Zur Emotionalisierung von Politik. Führer-Kulte als Mittel zur Mobilisierung von Massen

„Wódz“, „Tautas vada“, „Caudillo”, „Duce“, „Conducator“, „Vožd‘“ als landessprachliche Varianten des „Führer“-Begriffs weisen darauf hin, dass Führer-Kulte (nicht nur) ein Phänomen im Europa des 20. Jahrhunderts waren und in zahlreichen Staaten etabliert worden sind. Führer-Kulte waren (und sind) die charakteristischste Form politischer Kulte und prägten nachhaltig die politische Kultur gerade der autoritären und totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts, während andere Personenkulte, beispielsweise der um Evita Péron zu deren Lebzeiten, eher eine Stellvertreterfunktion wahrnehmen und Personenkulte um Verstorbene auf die gegenwärtig Herrschenden hin ausgerichtet werden, wie etwa im Fall des Lenin-Kultes. Ihre spezifische Wirksamkeit entfalten sie dadurch, dass sie in emotional eindringlicher Weise wirken und so die Teilhabenden zu einer Gemeinschaft zusammenschweißen. [...]

Zur Emotionalisierung von Politik. Führer-Kulte als Mittel zur Mobilisierung von Massen[1]

Von Heidi Hein-Kircher

„Wódz“, „Tautas vada“, „Caudillo”, „Duce“, „Conducator“, „Vožd‘“ als landessprachliche Varianten des „Führer“-Begriffs weisen darauf hin, dass Führer-Kulte (nicht nur) ein Phänomen im Europa des 20. Jahrhunderts waren und in zahlreichen Staaten etabliert worden sind. Führer-Kulte waren (und sind) die charakteristischste Form politischer Kulte und prägten nachhaltig die politische Kultur gerade der autoritären und totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts, während andere Personenkulte, beispielsweise der um Evita Péron zu deren Lebzeiten, eher eine Stellvertreterfunktion wahrnehmen und Personenkulte um Verstorbene auf die gegenwärtig Herrschenden hin ausgerichtet werden, wie etwa im Fall des Lenin-Kultes. Ihre spezifische Wirksamkeit entfalten sie dadurch, dass sie in emotional eindringlicher Weise wirken und so die Teilhabenden zu einer Gemeinschaft zusammenschweißen. Sie sind aber allesamt ein Hinweis auf ein wie auch immer geartetes diktatorisches System, da sie die Herrschaft auf den „Führer“ hin fokussieren und so einen Herrschaftsanspruch verdeutlichen.

Ausgangslage für die historische Forschung zu politischen Kulten ist die Frage, welche Funktionen und Bedeutung diese für ein diktatorisches Regime annehmen. Als erste Studien entstanden zunächst Beschreibungen der „großen Führer-Kulte“ um Hitler und Stalin im Rahmen von Studien zum Nationalsozialismus und Stalinismus, die eine Grundlage für weitere Forschungen boten. Die Verwendung der Begriffe „Personenkult“ bzw. einfach nur „Kult“ basierte aber noch auf einer kritisch-ablehnenden Charakterisierung des jeweiligen Systems, ohne dass die Verehrung bzw. deren Ursachen und Funktionen für die jeweilige Gemeinschaft tiefgehender wissenschaftlich beforscht und „politischer Kult“ als Analysekategorie verstanden worden wären. Erst moderne kulturwissenschaftliche Ansätze ermöglichten es am ausgehenden 20. Jahrhundert diese vertiefend aufzugreifen und „politischen Kult“ als Forschungsperspektive zu sehen, um die Legitimation, Integration und Identität von „vorgestellten Gemeinschaften“ (Benedict Anderson) insbesondere in diktatorischen Systemen zu erklären. Politische Kulte als typisches Herrschaftszeremoniell gerade von autoritären und totalitären Systemen sind damit als wissenschaftlicher Analysehorizont zu verstehen, vor dem erst politische Kulturen und Systeme sowie Erinnerungskulturen verständlich werden.

Während „Kult“ grundsätzlich eine emotional tief verwurzelte Verehrung umschreibt, ist unter „politischem Kult“ eine säkulare, politisch motivierte und ritualisierte Ehrerweisung von lebenden und toten Personen zu verstehen. „Führer-Kult“ bezieht sich damit auf diejenige von Regierenden, die ihre Herrschaft in der Regel auf Grund ihrer „Führung“ begründen, oder von Personen, die zu einer definierten Gemeinschaft wie etwa einer „Bewegung“ oder „Partei“ gehören und innerhalb dieser die dominierende Rolle einnehmen.

Diese exemplarische Nennung der verschiedenen Führerbegriffe zeigt, dass es zukünftig auch notwendig sein wird, über Einzelfallanalysen hinausgehend Führer-Kulte zu vergleichen. Dadurch können umfassend europäische Bezüge und Verflechtungen erkannt und eine transnationale Kontextualisierung vorgenommen werden. Der Vergleich führt nicht zu einer Relativierung der jeweiligen Diktaturen, der totalitären und autoritären Systeme und deren Verbrechen, die hinter den Personenkulten versteckt wurden, sondern genau zu ihrem Gegenteil: Erst durch den Vergleich können prägende Spezifika, transnational ähnliche Abläufe bei der Etablierung, Propagierung und Festigung von Personenkulten und der sie tragenden Systeme herausgearbeitet werden. Ein genauerer und vergleichend angelegter Blick auf die jeweiligen Kulte zeigt, dass es transnationale Muster gibt, in die alle politischen Kulte einzuordnen sind. Ihnen wird aber ein spezifischer, kontextualisierender „Anstrich“ in der Art gegeben, dass sie in dem jeweiligen Kontext verwurzelt und damit autochthon erscheinen.

