Freund oder Feind? Der Boxverband der DDR und seine europäischen Konkurrenten[1]
Von Tim Neumann
Mit der Gründung der Weltföderation Association Internationale de Boxe Amateure (AIBA) im Jahre 1946 wurden die organisatorischen Grundlagen für das Wiederaufleben des Amateurboxsportes nach dem Zweiten Weltkrieg und dessen rasche Verbreitung im europäischen und globalen Maßstab gelegt. In der AIBA dominierten dabei lange, ganz ähnlich wie bei der Vorgängerorganisation Fédération Internationale de Boxe Amateur (FIBA), europäische Interessen das sportpolitische und sportliche Geschehen. Entscheidend war die Entwicklung des Amateurboxsportes durch die Verbindung mit den Olympischen Spielen geprägt, die seit dem Beginn des Kalten Krieges auch zu einer politischen Ersatz-Arena wurden, in der die Vertreter der verfeindeten politischen Blöcke ihre Konflikte austrugen. Nachdem die UdSSR das den Olympischen Spielen innewohnende politische Potential erkannt und 1952 erstmalig an ihnen teilgenommen hatte, folgten ihr weitere sozialistische Blockstaaten darin nach. Diese dominierten allmählich aufgrund des staatlich geförderten Sports in einigen olympischen Sportarten; insbesondere im Amateurboxsport, in dem die westlichen Staaten stets damit zu kämpfen hatten, dass fähige Amateure zu den Berufsportlern abwanderten. Bei der Europameisterschaft 1953 feierte der staatlich geförderte Amateurboxsport der sozialistischen Länder erstmalig einen breiten Erfolg bei dem kontinentalen Vergleich. In sportpolitischer Hinsicht nahmen Länder wie Polen anfänglich einen herausragenden Platz in der AIBA ein.
Der Boxverband der DDR erlebte seit seiner Konstituierung als Sektion Boxen im Deutschen Sportausschuss im Jahr 1948 und der Umstrukturierung Sportfachverband Deutscher Boxverband (DBV) des Deutschen Turn- und Sportbund (DTSB) im Jahr 1958 einen im nationalen wie internationalen Rahmen ganz bemerkenswerten sportlichen und sportpolitischen Aufschwung. Das lag nicht zuletzt daran, dass die DDR den Sport mit sämtlichen Mitteln, die ihr zur Verfügung standen, förderte. Bis Ende der 1970er-Jahre erkämpften Boxer aus der DDR, die erstmals 1956 an Olympischen Spielen und erstmalig 1953 an den Europameisterschaften teilnahmen, drei Mal olympisches Gold sowie fünf Europameistertitel. Im europäischen Amateurboxsport dominierten die Vertreter des sozialistischen Lagers. Die oftmals favorisierten Boxer aus der Sowjetunion kämpften zunehmend mit den Boxern aus der DDR um die vorderen Plätze.
Noch erfolgreicher war der sozialistische Block in der Sport-Politik. Die sportlichen Erfolge wurden durch den Marsch in die Führung der Weltamateurboxföderation untermauert. Die Gründung der europäischen Amateurboxföderation, European Amateur Boxing Association (EABA), galt als wichtiger Gradmesser des gewachsenen Einflusses. Bereits 1952 wurde die DDR unter tatkräftiger Unterstützung des polnischen Boxpräsidenten Zaplatka, der Mitglied im Exekutivkomitee der AIBA war, in die Association Internationale de Boxe Amateure aufgenommen. Die damalige Sektion Boxen fand so als einer der ersten Sportfachverbände der DDR die Aufnahme in eine Weltsportföderation. Diese Bemühungen wurden durch die Führung der DDR, die jedes Mittel nutzte, um die internationale Anerkennung der DDR gegen den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik zu stärken bzw. die sogenannte Hallsteindoktrin in Frage zu stellen.
