeignet, moderne Probleme auch im sozialen Bereich zu lösen und Korrektiv einer als zu marktliberal empfundenen Wirtschaftspolitik Erhards zu sein.

Die SPD vermied bei ihren Bedenken zum deutsch-französischen Vertrag den nahe liegenden Vorwurf, durch einen zu starken Protest der deutsch-französischen Freundschaft zu schaden. Der Vertrag wurde nicht als solcher in Frage gestellt. Stattdessen sollte dieser näher erklärt und in die deutsche Außenpolitik explizit eingebunden werden. Zusammen mit Kritikern aus dem Regierungslager entstand somit die Lösung durch einen Zusatz zum Vertrag.[13] In der Präambel wurde die Einbindung der Vereinbarung in das westliche Bündnis betont. Die deutsch-französische Freundschaft sollte als Teil der europäischen und atlantischen Partnerschaft konzipiert sein. Der Zusatz düpierte de Gaulle und Adenauer und war Beweis für die SPD, außenpolitische Positionen nun stärker durch Kooperation als durch Fundamentalopposition beeinflussen zu können. De Gaulles Europapolitik bestätigte folglich ex negativo die neue Europapolitik der SPD.

Vergleich und Fazit

Die Jahre 1962/63 und die folgenden Jahre sind wiederholt als schwierige Jahre für die europäische Integration aufgefasst worden. Die Politik de Gaulles berührte im Kern die Frage, wofür denn eigentlich Europa integriert werden sollte. Die Äußerungen der SPD und des PSI machten die Äußerungen deutlich, wie sich ihre Europapolitik in den vergangenen Jahren verändert hatte – von der Ablehnung der ersten Schritte der europäischen Integration bis hin zur Akzeptanz aktueller Institutionen – zweifellos auch zur Eindämmung französischer Avancen. Die eigene Partizipation wurde nun von der SPD und Teilen des PSI stärker denn je propagiert. Damit war aber die europäische Integration in ihrer bestehenden Form Konsens geworden. Beim Vergleich der beiden Parteien lassen sich dabei Parallelen erkennen. So waren in beiden Staaten die Diskussionen der 1940er-und frühen 1950er-Jahre zu einer europäischen Gemeinschaft von Überlegungen geprägt, wonach ein europäischer Zusammenschluss die Gesellschaften erneuern und somit die Gründe für die faschistischen Diktaturen beseitigen sollte – auch auf internationaler und europäischer Ebene. Die ersten europäischen Integrationsschritte im Rahmen des Kalten Krieges entsprachen nicht diesen Wunschvorstellungen und wurden daher abgelehnt. Die langsame Akzeptanz der europäischen Ebene war dann in beiden Staaten Bestandteil eines Normalisierungsprozesses. Der PSI und die SPD akzeptierten erst langsam ihren Oppositionsstatus und fanden in der Außenpolitik sukzessive zu einer Zusammenarbeit mit der jeweiligen Regierung, wobei sich der PSI eben sukzessive von den Kommunisten löste und die SPD die Deutschlandpolitik weniger stark thematisierte. Hinzu kam in beiden Staaten ein wirtschaftlicher Aufschwung – entgegen der Prognosen beider Parteien. Nun galt es aber, diesen Aufschwung für soziale Errungenschaften durch Mitbestimmung auf nationaler und europäischer Ebene zu nutzen. Darüber hinaus setzte in beiden Staaten ein gesellschaftlicher Wandel ein, sodass die klassischen Milieus der beiden Parteien schwanden und sie sich zunehmend dem neuen Arbeitnehmer zuwenden mussten. Die Argumente und die Beweggründe des PSI und der SPD – Fortschrittsoptimismus, Wunsch nach Mitbestimmung und Regierungsbeteiligung, Europa als fortschrittliches Gesellschaftsmodell und Korrektiv nationaler Fehlentwicklungen – waren also ähnlich gelagert, auch wenn der PSI im Gegensatz zur SPD die Zugehörigkeit Italiens zur NATO noch langfristig überwinden wollte. Hinzu kamen Kontakte auf europäischer Ebene zwischen den sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien, obwohl der PSI erst Mitte der 1960er-Jahre eingebunden wurde, nachdem man sich mit den westlich orientierten Sozialdemokraten wiedervereinigt hatte, die bis dahin in der Internationalen für Italien Mitglied gewesen waren. Schlussendlich waren PSI und SPD in den 1950er-Jahren aus ähnlich gelagerten, vor allem nationalen Entwicklungen „europafreundlicher“ geworden, was aber nun in der Auseinandersetzung Anfang der 1960er-Jahre über die Außenpolitik de Gaulles ihren Ausdruck fand. Diese Prozesse lassen sich in den beiden Dokumenten des Pressedienstes und des Avanti! aufzeigen.