Der Kult um Józef Pilsudski (1867–1935), 1918 Gründerfigur der Zweiten Polnischen Republik und ab 1926 Diktator in Polen, ist geradezu als paradigmatisch für einen Führer-Kult zu sehen, sodass an dessen Beispiel die folgenden Überlegungen nachvollzogen werden sollen. Józef Pilsudski begann seine politische Karriere als im Untergrund agierender Sozialist in Russisch-Polen. Nach dem Scheitern der Revolution von 1905 wirkte er in Galizien, dem autonomen und vergleichsweise liberaleren österreichischen Teilungsgebiet, und gründete dort legale Schützenverbände. Aus diesen bildete er eine „Kaderkompanie“ und begann eigenmächtig am 6. August 1914 den Krieg gegen die russische Teilungsmacht, musste sich aber bald dem österreichischen Armeeoberkommando unterwerfen und sich an der Bildung der polnischen Legionen beteiligen. Deren Erste Brigade führte er bis zum Zerwürfnis mit diesem und dem polnischen Obersten Nationalkomitee im Frühherbst 1916 an, wurde aber Anfang 1917 in den von den Mittelmächten gegründeten Vorläufigen Staatsrat berufen. Wegen der sogenannten Eideskrise im Juli 1917 wurde er aber in Magdeburg bis zum Kriegsende interniert. Schon zu diesem Zeitpunkt war es ihm gelungen, ihm treu ergebene Gefolgsleute um sich zu scharren, so auch junge Literaten und Intellektuelle, die die rege Propaganda für seine Politik in jener Zeit prägten. Die Haft isolierte ihn von den politischen Entwicklungen am Kriegsende, aber seine Gefolgsleute schlossen sich enger zusammen und stilisierten ihn zunehmend zum Helden, zur einzig legitimen polnischen Macht. Nach seiner Haftentlassung kehrte er am 10. November 1918 nach Warschau zurück und erhielt erst den militärischen Oberbefehl (11. November) und wenige Tage später die oberste zivile Machtbefugnis vom Regentschaftsrat übertragen. Als Vorläufiger Staatschef war er nicht nur für den Aufbau der inneren Machtstrukturen zuständig, sondern auch als Oberbefehlshaber für die Kriegsführung, durch die die Grenzen nach Osten hin festgelegt wurden und die formal erst mit dem Frieden von Riga und der Inkorporation des Wilna-Gebietes beendet worden ist. Enttäuscht über die innere, von Parteienstreit und -zersplitterung geprägte Staatsentwicklung zog er sich 1923 zunächst von der Alltagspolitik zurück, betätigte sich aber als scharfer Kritiker der Regierung und der inneren Zustände. Im Mai 1926 putschte er und etablierte das bis 1930 immer autoritärer werdende Regime der Sanacja, das nach seiner Parole der „moralischen Gesundung“ des Staates (sanacja moralna) benannt wurde. In diesen Jahren wurde der Kult Pilsudskis von seinen Anhängern auf den gesamten Staat übertragen und ausgebaut. Wichtige Etappen waren hierbei die Feiern zum zehnjährigen Bestehen des Staates am 11. November 1928, die Durchführung der Schulreform 1932 und schließlich die Begräbnisfeierlichkeiten im Mai 1935, die als Auftakt für den Totenkult und als Katalysator für den Personen-Mythos dienten.

Drei grundlegende, sich gegenseitig bedingende Komponenten machen einen politischen Kult aus: politische Symbole und Rituale und nicht zuletzt der Personenmythos als dessen narrative Grundlage und Botschaft, auch wenn sie im Einzelfall noch so dünn erscheinen mag und letztlich auch analogen Mustern folgt. Diese drei Elemente stehen in einem engen Wechsel- und Abhängigkeitsverhältnis voneinander; sie sind die Grundlage für einen politischen Kult, denn die ersteren sorgen für die notwendige Vermittlung des letzteren. Der Personen-Mythos, der die Grundlage zu einem politischen Kult bildet, ist als eine emotional aufgeladene Narration über eine Person zu verstehen, auf die die historische Entwicklung hin verengend fokussiert und damit die Geschichte personalisiert wird (Quelle 1 und 2), während andere Personen und Ereignisse, die im Zusammenhang mit jenen stehen, nicht weiter beachtet werden. Charakteristisch für einen politischen Mythos ist somit, dass sein Ausschließlichkeitsanspruch für eine Gesellschaft in seiner Botschaft inhärent ist, während aber die „Zeichen und Funktionen identisch […] oder analog lesbar“[2] sind. Bei einem Führer-Kult ist festzustellen, dass das Mythenrepertoire der jeweiligen Gesellschaft, verstanden als ein System und Netz von zu einander komplementären bzw. hierarchisch aufeinander bezogenen Mythen, auf diesen Führer hin ausgerichtet ist.