Die kurzfristige und vor allem mustergültige Durchführung des außerordentlichen AIBA-Kongresses 1958 in Leipzig und die Aufnahme des damaligen DBV-Präsidenten Harry Krebs in das Exekutivkomitee der AIBA waren wichtige Schritte auf dem Weg zur internationalen Anerkennung. Im Weltverband der Amateurboxer sollten „die Verbände der sozialistischen Länder die Führung in der AIBA erhalten“.[2] Der Grundsatz „in allen Föderationen wichtige Positionen zu erringen mit den richtigen Leuten“[3] stand im Zentrum der internationalen Sportpolitik des DBV bzw. der olympischen Sportfachverbänden des DTSB. Die Absicherung von Edelmetall bei wichtigen internationalen Wettkampfhöhepunkten des Amateurboxsports, wie Olympische Spiele, Europameisterschaften und seit 1974 bei Weltmeisterschaften, bedurfte nach damaliger Auffassung auch der Sicherung des Einflusses in den jeweiligen internationalen Sportföderationen.
Herausragendes Mitglied des Boxverbandes der DDR in AIBA und EABA war der Jurist und Polizeiboxsportfunktionär Karl-Heinz Wehr. Seit 1968 war er Mitglied im EC der Weltföderation und verschiedener anhängiger Kommissionen. Sein Weg führte ihn 1986 an die Spitze der Föderation als ihr Generalsekretär. In der EABA, an deren Gründung er mitwirkte, war er zehn Jahre lang Vizepräsident und stellvertretender Vorsitzender der überaus wichtigen Kampfrichterkommission. Er gehörte der Zulassungskommission des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) an und gab die Zeitschrift der AIBA und der EABA heraus, die ebenso wie das AIBA- und EABA-Büro in Ostberlin im Wesentlichen vom DTSB finanziert wurden. Wehr war aufgrund seiner Ämter, aber auch dank seiner Fremdsprachenkenntnisse, für den Boxsport und die Sportpolitik der DDR unersetzlich. Die internationalen Aktivitäten der geförderten Sportfachverbände unterstanden direkt dem DTSB, der im Gleichklang zur SED agierte. Spielraum war da sehr wenig vorhanden. Nur ein unentbehrlicher Funktionär wie Wehr konnte es sich leisten, in seinen sportpolitischen Gefilden nicht aufgrund von dogmatischer Parteipolitik zu handeln, sondern sich den Realitäten zu stellen, allein um die Positionen in den internationalen Verbänden des Amateurboxsportes zu halten und auszubauen. Das zeigte sich unter anderem 1980 als er in einem Brief an den damaligen DBV-Generalsekretär, Kurt Jacobi, aufgrund unüberbrückbarer Differenzen mit sozialistischen Verbündeten und der Ignoranz des DTSB, seinen Posten in der Föderation zur Verfügung stellte.[4] Im Rückblich darauf meinte er dazu: „Sie brauchen natürlich Verbündete. Die Verbündeten für solche Sachen waren nicht auf der Seite der sozialistischen Staaten zu suchen. Die waren immer seitens der BRD, Irland, England, Frankreich, den afrikanischen und amerikanischen Ländern. Weil die gesehen haben, hier wird nicht politisch entschieden, sondern hier wird nach den Regeln entschieden. Ich habe mal auf einer Beratung des DTSB zum Thema der Zusammenarbeit der sozialistischen Länder gesagt: ‚Hört auf mit dem Quatsch, sucht euch richtige Verbündete. Die, die wir als Verbündete ansehen und ansehen sollen, treten uns dann immer, wenn es darauf ankommt ins Rückgrat.’ Sportpolitisch gab es keine Probleme, lediglich zu den Wahlen in den Föderationen gab es Neidprobleme, aber ganz schlimm war es dann bei den Wettkämpfen.“[5]
Der Schaffung der EABA am 4. Juni 1970 ging die Gründung von so genannten Kontinentalbüros seit 1966 voraus. Diese sollten die Belange der Boxverbände einer Großregion im Weltverband der Amateurboxer vertreten und den Demokratisierungsprozess in der Weltföderation unterstützen. Neugegründete Amateurboxverbände aus Asien, Afrika und Lateinamerika, die in die AIBA aufgenommen werden wollten, sollten durch den Vertreter des jeweiligen Kontinents unterstützt werden, um die Anforderungen zu erfüllen. Das Europäisches Regionalbüro (ERB) wandelte sich schließlich zur EABA, die nach der Führungsrolle in der AIBA strebte.