[1] Essay zu den Quellen: „Welches Europa?“ (19. April 1962) / „Die Sorge um Europa“ (26. April 1963).

[2] Zur Europapolitik de Gaulles siehe Lappenküper, Ulrich, Die deutsch-französischen Beziehungen 1949–1963. Von der „Erbfeindschaft“ zur „Entente élémentaire“. 1958–1963 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 49, Teilband 2), München 2001. S. 1446 ff.

[3] Zur Einbettung der Debatten um Europa in Deutschland und Italien in die politische Konkurrenzsituation vor dem Hintergrund gemeinsamer Entwicklungen siehe Bredebach, Patrick, Das richtige Europa schaffen, Göttingen 2013, darin: zur Wahl Deutschlands und Italiens: S. 13 ff; zur Debatte Anfang der 1960er-Jahre in beiden Staaten: S. 297 ff.

[4] Das detaillierteste Werk zur Europapolitik der PSI in den 1950er-Jahren ist Scirocco, Giovanni, „Politique d'abord“. Il psi, la guerra fredda e la politica internazionale (1948–1957), Mailand 2010.

[5] Ebd., S. 258–260.

[6] Siehe hierzu die Warnung Paolo Vittorellis im Mondo Operaio, der monatlichen Zeitschrift des Vorsitzenden des PSI, Pietro Nenni: Vittorelli, Paolo, La crisi della NATO, in: Mondo Operaio, (1962), S. 5f.

[7] Als Auszug unterschiedlicher Quellen sei verwiesen auf einen Artikel in einer sozialdemokratischen Zeitschrift: Torielli, Carlo, Il socialismo e l’unità eropea. In: Critca Sociale vom 05.08.1962, S. 369f., besonders S. 370. Die Forderung einer europäischen Einigung gehörte auch bei den Christdemokraten zum guten Ton.

[8] Vertreter unterschiedlicher Gruppen auf dem rechten Flügel der christdemokratischen Partei, der Democrazia Cristiana (DC), kritisierten eine Politik des zunehmenden Einbindens der Sozialisten in die Regierung, der Öffnung nach links (Apertura a sinistra). Dies spiegelte sich auch in der Europapolitik. In der Zeitschrift einer der Gruppen auf dem rechten Flügel um den Politiker Scelba kam es am 3. Februar 1963 zu einer Kontroverse zwischen dem Befürworter der Politik der Führung der DC, Franco Malfatti, und Mario Scelba bezüglich der Reaktion der italienischen Regierung auf die Politik de Gaulles. Die Kontroverse ist ein gutes Beispiel für den Konfliktstoff, den dies für die Christdemokraten aus selbst barg. Siehe Malfatti, Franco, Non si tratta di essere pro o contro De Gaulle ma di far progredire l‘unità politica dell’Europa, in: Il Centro vom 03.02.1963, S. 1. Die Antwort Scelbas: Ebd. S. 1f.

[9] Im Grunde argumentiert so der Artikel Vittorelli, La crisi della NATO.

[10] Zu der Europapolitik der SPD in den 1950er-Jahren siehe Rogosch, Detlef, Vorstellungen von Europa: Europabilder in der SPD und bei den belgischen Sozialisten 1945–1957, Hamburg 1996.

[11] Zur Europapolitik der SPD an der Wende von den 1950er- zu den 1960er-Jahren siehe Bellers, Jürgen, EWG und die “Godesberger” SPD, Siegen 2003. S. 117ff.