Der Führer-Mythos wird durch zahlreiche erzählende Medien vermittelt; von maßgeblicher Bedeutung waren jedoch im 20. Jahrhundert die modernen Massenmedien, die in besonders intensiv erlebbarer Weise an die Emotionen der Gesellschaft appellieren konnten. So nutzten etwa alle politischen Kulte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die neuen Massenmedien Radio und Film zur Inszenierung der jeweiligen Persönlichkeit. Beispielsweise verherrlicht der Film Standarte der Freiheit (Sztandar Wolnosci, März 1935) das Wirken Pilsudskis als Wiedererrichter Polens und wurde deshalb landesweit insbesondere Schülern und Soldaten gezeigt. Von immenser Bedeutung zur Verbreitung des Pilsudski-Mythos waren etwa auch Literatur, kleinere populärwissenschaftliche Biografien und vor allem Texte über ihn in Schulbüchern und Lehrmaterialien. Der Führer-Mythos wird dabei immer so formuliert, als ob er auf einheimischen Zusammenhängen und Traditionen basieren würde. Analogien zu anderen Führer-Mythen werden vermieden (etwa eine Anlehnung von Pilsudskis Marsch auf Warschau an den „Marsch auf Rom” Benito Mussolinis), sodass er den Zeitgenossen als autochthon erscheint (Quelle 1). Jedoch ist die Narration über den Führer im Endeffekt floskelhaft und die betonten Charakteristika auf andere übertragbar, wobei deren konkrete Ausformulierung in den historischen Kontext eingebettet wird. Ohne diese Kontextualisierung in den heimischen Traditionen würde der Mythos bei seinem „Publikum“ unbekannt erscheinen, nicht verstanden und rezipiert werden können. Beim Pilsudski-Kult war dies der Bezug zum (erfolglosen) „Freiheitskampf“ der Polen im 19. Jahrhundert. Dieser schrieb Pilsudski zu, den Geist des Freiheitskampfes aufrechterhalten zu haben, wodurch insbesondere seine „bewaffnete Tat“ im Ersten Weltkrieg als dessen Vollendung erschien. Daraus wurde gefolgert, dass die Staatsgründung 1918 ihm zu verdanken und durch ihn erfolgt sei (Quelle 1).

Politische Symbole und Rituale als Vermittlungsformen des Mythos sind als emotional erlebbare und nonverbale Umschreibungen des Mythos von erheblicher Bedeutung, garantieren sie doch schließlich den Appell an die Emotionen. Sie machen einen Kult letztlich als diesen aus: Politische Symbole wie Denkmäler visualisieren in eindringlicher Weise den Mythos, verkürzen ihn aber auch sehr prägnant, indem Symbolträger wie Briefmarken, Geldscheine und Namen von Straßen oder Institutionen die Essenz des Mythos wiedergeben. Insbesondere letztere sind für eine umfassende Vermittlung notwendig, werden sie nolens volens von allen Gliedern der Gesellschaft, auch gegebenenfalls von Oppositionellen, immer wieder gebraucht: Keine andere Persönlichkeit wurde während der Zweiten Republik beispielsweise so oft auf Briemarken abgebildet wie Pilsudski. Polen wurde mit einem Netz von politischen Symbolen überzogen, und dies nicht nur verdichtet nach seinem Tod, sondern auch schon zu seinen Lebzeiten.

Politische Rituale sind sicherlich die emotional eindringlichste und choreografisch genauestens geplante Vermittlungsform, erleben die an ihnen Teilnehmenden fast berauschende visuelle und akustische Effekte und vor allem ihren Massencharakter; gerade die Kombination dieser Elemente macht die besondere Wirkungsweise politischer Rituale und damit des Führer-Kultes aus. Denn sie müssen immer und überall gleich ablaufen, um ihren appellativen und zugleich den die Teilnehmermassen zusammenschweißenden Charakter zu erhalten. Von Bedeutung ist daher, dass sie eben nicht nur in den jeweiligen Zentren, sondern überall im Land, wenn dort auch in geringerem Umfang, stattfinden. So lassen sich bei allen Personenkulten politische Feiern anlässlich historisch-politischer Jahrestage sowie zu Anlässen, die auf die jeweilige Persönlichkeit bezogen ist, feststellen. Im Falle des Pilsudski-Kultes waren dies zunächst die Feiern zum Namenstag (19. März, Quelle 2), wobei seit 1936 die Todestagfeiern (12. Mai) eine größere Bedeutung einnahmen. Die Feiern zum Staatsgründungstag (11. November, Quelle 1) sollten die gesamte Bevölkerung ansprechen, während der 6. August als Erinnerung des Abmarsches der Kaderkompanie 1914 nur innerhalb des Pilsudski-Lagers, das heißt im Legionärsverband (Zwiazek Legionistów), begangen wurde.

Charakteristisch für Führer-Kulte ist allgemein, dass ihre Etablierung immer nur dann erfolgen kann, wenn die Trägergruppe im Besitz der politischen Macht und damit der Deutungshoheit über die politische Kultur und auch über die Erinnerungskultur ist. Daher war es etwa in der Zweiten Polnischen Republik erst nach 1926 ermöglich, die Verehrung Pilsudskis über dessen Lager hinaus auf den ganzen Staat auszudehnen: Erst dann konnten die Pilsudski-Feiern etabliert und andere politische Feiern wie die zum Jahrestag der Verfassung vom 3. Mai (1791) in den Hintergrund gedrängt werden; erst zu diesem Zeitpunkt war eine schrittweise Aufnahme des Pilsudski-Bildes in die Schulcurricula und die Benennung von Straßen und Institutionen mit auf den Pilsudski-Mythos anspielenden Bezeichnungen möglich. Erst mit der Errichtung der Sanacja-Diktatur konnte somit der Pilsudski-Kult zum bestimmenden Element der politischen Kultur werden.

Auch wenn die meisten „Führer“ nach außen hin als bescheiden und am Kult unbeteiligt auftraten, lässt sich doch feststellen, dass sie – allein schon auf Grund ihrer dominanten Rolle im Staat – im Geheimen bei der Etablierung des Kultes und der Ausgestaltung des Mythos mitwirkten, wenigstens aber diese Prozesse stillschweigend tolerierten. So lässt sich in Polen festhalten, dass Pilsudskis Büro entsprechende Denkmalprojekte und Benennungen genehmigte und dass er als Kriegsminister über entsprechende Kabinettsbeschlüsse, etwa im Rahmen der Schulreform, zumindest informiert war.

Die Trägergruppe, also die in Bezug auf charismatische Führerpersönlichkeiten im Sinne Max Webers als Gefolgsleute und „Jünger“ zu verstehenden staatlichen Eliten, setzte sich aus der Anhängerschaft Pilsudskis zusammen und ließ sich durch den Kult von Pilsudskis Glanz „bescheinen“, wodurch ihre Position legitimiert wurde, insbesondere auch nach Pilsudskis Tod. Der Kult um den Wódz Naczelny diente damit der Selbstdarstellung und der Darstellung ihres Selbstverständnisses.