Überholte Strukturen, eine allmähliche Verlagerung der Interessen der Amateurweltboxföderation auf den amerikanischen Kontinent und besonders die Benachteiligung europäischer Interessen bei internationalen sportlichen Höhepunkten, wie etwa bei den Olympischen Spielen 1968, gaben letztlich den Ausschlag, eine eigene europäische Föderation, die Bestandteil der AIBA sein sollte, zu bilden. 1974 wurde beim AIBA-Kongress in Daressalam auf Vorschlag des DBV die Anerkennung kontinentaler Amateurboxföderationen beschlossen. Die europäischen Repräsentanten des Boxsports sahen sich als Schrittmacher eines ästhetischen Boxstils und kämpften für die Verbesserung der Ausbildung der Kampfrichter, die die Regeln im Ring durchsetzen konnten. Einen nicht unwesentlichen Beitrag dazu lieferte der Boxverband der DDR, der sich aktiv und an führender Stelle an der Bildung, Gestaltung und der Führung der neuen europäischen Amateurboxföderation beteiligte. Der Hochleistungssport und die Arbeit in den internationalen Sportverbänden sollten – unterhalb der diplomatischen Ebene – genutzt werden, um die Anerkennung der DDR und anderer sozialistischer Staaten voranzubringen und das sozialistische Gesellschaftssystem aufzuwerten.
Die DDR fühlte sich den sozialistischen Staaten Europas und der Welt „politisch und sportlich auf das engste verbunden“ wie der Boxverband an herausragender Stelle im Sportplan für 1977 fixierte.[6] Eine bestimmende Rolle nahm in dieser Konstellation die Beziehung zur Sowjetunion ein, zu der es kein Widerspruch geben durfte. Tatsächlich bewirkte das Unbehagen im Verhältnis zur Sowjetunion und anderen Ländern des sozialistischen Blocks, dass die DDR seit Ende der 1960er-Jahre verstärkt eigene sportliche Interessen in den Vordergrund stellte; umso mehr, da, wie Verbandsfunktionäre immer wieder feststellten, eben Goldmedaillen, besonders olympische, nicht teilbar waren.
Im Rahmen der Bemühungen für eine europäische Entspannungspolitik wurden die Beziehungen zwischen den Staaten des Warschauer Paktes und dem „Westen“ seit den späten 1960er-Jahren schrittweise verbessert. Die Entspannungspolitik zwischen Ost und West fand 1972 ihren Niederschlag im Grundlagenvertrag über die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten und schließlich 1973 in den Vereinbarungen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Aus Sicht der DDR sollte das sportliche Auftreten der olympischen Sportfachverbände auf internationaler Ebene die Normalisierung der internationalen Beziehungen unterstützen. Dem hatten auch die Aktivitäten des Boxverbandes Rechnung zu tragen. Neben materieller und struktureller Hilfe, die sich beispielsweise in der Förderung von Trainingslagern und der Entsendung von DDR-Trainern und Sportmaterialien für so genannte Entwicklungsländer zeigte, offerierte die DDR den europäischen Partnern unter anderem Kampfrichter- und Trainerseminare bzw. Schulungen, die in der Zentralen Sportschule des DTSB in Bad Blankenburg durchgeführt wurden. Die Angebote wurden in der EABA gut angenommen. Kampfrichter, Sportwissenschaftler, Mediziner und Funktionäre aus der DDR wurden immer wieder als Referenten in andere Länder eingeladen. Ihre Themen behandelten verständlicherweise keinerlei Interna aus dem Hochleistungssport der DDR. Die sehr gut ausgebildeten Vollzeitamateure des DDR-Boxsportverbandes wurden immer wieder in internationale Trainingslager und zu Vergleichskämpfen eingeladen.