[12] Zum Streit in der Union: Geiger, Tim, Atlantiker gegen Gaullisten, München 2008. Explizit zur Positionierung der SPD und der CDU zu de Gaulle: Marcowitz, Reiner, Option auf Paris? Unionsparteien, SPD und Charles de Gaulle 1958–1969 (Studien zur Zeitgeschichte, Bd. 49), München 1996. Zur „Profilierung als ‚amerikanische Perle‘“, vgl. ebd. S. 132ff.

[13] Siehe Marcowitz, Option auf Paris. S. 98ff.



Literaturhinweise

  • Bellers, Jürgen, EWG und die “Godesberger” SPD, Siegen 2003.
  • Bredebach, Patrick, Das richtige Europa schaffen. Europa als Konkurrenzthema zwischen Sozial- und Christdemokraten – Deutschland und Italien von 1945 bis 1963 im Vergleich, Göttingen 2013.
  • Geiger, Tim, Atlantiker gegen Gaullisten, München 2008.
  • Rogosch, Detlef, Vorstellungen von Europa: Europabilder in der SPD und bei den belgischen Sozialisten 1945–1957, Hamburg 1996.
  • Scirocco, Giovanni, “Politique d'abord”. Il psi, la guerra fredda e la politica internazionale (1948–1957), Mailand 2010.

Quelle 1: Welches Europa? (19. April 1962)[1]

Die Pariser Konferenz der sechs Außenminister des „Kleinen Europas“, in die diejenigen viel Vertrauen gelegt hatten, die einen definitiven relaunch des europäischen politischen Aufbaus erhofften, ist ohne Ergebnis zu Ende gegangen, was die Perspektive eines kurzfristigen Starts der westlichen Einheit, man weiß nicht für wie lange, in weite Ferne verschiebt. Der mühevolle Kompromiss, der in Turin zwischen De Gaulle und Fanfani erreicht worden war [und] dem Kanzler Adenauer beim Treffen mit dem Ministerpräsidenten [Fanfani, P.B.] in Cadenabbia zugestimmt hat, ist von den Belgiern und den Holländern zurückgewiesen worden, die explizit eine Vorbedingung für jedwede politische Einigung genannt haben, den Beitritt Großbritanniens zur EWG.

Man beschuldigt Belgier und Holländer, Befürworter einer supranationalen Einigung, einer ablehnenden Haltung, da diese gut wüssten, dass, wenn es ein Europa gäbe, an dem sich Großbritannien beteiligen könnte, dieses eigentlich jenes gaullistische „der Vaterländer“ wäre, zumal es für England unmöglich wäre, die eigene Nationalität in einem supranationalen Organismus aufgehen zu lassen. Es ist offenkundig, dass der Belgier Spaak und der Holländer Luns sich des Widerspruchs bewusst sind und dass ihr Bestehen auf föderalen Positionen nicht so sehr auf die Einigung in einem engen institutionellen Sinne, sondern eher auf den breiten politischen Bereich zielt: sie wollen sich nicht in ein „Europa der Vaterländer“ einreihen, in dem das Duo Adenauer-De Gaulle offensichtlich die Oberhand hätte und dem sie ihre rigide Politik in der internationalen Politik aufzwingen würde.

Dies ist der Punkt, der den Bruch herbeigeführt hat: Die Forderung von Spaak und Luns, die Unterzeichnung des Vertrags zur politischen Union bis zum Beitritt Großbritanniens zum gemeinsamen Markt zu verschieben ist von den anderen vier Regierungen nicht angenommen worden und so sind die sechs Minister abgereist, ohne auch nur ein Datum für eine weitere Zusammenkunft festzulegen. Damit löst sich auch der für Juni in Rom vorgesehene Gipfel in Luft auf, wo der Vertrag über die europäische Union feierlich unterzeichnet werden sollte.

Welche Perspektiven ergeben sich nun für den alten Kontinent? Niemand ist heute in der Lage Vorhersagen zu treffen, und nur nach einem Abschluss der Verhandlungen zwischen England und der EWG wird sich die Situation, vielleicht, geklärt haben. In der Zwischenzeit muss das Hauptproblem gelöst werden, das so jäh von den Belgiern und Holländern aufgedeckt worden ist: Also nicht so sehr, ob Europa zu sechst oder zu siebt sein muss, sondern ob es sich auf den Weg des Fortschritts und der Entspannung begeben soll oder auf den des Konservatismus und des Kalten Kriegs.