Ein politischer Kult ist somit als eine soziale und kommunikative Praxis des politischen Mythos zu verstehen, um in den Gliedern der Gemeinschaft Emotionen der Zusammengehörigkeit und Loyalität zu wecken. Dadurch können sie für die jeweilige Sache eingenommen und mobilisiert werden. Charakteristisch für Führer-Kulte ist deshalb auch, dass der Kult insgesamt einer zunehmenden Institutionalisierung beispielsweise durch die Etablierung bestimmter Feiertage (wie der 11. November in Polen) oder durch die Einrichtung von speziellen Institutionen und Vereinigungen (z.B. Museen, Komitees zur Organisation der Feiern, Quelle 2) unterliegt und dessen Botschaft geradezu kanonisiert wird, indem spezielle Institutionen sich um die Ausführung der mit dem Kult zusammenhängenden Rituale und Symbole kümmern.

Durch den Kult wird somit ein öffentlich anerkannter Führer-Mythos etabliert und zugleich eine emotionale Beziehung zwischen dem Führer und den Bevölkerungsmassen aufgebaut. Da die wesentliche Funktion eines Mythos ist, über Ursprünge und Gründungsakte der jeweiligen Gruppe zu berichten, wird dieser Führer als Staatsgründer, als Kriegs- oder Revolutionsheld, als Gründer der Bewegung und/oder als politischer Märtyrer dargestellt. Er wird als „Symbol“, also für den Staat, die jeweilige Bewegung oder Gruppe, als „Vater“ beziehungsweise im Falle Pilsudskis als „Grossvater“, als „Erzieher“ und/oder „Retter der Nation/der Gruppe und als dessen Wächter stilisiert, was beispielsweise beim Pilsudski-Kult deutlich nachzuvollziehen ist: Ihm wird eine „historische Mission“ (Quellen 1 und 2) zugeschrieben. Letztlich wird er als Genie, als unüberholbares Vor- und Leitbild und, wie noch zu zeigen ist, als Charismatiker idealisiert: diese Elemente machen erst den „Führer“ aus, ohne dass diese Bezeichnung immer in den Vordergrund gestellt wird. Es ist auf Grund des Vergleichs verschiedener Führer-Kulte auch festzustellen, dass der Begriff „Führer“ häufig durch andere Zuschreibungen ersetzt wird, die ihn charakterisieren sollen: So wurde Pilsudski durch den Kult nicht nur im militärischen Sinn als „Oberster Führer“ stilisiert, sondern auch als „Erzieher seines Volkes“, als „Wächter seines Ruhmes“ als Genie etc. verherrlicht – diese Attribute machten ihn als „Wódz Narodu“ („Führer des Volkes“) aus (Quellen 1 und 2).

Insgesamt wird durch den Kult die verehrte Persönlichkeit mit einer charismatischen Aura versehen, wodurch, wie es Ludolf Herbst plakativ für das Charisma Hitlers formulierte, der Führer als Messias erfunden[3] wird. Hierbei werden auf für die jeweilige Gemeinschaft wichtige Zäsuren Bezug genommen und der Persönlichkeit besondere Verdienste im Rahmen dieser Brüche zugeschrieben (Quellen 1 und 2). Diese werden aber im Sinne des Mythos zugespitzt bewertet und rekurrieren auch auf bestimmte Eigenschaften, „die zur Charismatisierung genutzt werden können“ Denn „Charisma ist aber nicht primär Charakterzug einer Person, sondern Muster einer sozialen Beziehung mit einer bestimmen Rollenverteilung“[4]. Das Führer-Charisma ist also letztlich Ergebnis einer besonderen und gelenkten Wahrnehmung vermittelter Botschaften, ein Produkt von spezifischen Kommunikationsprozessen zwischen „Führer“ und „Gefolgschaft“, was schon Thomas Geiger 1926/27 erkannt hatte, denn Charisma sei die Bedeutung, die „der Persönlichkeit von den Mächten der öffentlichen Meinung beigemessen wird. Das Publikum wird gar nicht vom Großen Mann geführt, es wird zum Großen Mann geführt!“[5]. Der charismatische Führer ist ein „unverwechselbares Zentrum“[6] und der Führer-Kult ein „auf den ‚Führer‘ zugeschnittenes System von kulturellen Codes, von Symbolen, Ritualen und Mythen“. Er bildet damit ein „wirksames Wechselspiel von ständiger Präsenz und Besonderheit des ‚Führers‘“[7], indem die symbolische Macht charismatisch und zugleich das Charisma des ‚Führers‘ das wichtigste Element des Führermythos sind. Charisma ist somit eine Erfahrung für und durch die Massen. Charisma ist ein Attribut der Führung[8], zugleich handelt es sich um Verführung, um Emotionalisierung und Hingabe der Geführten, aber auch um ihre Manipulation etwa mittels der Inszenierung des Führers. Repression ist dann die Folge bei Nichtbeteiligung, etwa in unserem Fallbeispiel, als bei Lehrern, die Anfang der 1930er-Jahre nicht bereit waren, mit ihren Schülern Gratulationen zum Namenstag Pilsudskis zu versenden.