Die Redaktion der AIBA- und EABA-Zeitschriften unter Wehr berichtete über Ereignisse und Entwicklungen im sozialistischen Sportsystem auch immer unter dem Gesichtspunkt der Beeinflussung. Gleichzeitig sorgte sie für die Verbreitung der Regeln, Statuten und Beschlüsse der Amateurboxföderationen. Sie brachte eine spezifische, nämlich die eigene, Auffassung vom Amateurboxen unter die Leute und unterstützte das Anliegen, die „langfristige Politik der sozialistischen Boxverbände“ und der DDR durchzusetzen.[7] Die Finanzierung des Magazins durch die DDR entsprang der Idee, mit den durch Werbung eingenommenen Gelder einen „höheren Valutaanteil für die DDR zu erreichen“.[8] Um die steigenden finanziellen Anforderungen im Leistungssport, insbesondere den Bedarf an ausländischen Währungen für Auslandsreisen sowie Trainings- bzw. Forschungsmaterialien zu decken, nahmen die DDR-Amateurboxsport-Funktionäre in Kauf, dass der Anzeigenteil ihrer Zeitschrift nach ansonsten so heftig bekämpften ‚kommerziellen‘ Gesichtspunkten gestaltet wurde.
In jedem Fall prüfte der DDR-Boxverband als Mitglied des DTSB die jeweiligen Kooperationen im Sport und in der Sportpolitik im Hinblick auf den möglichen Nutzen oder Schaden bei den Wahlen für die Leitungsgremien der internationalen Amateur-Boxsportverbände. Die Führung des Boxverbandes der DDR ging davon aus, dass die europäische Boxföderation gestärkt werden musste, damit einer ihrer Vertreter den Weg in die Spitze des Weltverbandes AIBA schaffen könnte. Zwar versicherte man sich der Hilfe der sozialistischen „Bruderstaaten“ bei den jährlich stattfindenden Treffen der Leitungen der Boxverbände dieser Länder, bei denen man unter anderem gemeinsames Abstimmungsverhalten und Vorgehen in den Föderationen besprach, jedoch bereits seit Ende der 1960er-Jahre zeigte diese gern beschworene Einheit erste Risse. Das Wahlverhalten im sozialistischen Block folgte zunehmend nationalen Eigeninteressen. Korruption und Neid gab es auch unter den Ländern und Verbänden des eigenen Blocks, sie machten nicht an den Systemgrenzen Halt. Auch die in der Regel guten Beziehungen der DDR-Boxsportfunktionäre zu den westlichen Partnern wurden zuweilen erschüttert; und zwar immer dann, wenn die Verbände des staatssozialistischen Blocks ihren Führungsanspruch in den internationalen Amateurboxföderationen allzu rücksichtslos vorbrachten, indem sie auf die sportlich kaum zu überbietenden Leistungen der staatlich geförderten Vollzeitamateure verwiesen, oder bewusst gesponnene Intrigen innerhalb von AIBA und EABA ausnutzten.
Die zuständige internationale Abteilung des DTSB hielt lange unbeirrt an ihrer Maxime von der Einigkeit der sozialistischen Staaten fest. Damit vermied sie jede Abweichung von der herrschenden Doktrin. Unter den Boxverbänden des staatssozialistischen Lagers übernahm die DDR eine integrierende Rolle.