Quelle 2: Die Sorge um Europa (26. April 1963)[2]

Nach der ersten Lesung zum deutsch-französischen Abkommen

sp- An großen, starken und auch bewegenden Worten hat es bei der ersten Lesung des deutsch-französischen Abkommens im Bundestag nicht gefehlt. Ob die Annahme des Vertrages wirklich den Rang eines säkularen Ereignisses bekommt, wird wohl dem Urteil der Geschichte überlassen bleiben müssen. Zunächst haben sich die zuständigen Ausschüsse mit dem Studium des Vertragstextes zu befassen, und es wird sehr darauf ankommen, daß der Geist dieser ersten Debatte einen alle Zweifel ausschaltenden Niederschlag in der vorgesehenen, dem Vertrag beizufügenden, seinen Unterzeichner verpflichtenden Präambel findet. Das dürfte an sich keine unüberwindlichen Schwierigkeiten bereiten. Die Bejahung der deutsch-französischen Freundschaft steht außerhalb jeder Diskussion, sie ist überdies nicht allein das Werk von de Gaulle und dem scheidenden Bundeskanzler Adenauer, die besten Geister beider Völker haben dazu vorher die Grundlage gelegt und sie fanden dabei nicht immer den Beifall ihrer Zeitgenossen. Wie wurde, um nur einen Mann zu nennen, ein August Bebel einst verleumdet, als Verräter an seiner Nation in den Schmutz gezogen, nur weil er wagte, das anzusprechen, was heute unumstrittenes Gemeingut aller guten Europäer ist.

Die Sorge um die zukünftige Entwicklung in Europa bestimmte den Tenor der Rede des Sprechers der parlamentarischen Opposition, Herbert Wehner. Wird der deutsch-französische Vertrag Hemmnis oder Anstoß für den weiteren Weg zur europäischen Einigung sein? Es gab niemanden im Bundestag, der in diesem Vertragswerk einen Selbstzweck sah, gewissermaßen eine Endstation. Die Sicherheit beider Völker ruht nicht im gegenseitigen Bündnis, mag es auch noch umfassend sein. Deutsche und Franzosen allein können nicht jenen Damm gegen den Kommunismus errichten, von dem Adenauer sprach, dazu bedarf es schon der ganzen Kraft der Atlantischen Gemeinschaft und eines Europa, das sich abwendet von jeder Art des Nationalismus.

Wiederum blieb es den sozialdemokratischen Sprechern Wehner und Birkelbach vorbehalten, die Frage nach den möglichen Auswirkungen des Vertrages auf die schon bestehenden Verträge und der aus ihnen entwickelten europäischen Gemeinschaften zu stellen – eine Frage, die den Nerv des europäischen Zusammenhalts und das Verhältnis Europas zu den Vereinigten Staaten berührt. Hier hat das zeitliche Zusammentreffen zwischen de Gaulles Nein zum Beitritt Großbritanniens zur EWG und der Verkündung des deutsch-französischen Abkommens Zweifel ausgelöst und Mißtrauen erweckt. Die so verheißungsvolle Entwicklung zu einem größeren Europa hin kam zum Stillstand, und niemand vermag heute zu sagen, wie es weiter gehen soll. Die erste Lösung zum deutsch-französischen Abkommen im Bundestag ist insofern ein Gewinn, als vor aller Welt offenbar wurde, daß nach dem Willen des deutschen Volkes die deutsch-französische Zusammenarbeit untergeordnet sein muß den höheren Zielsetzungen, wie sie durch die Römischen Verträge und durch die NATO gegeben sind. Die dafür rechtlich verbindliche Form zu finden, obliegt nun den Beratungen in den Parlamentsausschüssen.


[1] Welches Europa?, in: Avanti! vom 19.04.1962. Die Übersetzung ins Deutsche stammt von Patrick Bredebach.

[2] Die Sorge um Europa, in: Sozialdemokratischer Pressedienst vom 26.04.1963, S. 2b.


Für das Themenportal verfasst von

Patrick Bredebach

( 2013 )
Zitation
Patrick Bredebach, Die sozialistische und sozialdemokratische Europapolitik in Italien und der Bundesrepublik zu Beginn der 1960er-Jahre, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2013, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1612>.
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