Letztlich bilden die Botschaften des Führer-Mythos insgesamt die als existenziell für die Gemeinschaft empfundenen Wünsche und Bedürfnisse der Massen ab. Zugleich wird Macht personalisiert, eine nicht anzuzweifelnde Autorität wird begründet. Damit ist die Prämisse verbunden, dass der „Führer“ bzw. dessen Regime für die Massen überall in gleicher Form über emotional und in verbindender Weise erfahrbar gemacht wird – zugespitzt formuliert handelt es sich also um eine moderne Form von (imaginierter) Präsenzherrschaft. Die politischen Ziele werden derart personalisiert (Quelle 1), dass lediglich der charismatische Führer als befähigt angesehen wird, diese Ziele zu erreichen und die empfundene Krise zu bewältigen. So wurde lediglich Pilsudski als derejnige stilisiert, der fähig gewesen sei, die innere und äußere Schwäche Polens zu überwinden (so auch sein Attribut als „Wächter seines [Polens] Ruhmes”).

Ein Führer-Kult ist somit als eine spezifische Kommunikationsform zwischen Herrschenden und den Massen und letztlich als soziale und kommunikative Praxis zu verstehen: Er schafft nicht nur „erfundene Traditionen“ (Eric Hobsbawm), sondern er ist auch Sinnzuschreibung, Wirklichkeits(re)konstruktion und Handlungsanweisung an die Teilhabenden zugleich; er ist ein emotional erlebbarer Appell, während die Beteiligung an ihnen – ob freiwillig oder unfreiwillig – als Zustimmung und Unterstützung gewertet wird. Durch die spezifische Wirkungsweise werden die Teilnehmer der gemeinsamen Sache eingeschworen: die Teilnahme ist einerseits Ausdruck von Loyalität und Gefolgschaft, andererseits aber auch von Akklamation und nimmt daher plebiszitären Charakter an. Denn wenn ein „ganzes Land“, worauf beispielsweise immer wieder in der Berichterstattung über die Pilsudski-Feiern hingewiesen wird, sich an den politischen Ritualen des Kultes beteilige, wird suggeriert, dass eben alle freiwillig teilnehmen würden und emotional berührt worden seien, dass sie so dem System Gefolgschaft leisten, es akklamativ und einem Plebiszit gleich bestätigen. In diesem Sinn war es auch das Bestreben der Trägerschichten, mit dem Pilsudski-Kult von Beginn der Sanacja-Herrschaft an eine „gesamt-nationale“ (ogólno-narodowe) Verehrung zu inszenieren.

Insbesondere bei Gesellschaften, die noch auf keine eigene oder auf eine gebrochene Tradition zurückgreifen können, können Führer-Kulte somit eigene Traditionen für ihr Regime schaffen; manchmal ersetzen sie diese vollkommen. Dies wird auch in unserem Fallbeispiel deutlich: die „alten“ Mythen, die für die nationale Sinngebung während der Teilungszeit im 19. Jahrhundert genutzt worden waren, schienen angesichts der wiederhergestellten Staatlichkeit nicht tauglich. Weil seine „bewaffnete Tat“ (czyn zbrojny) gegen die russische Teilungsmacht siegreich gewesen sei (Quelle 2), bot sich allein die mythisch verklärende Narration über sein Wirken als Integrationsangebot für den jungen polnischen Staat an.

Ein Führer-Kult dient also dazu, die in dem Kultobjekt personifizierten Werte, Haltungen und historische Leistungen zu konsolidieren, zu sichern, zu stärken und fortzusetzen. Insofern sind Führer-Kulte Kristallisationspunkte der sie umgebenden Ideologie und damit die „Verkörperung der Doktrin“. Anders als etwa beim Stalin-Kult ersetzte der Pilsudski-Kult die Ideologie, weil sein Sanacja-Lager nicht geschlossen war und er letztlich die einzige Gemeinsamkeit der unterschiedlichen Richtungen innerhalb des Lagers war. Somit erhielt der Pilsudski-Kult eine besondere integrative Funktion für seine Anhängerschaft, andererseits aber für das gesamte Land. Gerade der überall einheitlich ablaufende Kult um den „Ersten Marschall Polens“ war eine emotional vermittelbare Möglichkeit, diese Gründungserzählung der Republik überall im Land zu vermitteln und die Bevölkerung in seinem Sinne zu mobilisieren, um so die Sanacja-Diktatur zu rechtfertigen(Quelle 1, etwa: „Arbeit auf jedem Gebiet“). Durch die Stilisierung Pilsudskis zum Vor- und Leitbild sollten die Teilnehmenden zu einer großen Gemeinschaft zusammengeschweißt und für das gemeinsame Ziel, ein starkes Polen, eingenommen werden (Quelle 2). Sie wurden so nolens volens zum Handeln im Sinne der vermittelten Aussage und Werte aufgefordert. Das Beispiel des Pilsudski-Kultes verdeutlicht, wie sehr politische Kulte die politische Kultur von Systemen bestimmen, die einem erheblichen Legitimations-, Identifikations- und Integrationsdefizit unterliegen.

Abschließend lässt sich daher zusammenfassen, dass Führer-Kulte als soziale Praxis von Führer-Mythen und als politische Meistererzählung an die Emotionen der Massen appellieren und sie so mobilisieren. Auf diese Weise geben sie einen affektiven, mit Sinnbezügen gefüllten Rahmen politischer Vergemeinschaftung vor und schaffen eine charakteristische Verbindung zwischen Individuum und politischem System, indem sie die für die jeweilige Gemeinschaft wesentlichen ideologischen und damit verbundenen operativen Ideen auf die verehrte Persönlichkeit hin fokussieren und anhand dieser in emotional erlebbarer Weise umschreiben. Sie sind daher nicht nur ein wesentliches Strukturelement diktatorischer Herrschaft, sondern auch die Personifikation und das „Gesicht“ der Ideologie und jeweiligen Diktatur. Diese Funktionalitäten verweisen auf die Blütezeit politischer Kulte im Europa des 20. Jahrhunderts, zu deren Gesicht sie wurden. Sie erklären die Implementierung von politischen Kulten in zahlreichen diktatorischen Systemen, wie die eingangs aufgerufenen Beispiele es andeuten: in Polen gleichermaßen wie in Litauen der Zwischenkriegszeit, dem faschistischen Italien und Spanien, dem nationalsozialistischen Deutschland sowie der Sowjetunion und der sozialistischen Republik Rumänien.