Besonders ambivalent war das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Boxverbänden. Auf sportpolitisch-persönlicher Ebene waren die Beziehungen trotz Hallsteindoktrin schon länger durchaus freundschaftlich geprägt. So berichtete ein Vertreter der DDR in den 1970er-Jahren über das konziliante und kooperative Verhalten des westdeutschen Repräsentanten in den internationalen Boxsportverbänden: „Einen positiven Beitrag leistete auch der Vertreter Westdeutschlands, Krause, der unsere Belange in jeder Weise unterstützte […] Wir erklärten ihm, dass wir ihn hinsichtlich Köln unterstützen, wenn er garantiert, dass das Gleiche wie in der Seelenbinderhalle erfolgt, nämlich Flaggen, Hymnen, Embleme. Das, so erklärte er, könne er nicht garantieren, doch verstünde er unsere Haltung recht gut und sei uns deshalb nicht gram.“[9] Allerdings war man im DDR-Sportapparat darauf bedacht, das Dogma aufrechtzuerhalten, dem Bundesdeutschen Verband sportlich und sportpolitisch überlegen zu sein. Aufmerksam verfolgte man dabei dessen Aktivitäten in den internationalen Amateurboxföderationen. Man analysierte sie pedantisch, um im eigenen Sinne darauf zu reagieren oder gegebenenfalls westdeutsche Ambitionen auszubremsen wie zahlreiche zentrale Planungsunterlagen dokumentieren: „1.) Die sichtbare Demonstration der Gleichberechtigung des DBV gegenüber den anderen Föderationen der AIBA, die stärkere Einflussmöglichkeit auf andere Föderationen bei der Propagierung unseres Standpunktes und die Möglichkeit der schnellen Einleitung wirksamer Maßnahmen gegen Diskriminierung von Westdeutschland oder der NATO-Staaten, wie das z.B. bei der Vorbereitung der Europa-Meisterschaften in Rom 1967 notwendig war. Dazu gehört auch die Verhinderung, daß der westdeutsche Vertreter im EC Vizepräsident wird.“[10]
Große sportliche und sportpolitische Erwartungen hatte die DDR an die im eigenen Land ausgerichteten Europameisterschaft der Amateurboxer im Jahr 1977 in Halle an der Saale. Der DBV vertraute dabei auf die vorhandene Erfahrungen mit der Austragung internationaler sportlicher Wettkampfhöhepunkte, wie das international anerkannte Berliner TSC-Turnier (Turn- und Sportclub), den Hallenser Chemiepokal oder das Schweriner Junioren-Turnier. Die Funktionäre aus der SED, dem DTSB und dem DBV sollten nicht nur repräsentative Aufgaben erfüllen, sondern auch Kontakte zu den EABA-Funktionären knüpfen oder wenigstens den Boden für diese bereiten. Ihnen wurden genaue Aufgaben zugewiesen, die sie den Vorgaben gemäß umzusetzen hatten. Nicht alles lief dabei nach Plan: So scheiterte das Vorhaben, Verbindungen von DDR-Kampfrichtern zu ausländischen Kollegen bei der EM aufzunehmen, beinahe an den schlichtweg fehlenden erforderlichen Fremdsprachenkenntnissen einiger DBV-Vertreter.[11]
Wichtigste Aufgabe war es, die Lage für die anstehenden Wahlen und Kongresse der internationalen Sportverbände zu sondieren und Verbündete zu finden. Das politische Lager der möglichen Partner spielte mitunter nicht die erste Rolle. Aufgrund der vorbildlichen Organisation von Veranstaltungen wie etwa bei benannter EM, durchgeführter Kampfrichterseminare und ähnlichem sowie der sportlichen Erfolge ihrer Aktiven,[12] galt der Boxverband der DDR vielfach als der Primus unter den europäischen Verbänden. Das stärkte seinen Anspruch auf eine führende Rolle in der Weltamateurboxföderation. An den Europameisterschaften 1977 wurde aber auch der zunehmende innersozialistische Konkurrenzkampf deutlich. In allen Gewichtsklassen belegten Boxer aus sozialistischen Staaten die ersten Plätze. Westliche Boxer konnten lediglich einen zweiten und sieben dritte Plätze erkämpfen.[13] Augenscheinlich bestimmte der Kampf zwischen DDR- und Sowjetboxern besonders die Finalkämpfe. Das Geschehen im Ring fand seine Fortsetzung auf sportpolitischer Bühne. Der Kampf der politischen Systeme war auf sportlicher Ebene zu einem Wettbewerb unter den sozialistischen Staaten geschrumpft, die alle durch das Sportsystem der Sowjetunion geprägt waren. Auf außereuropäischer Ebene traten zudem noch die sportlich favorisierten Kubaner hinzu.