[1] Essay zu den Quellen: Rede zum besonderen Anlass des 11. November gerichtet an jüngere Kinder / Aufruf zur Teilnahme an den Namenstagsfeierlichkeiten (November/März 1933).

[2] Koselleck, Reinhart, Einleitung, in: ders.; Jeismann, Michael (Hgg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994, S. 9–20, hier S. 10.

[3] Herbst, Ludolf, Hitlers Charisma. Die Erfindung eines deutschen Messias, Frankfurt am Main 2011.

[4] Beide Zitate: Raab, Jürgen; Tänzer, Dirk, Charisma der Macht und charismatische Herrschaft. Zur medialen Präsentation Mussolinis und Hitlers, in: Honer, Anne et al. (Hgg.), Diesseitsreligion. Zur Deutung der Bedeutung moderner Kultur, Konstanz 1999, S. 59–77, hier S. 62.

[5] Geiger, Theodor, Führer und Genie, in: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie 6 (1926/27), S. 232–247, hier S. 244, Hervorhebungen durch Geiger.

[6] Söffner, Hans-Georg, Die Ordnung der Rituale. Die Auslegung des Alltags, Bd. 2, Frankfurt am Main 1992, S. 200.

[7] Beide Zitate: Hein-Kircher, Heidi, Führer-Kult und Führermythos. Theoretische Reflexionen zur Einführung, in: dies.; Ennker, Benno (Hgg.), Der Führer im Europa des 20. Jahrhunderts (Tagungen zur Ostmitteleuropa-Forschung, Bd. 27), Marburg S. 3–26, hier S. 13.

[8] Bliesemann de Guevara, Berit; Reiber, Tatjana, Einleitung, in: dies. (Hgg.), Charisma und Herrschaft. Führung und Verführung in der Politik, Frankfurt am Main 2011, S. 7–14, hier S. 9.



Literatur

  • Ennker, Benno; Hein-Kircher, Heidi (Hgg.), Der Führer im Europa des 20. Jahrhunderts (Tagungen zur Ostmitteleuropa-Forschung, Bd. 27), Marburg 2010.
  • Hein-Kircher, Heidi, Der Pilsudski-Kult und seine Bedeutung für den polnischen Staat 1926–1939 (Materialien und Studien zur Ostmitteleuropaforschung, Bd. 9), Marburg 2002.
  • Hein-Kircher, Heidi, Historische Mythos- und Kultforschung. Thesen zur Definition, Vermittlung, zu den Inhalten und Funktionen von historischen Mythen und Kulten, in: Mythos 2 (2006), S. 30–45.
  • Hein-Kircher, Heidi, Social Master Narratives: Romanticisation and Functionalisation of Political Myths, in: Binder, Anne-Berenike; Tous, Pere Joan (Hgg.), „Evita vive“ – Estudios literarios y culturales sobre Eva Perón/Literatur- und kulturwissenschaftliche Studien zu Eva Perón, Berlin 2013, S. 13–32.
  • Mosse, George L., The Nationalization of the Masses. Political Symbolism and Mass Movements in Germany from the Napoleonic Wars through the Third Reich, Ithaca u.a. 31996.

Quelle 1: Rede zum besonderen Anlass des 11. November gerichtet an jüngere Kinder[1]

Heute haben wir einen großen Feiertag. Es ist weder eine Kirchen- noch eine Familienfeier, es ist eine Nationalfeier – eine Feier der ganzen polnischen Nation. Und überall, wo auf der Welt ein polnisches Herz schlägt – heute schlägt es am lautesten. Alle Polen verbindet heute ein Gedanke und ein Gefühl – das Gefühl der Freude. Heute nämlich feiert die polnische Nation den Unabhängigkeitstag. Am 11. November 1918 hat Polen die Fesseln seiner Gefangenschaft abgeschüttelt.

Ihr Kinder werdet schon in einem freien Land erzogen und ihr habt keine Ahnung davon, was eine Gefangenschaft bedeutet. Gefangenschaft einer Nation – das ist ein großes Unglück, großes Leid. Und die Polen erlebten es schmerzhafter als andere, denn sie haben mehr als alle anderen die Freiheit geliebt. Sie schrieben einst auf ihre Fahnen: „ Für unsere und für eure Freiheit!“ und wenn jemandes anderen Freiheit geraubt wurde, griffen sie zu den Waffen und eilten zur Hilfe.

Der Pole atmete die Freiheit wie die Luft ein und fühlte sich gut im freien Vaterland. Unser Vaterland war nämlich lange Zeit frei, glücklich, mächtig. Andere Staaten respektierten uns und achteten und baten um Hilfe, wenn sie durch einen Feind bedroht wurden.

Aber es kam eine schreckliche Zeit für Polen, die Stunde des Unglücks hatte geschlagen. Drei Nachbarstaaten: Deutschland, Österreich und Russland griffen Polen an und haben es in drei Teile zerrissen.

[…]

Die Polen träumten, hofften, und warteten. Inzwischen bemühten sich die besten Söhne des Landes darum, dass der Geist der Nation nicht schwindet und dass das Volk das Vaterland nicht vergisst.

[…]

Auch diese Verfolgungen und das Leiden brachten die Polen nicht davon ab, an das Vaterland zu denken, und auf die Rettung zu hoffen. Die Idee der Gründung einer polnischen Armee in der Gefangenschaft verließ die Polen nicht mal unter den schwersten Umständen.

Man vermutete, dass ein europäischer Krieg ausbrechen wird und man begriff, dass die Polen dies ausnutzen könnten, um das Ihrige zurückzufordern. Man hat davon gesprochen und geträumt, aber es gab keinen Anführer, der die Polen zum bewaffneten Kampf mitreißen würde. Doch endlich fand sich ein großartiger, außergewöhnlicher Mensch, der die aufständischen Traditionen wiederbeleben wollte und in die Fußstapfen derer treten wollte, die mit Waffen um die Freiheit der Nation gekämpft haben.

Dieser Mensch war Józef Pilsudski.

Einige Jahre vor dem Ausbruch des europäischen Krieges, zu Zeiten der schlimmsten Unterdrückung begann er damit, polnische Truppen in Krakau zu bilden und zu schulen, mit dem Gedanken, dass er sie, wenn der Krieg ausbricht, in den Kampf um Polen führen wird.

Und so wütete 1914 der seit Jahren erwarteter großer europäische Krieg. Unsere größten Feinde, die Polen zerrissen haben, bekämpften sich gegenseitig: Russland, Deutschland und Österreich. Später kamen auch andere Staaten dazu.

In diesem Moment begann Pilsudski seine große Tat, von welcher er sein ganzes Leben lang geträumt hatte. Er kümmerte sich nicht um große Gefahren und Schwierigkeiten, wie einen Stern betrachtete er genau sein heiliges Ziel und so beschloss er, seine Legionen in den Kampf zu schicken.

Auf seinen Befehl, unter seinen Fahnen versammelte sich die edelmütige Jugend, nur durch diesen einen Gedanken geleitet: Polen muss sich erheben! Rationale und kaltblütige Leute meinten: „Verrückte! Irre! Was machen sie? Worauf stürzen sie sich? Sie werden es nicht schaffen und sogar der polnischen Angelegenheit schaden! Sie werden sich übernehmen in diesem Kampf mit den Giganten!“ Aber die Jugend beachtete diese rationalen Stimmen nicht, denn sie wurden von einem inneren Befehl getrieben, sie hatten ein einziges großes Ziel vor Augen, das vor ihnen in der Ferne leuchtete. Sie fürchteten weder Wunden noch den Tod, denn beim Sterben sahen sie im Geiste ihr geliebtes Vaterland, dass dank ihrer Wunden und ihres Todes existieren kann. Sie haben der Welt ein Zeugnis gegeben, dass Polen noch lebt, dass der Geist in der Nation noch nicht tot ist, dass ein Pole sein Vaterland liebt und kein Sklave sein möchte und eigenhändig sich die Freiheit erkämpfen will.

Sie haben ihr Blut nicht umsonst vergossen.

Als der schreckliche Krieg zu Ende ging, erhob sich Polen aus dem Grab nach 100 Jahren Gefangenschaft. Es geschah das, wofür vergeblich unsere Väter, Großväter und Urgroßväter den Namen „Polen“ flüsternd, in das Grab gegangen sind. Wie glücklich wären sie, wenn sie diesen ersehnten Moment hätten miterleben dürfen, den 11. November 1918.

[…]

An dem Tag kam aus dem Magdeburger Gefängnis der Anführer der Legionen nach Warschau – Kommandant Pilsudski. Und alle Augen richteten sich auf ihn. Und die ganze Nation warf ihm ihre Herzen zu Füßen. Ohne Nachzudenken und ohne Zweifel vertraute man ihm Polens Schicksal an.

Denn alle haben verstanden, dass alleine ihm diese Ehre gebührt, weil er am meisten für die Unabhängigkeit des Vaterlandes getan hat.

In dem allgemeinen Chaos und der Nachlässigkeit übernahm Józef Pilsudski die Ruder und begann das Land wieder aufzubauen und verschiedene Sachen zu ordnen. Es gab sehr viel zu tun nach hundertjähriger Gefangenschaft und nach der Zerstörung des Landes durch den Krieg. 

Schauen wir zurück, werfen wir einen Blick auf die Zeit, die uns vom 11. November 1918 trennt.

Was für Veränderungen! Was für Veränderungen!

Einst waren wir von der fremden, verhassten, aufgezwungenen Herrschaft abhängig. Heute haben wir einen eigenen Staat, eine eigene Vertretung – Sejm und Senat, die wir selbst wählen, an welche wir glauben und welchen wir vertrauen.

Fremde Regierungen hatten uns auf jedem Schritt und Tritt Leid angetan, sie hemmten unsere Entwicklung, erstickten jegliche Anstrengungen, jegliche gesellschaftliche Regungen. Unsere Regierung ergreift nur eine Sorge – dass es uns gut geht, dass das Land sich entwickelt und Wohlstand erfährt.

Dank dieser Sorge, Anstrengung und Mühe unserer Regierungen können wir uns vor der Welt vieler Errungenschaften seit der Zeit der wiedergewonnenen Unabhängigkeit rühmen.

Und die Anstrengung und das Recht stolz darauf zu sein, war umso größer, denn im Vergleich zu anderen Nationen erwartete uns zweifach oder dreifach so schwere Arbeit, wir mussten auch die Mängel kompensieren, die durch die lange andauernde Gefangenschaft entstanden sind. Gleichzeitig mit der Erneuerung der Rzeczpospolita mussten wir einen Verteidigungskampf führen, weil unsere Feinde nicht schliefen. Sie konnten es sich nicht verzeihen, dass Polen wieder auferstanden ist, dass sie uns einst geraubte Gebiete zurückgeben müssen, sie belästigten ständig unsere Grenzen. Auch nach dem Wiedererlangen der Unabhängigkeit musste man gegen sie in vielen Bereichen kämpfen.

Den größten Sieg trugen wir 1920 über die Bolschewiken davon, die fast Warschau erreicht hatten, von wo sie unsere mutige Armee bis hinter die Landesgrenze verdrängt hat. Den größten Verdienst soll man hier dem Oberbefehlshaber zuschreiben. Dieser war Józef Pilsudski.