DDR-Sportfunktionäre wie Wehr, die sich für den Primat der Regeln und die Durchsetzung der Statuten engagierten, sollten nach Auffassung des DTSB die Vorstellungen über einen qualitativ hochwertigen und gerechten Amateurboxsport auch durch die Übernahme von Führungsfunktionen in den internationalen Föderationen stärken. Beim Wahlkongress der EABA während der Europameisterschaft 1979 in Köln waren es dann aber ausgerechnet die sogenannten sozialistischen „Bruderstaaten“ und insbesondere die Vertreter der Sowjetunion, die die Wahl eines Ostdeutschen zum EABA-Präsidenten verhinderten. Damit war das Vorhaben der DDR, eine herausragende Stellung in der europäischen, und weiterführend in der Weltamateurboxföderation zu erlangen, vorerst gescheitert. Angesichts des niederschmetternden Ergebnisses formulierte der Boxverband als angehendes Minimalziel die Zurückgewinnung der verlorenen Positionen. Geeignet erscheinende Partner der Amateurboxföderationen lud er zu den internationalen Turnieren in die DDR ein. Sportpolitisch wandte sich der Boxverband der DDR verstärkt Partnern zu, die nicht dem sozialistischen Block angehörten. Im Mittelpunkt standen besonders die europäischen Amateurboxverbände.
Vorübergehend erlebte allerdings der innersozialistische Zusammenhalt durch die Olympischen Spiele von Moskau eine Renaissance. Als Ergebnis erlangten 1982 auf dem EABA-Kongress in Nizza DBV-Vertreter wichtige Positionen in der europäischen Föderation. Nichtsdestotrotz erlebte das Agieren zu den „Bruderstaaten“ mit Beginn der 1980er-Jahre eine Wandlung, in dessen Verlauf die bedingungslose Haltung zugunsten einer ‚realistischen‘ Sicht aufgegeben wurde, wie etwa bei Wahlen zur überaus wichtigen Kampfrichterkommission: „[…] Gewinnung eines Platzes in der Kampfrichterkommission, auch wenn dies zu Lasten der gegenwärtigen Mitglieder der sozialistischen Länder geht.“[14] Innerhalb der EABA gedieh das Bestreben der meisten angeschlossenen Verbände als eine führende Föderation in der AIBA zu gelten. Genährt wurden die Hoffnungen durch das Bekunden der europäischen Partner in der europäischen Föderation, dass DBV-Vertreter, deren Verband als einer der aktivsten in Europa galt,[15] führende Positionen in der Weltboxföderation einnehmen könnten. In sportlicher Hinsicht gelang es in den 1980er-Jahren, die Weltspitze mitzubestimmen und beherrschende Posten in der europäischen- und Weltamateurboxföderation zu erlangen.
Abschließend bleibt festzuhalten, dass der Boxverband der DDR die Entwicklung des Amateurboxsports in Europa sowohl in sportlicher als auch in sportpolitischer Hinsicht jahrzehntelang ganz erheblich geprägt hat. Zwar lag seinem Schaffen das Interesse, den sozialistischen Block und sich selber in entscheidende Positionen zu bringen, zugrunde. Aber aus diesem Ansinnen resultierte letztlich auch eine Weiterentwicklung des Boxsports in internationalem Maßstab, der innerhalb der europäischen Föderation und auch in der Weltamateurboxföderation Normen setzten konnte. Ausschlaggebend war jedoch für den Boxverband, sportpolitisch den Boden für geplante Medaillengewinne bei bestimmenden internationalen Wettkampfhöhepunkten zu bereiten.
[1] Essay zur Quelle: Sportpolitische Ziele des Boxverbandes der DDR (1977/1979).
[2] „Konzeption für den AIBA-Kongreß am 18./19.10. in Leipzig“, in: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO-BArch), DY 12/2069.
[3] Der ehemalige AIBA-Generalsekretär Karl-Heinz Wehr im Interview mit dem Verfasser.
[4] Siehe dazu: „Brief Wehr an den Generalsekretär des DBV, Kurt Jacobi, vom 16.02.1980“, in: SAPMO–BArch, DY 12/1415 .
[5] Der ehemalige AIBA-Generalsekretär Karl-Heinz Wehr im Interview mit dem Verfasser.
[6] „Boxring. Organ des Deutschen Boxverbandes der DDR.“, Sportplan des DBV 1976, Nr. 1, 1976, S. III.
[7] „Wehr an Stubenrauch [Internationale Abt. DTSB] vom 16.10.1975“, in: SAPMO-BArch, DY 12/2078.
[8] „Information über die Herausgabe des AIBA–Magazins“, vom 01.12.1978, in: SAPMO–BArch, DY 12/1415.
[9] „Bericht über die Teilnahme an der Tagung des Europabüros des EC der AIBA, vom 24.–25.05.1968 in Teheran“, in: SAPMO-BArch, DY 12/2076.
[10] „Vorlage des Präsidiums des DBV an das Sekretariat des Präsidiums des DTSB, vom 04.03.1968“, in: SAPMO-BArch, DY 12/2073. Siehe auch: „Entwurf Maßnahmeplan des DBV für die internationale Tätigkeit in der AIBA und EABA bis 1974“, in: SAPMO–BArch, DY 12/2074.
[11] „Bericht über die Tagungen des EC der EABA und seiner Kommissionen in Halle/S., 13.06.1977.“, in: SAPMO–BArch, DY 12/1434.
[12] Zwei Europameistertitel und sechs zweite Plätze für die DDR–Boxer.
[13] „Als die Boxer aus westlichen Ländern von den Europameisterschaften der Amateure nach Hause fuhren, sind sie brutal daran erinnert worden, dass zwischen den Standards in Ost und West eine breite Kluft besteht. Die Boxer des Westens haben während der einwöchigen Wettkämpfe sieben Bronze- und eine Silbermedaille gewonnen. […] ‚Unsere Jungen, die wirklichen Amateure dieses Wettbewerbs, haben noch bis kurz vor Beginn der Meisterschaften gearbeitet’, sagte ein westlicher Trainer. ‚Zu diesem Zeitpunkt befanden sich einiger dieser Osteuropäer bereits seit drei Monaten in Trainingslagern. Auf dieser Grundlage sehe ich nicht wie wir mit ihnen zu gleichen Bedingungen erst anfangen sollen zu kämpfen.’“, in: ADN–Sportinformation, Berlin 1977; („reuter“ 07.06.1977).
[14] „Das gegenwärtige Kräfteverhältnis in der AIBA. Ziele und Aufgaben des DBV der DDR für den Kongreß 1982.“ vom 11.09.80, in: SAPMO–BArch, DY 12/1415.
[15] „Bericht über die Ergebnisse des IV. EABA–Kongresses in Nizza/Frankreich“, vom 08.06.1982, in: SAPMO–BArch, DY 12/1395.
Literaturhinweise
Mertin, Evelyn, Sowjetisch-deutsche Sportbeziehungen im „Kalten Krieg“, St. Augustin 2009.
Geyer, Martin, H., Der Kampf um Nationale Repräsentation. Deutsch-deutsche Sportbeziehungen und die „Hallstein-Doktrin“, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 44 (1996), H. 1, S. 55–86.
Schumann, Karsten, Empirisch-theoretische Studie zu Entwicklungsbestimmenden Bedingungen des Leistungssports der DDR, Diss., Leipzig 1989.