Nach vielen Anstrengungen und Kämpfen haben wir bewirkt, dass wir heute in Ruhe arbeiten können, ohne die Feinde fürchten zu müssen.

Mit unseren Nachbarn haben wir Frieden und mit verschiedenen Staaten vorteilhafte Bündnisse geschlossen.

Unsere Grenzen sind von einer starken, tapferen und ausgebildeten Armee geschützt, und diese Armee ist von ganzem Herzen ihrem Anführer und Polen ergeben. Die Sicherheit der Grenzen ist also gesichert, was die Arbeit innerhalb des Landes vereinfacht. Diese Arbeit nahm nämlich eine hohe Geschwindigkeit auf.

Polen regenerierte sich und erblühte in Kürze unter der eigenen Regierung.

Mit Erstaunen beobachten andere Nationen unsere schnelle Entwicklung. Und keiner mehr schenkt unseren Feinden Glauben, welche behaupten, dass Polen sich nicht lange mit eigenen Kräften halten kann, weil es nicht fähig zu selbständiger Existenz aufgrund der Unfähigkeit zu regieren ist. Die polnische Nation hat bewiesen, dass sie doch zu regieren imstande ist und sie kann ihr Land mächtig machen, wenn sie keiner dabei stört. Dadurch haben wir an Respekt und Bedeutung gewonnen in der Welt, in der wir noch vor kurzem unbekannt waren, die unsere Existenz und unsere große Vergangenheit vergessen hat. Und heute gehört ein polnischer Vertreter neben Vertretern der größten Mächte der Welt dem Völkerbund an, wo seine Meinung zählt, wo er das Schicksal der Welt beeinflussen kann. Er wacht auch darüber, dass Polen kein Leid erfährt.

Liebe Kinder! Die polnische Nation kann auf ihr Erbe stolz sein – stolz und glücklich.

Wir können uns aber nicht auf den Lorbeeren ausruhen. Die Arbeit ist noch nicht beendet, noch nicht alles wurde in unserem Vaterland getan, es mangelt noch an Vielem, es gibt noch viele Löcher zu stopfen. Im Vergleich zu anderen erfolgreichen Staaten bleiben wir noch zurück, auch wenn es nicht unsere Schuld ist. Wir müssen uns also bemühen, diese Staaten einzuholen, die solche Hindernisse, wie wir sie hatten, in ihrer Entwicklung nicht hatten. Wie können wir das schaffen? Was soll man machen, damit es Polen besser geht als bis jetzt, dass es keine Klagen, keine Armut mehr gibt, damit alle glücklich sind und dass Polen mächtiger und reich an Wohlstand wird?

Dazu führt nur ein Weg – Arbeit auf jedem Gebiet – eifrige, unermüdliche und beharrliche Arbeit, aber vor allem eine fröhliche Arbeit. Denn nur solche Arbeit bringt Früchte, die gern und mit Freude ausgeführt wird. Damit man an ihr Freude hat, muss man sich solche Arbeit aussuchen, die unseren Fähigkeiten und Vorlieben entspricht und diese soll zum Inhalt unseres Lebens werden. Man soll sie durch eine Idee veredeln, durch einen Gedanken, dass diese Arbeit nicht nur uns vom Nutzen ist, sondern auch unseren Mitbrüdern. Und dass durch diese Arbeit Polen mächtiger wird und ein Ziegelstein sein wird für den Bau der großen Rzeczpospolita. Denn ein großer Bau besteht aus vielen kleinen Ziegelsteinen.

Damit man das alles erreichen kann, was für Polen nötig ist, braucht man viele, viele Hände – aber solche, die die Arbeit nicht scheuen.

Diese arbeitswilligen Hände solltet ihr heute ausstrecken in Richtung Vaterland. Das wird der beste Liebesbeweis sein und so werdet ihr am besten die heutige Feier begehen.

Quelle 2: Aufruf zur Teilnahme an den Namenstagsfeierlichkeiten 1933[2]

Józef Pilsudski – das ist die Waffe Polens, bedeckt mit dem Ruhm der Legionen im Weltkrieg,

Józef Pilsudski – das ist der Wille zum Leben und zum Sieg an der Schwelle zum unabhängigen Vaterland, der seinen Ausdruck fand in der unvergesslichen Verteidigung von Lemberg und Wilna,

Józef Pilsudski – das sind die Grenzen der heutigen Republik, gezogen von der Stärke der polnischen Waffen,

Józef Pilsudski – das ist der ruhmvolle Frieden, die Frucht der Arbeit des siegreichen Führers der Nation,

Józef Pilsudski – das ist die Losung [unserer] gemeinsamen Anstrengung zur Festigung der Macht der Republik in der neuen polnischen Gesellschaft.


[1] Rede zum besonderen Anlass des 11. November gerichtet an jüngere Kinder, in: Herder-Institut (Hg.), Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Zweite Polnische Republik“, bearb. von Heidi Hein-Kircher, URL: <http://www.herder-institut.de/resolve/qid/1688.html> (06.12.2013).

[2] Aufruf des Glowny Obywatelski Komitet Obchodu Imienin Pierwszego Marszalka Polski Józefa Pilsudskiego (Hauptbürgerkomitee der Namenstagsfeier des Ersten Marschalls Polens Józef Pilsudski). Quelle: Gazeta Polska vom 19.III.1933, zitiert in: Hein-Kircher, Heidi, Der Pilsudski-Kult und seine Bedeutung für den polnischen Staat 1926–1939, Marburg 2002, S. V.


Für das Themenportal verfasst von

Heidi Hein-Kircher

( 2013 )
Zitation
Heidi Hein-Kircher, Zur Emotionalisierung von Politik. Führer-Kulte als Mittel zur Mobilisierung von Massen, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2013, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1629>.
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