Der Londoner Kongress des Internationalen Verbandes der Schriftsteller PEN (Poets, Essayists, Novelists) im September 1941

Vom 10. bis 13. September 1941 fand in London der XVII. Kongress des Internationalen PEN statt. In London war die Schriftstellerorganisation, die sich für Völkerverständigung, Frieden und die Freiheit der Literatur und Kultur einsetzte, im Jahr 1921 gegründet worden. Zunächst lag der Schwerpunkt der internationalen Schriftstellervereinigung auf Europa – 1925 zählte sie dort 25 nationale Zentren. Danach expandierte sie in die ganze Welt und umfasste im Jahr 1939 sowohl Zentren in Nord- und Südamerika, als auch in Ägypten, Palästina, dem Irak, Indien, Japan und Neuseeland. [...]

Der Londoner Kongress des Internationalen Verbandes der Schriftsteller PEN (Poets, Essayists, Novelists) im September 1941[1]

Von Helmut Peitsch

Vom 10. bis 13. September 1941 fand in London der XVII. Kongress des Internationalen PEN statt. In London war die Schriftstellerorganisation, die sich für Völkerverständigung, Frieden und die Freiheit der Literatur und Kultur einsetzte, im Jahr 1921 gegründet worden. Zunächst lag der Schwerpunkt der internationalen Schriftstellervereinigung auf Europa – 1925 zählte sie dort 25 nationale Zentren. Danach expandierte sie in die ganze Welt und umfasste im Jahr 1939 sowohl Zentren in Nord- und Südamerika, als auch in Ägypten, Palästina, dem Irak, Indien, Japan und Neuseeland.

Ursprünglich hatte der XVII. Kongress vom 3. bis 7. September 1939 in Stockholm stattfinden sollen, wohin die meisten Delegierten angereist waren. Er war dann aber wegen des Kriegsausbruchs abgesagt worden. Als deutsche Redner waren damals Thomas Mann und Gerhart Hauptmann vorgesehen gewesen. Thomas Mann lebte bereits im Exil, Hauptmann dagegen war im nationalsozialistischen Deutschland geblieben, wo das nationale PEN-Zentrum nach dem Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund ein Bekenntnis zu Hitler abgelegt, am 8. November 1933 den Austritt aus dem Internationalen PEN erklärt, und sich in Union Nationaler Schriftsteller umbenannt hatte. Die daraufhin vom Internationalen PEN-Club, insbesondere seinem Generalsekretär Hermon Ould zusammen mit Rudolf Olden initiierte German Group von Autoren, die aus unterschiedlichen Gründen Deutschland verlassen hatten[2], hatte 1939 über achtzig Mitglieder. Präsident war Heinrich Mann, Generalsekretär der im Londoner Exil lebende Rudolf Olden. Zusammen mit den Mitgründern Lion Feuchtwanger, Max Herrmann-Neiße und Ernst Toller erhoben sie den Anspruch, die freie deutsche Literatur zu repräsentieren und die Redner für die internationalen Kongresse auszuwählen.

Die kurzfristige Einberufung des XVII. Kongresses durch den Internationalen PEN in das London des Bombenkriegs für September 1941 hatte innerorganisatorische Gründe, die allerdings mit der Ausweitung des Kriegs in diesem „welthistorischsten Jahr“[3] zusammenhingen. Sie erfolgte vor dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion (22. Juni), dem britisch-sowjetischen Bündnis (12. Juli), dem US-amerikanischen Angebot der Lieferung von Kriegsmaterial (30. Juli) und der britisch-US-amerikanischen Verabschiedung der Atlantik-Charta (14. August). Auf diese Ereignisse – im Unterschied zu späteren im selben Jahr wie dem sowjetischen Abkommen mit der polnischen Exilregierung (4. Dezember) und dem auf Pearl Harbour (7. Dezember) folgenden Kriegseintritt der USA – bezogen sich im September einzelne Redner des Londoner Kongresses, aber alle nahmen, wie der Generalsekretär des Internationalen PEN in seiner Publikation einer Auswahl der Beiträge betonte,[4] Stellung zu der Frage, welche Alternative der drohenden Verwirklichung der deutsch-italienisch-japanischen ‚Neuordnung‘ der Welt entgegenzusetzen sei. Indem sie über Europa und die Welt nach dem Krieg diskutierten, brachten sie unterschiedliche Auffassungen über die Rolle der Literatur und des Autors zum Ausdruck.

Mit der Einberufung des Kongresses für September 1941 im Mai desselben Jahres reagierte der Internationale PEN-Club auf die Gründung eines European PEN in America am 15. Mai 1941 in New York. Diese war vom Dramatiker Ferdinand Bruckner angestoßen worden, der dafür die Unterstützung des nach New York übergesiedelten Präsidenten des Internationalen PEN Jules Romains gewonnen hatte. Bruckner war Vizepräsident der 1940 gegründeten German-American Writers Association (GAWA), in die sich der Pariser Schutzverband Deutscher Schriftsteller (SDS) in New York transformiert hatte und die korporatives Mitglied des US-PEN geworden war.[5] Die GAWA zählte damals 183 Mitglieder, von denen die meisten in New York lebten. Bruckner stellte sich mit seiner Sammlungspolitik gegen die von Rudolf Oldens vertretene Abgrenzungspolitik gegenüber dem SDS, die der kommunistisch dominierten Bündnisorganisation Internationale Schriftstellervereinigung zur Verteidigung der Kultur (ISVK) angehörte. Olden hatte vor seinem Tod auf der Überfahrt nach New York das dortige deutsche literarische Exil als „a stronghold of communists and ,keep out‘ defeatists”[6] eingeschätzt.

Der Generalsekretär des Internationalen PEN-Club Hermon Ould protestierte in seinem Schreiben vom 20. Mai 1941 an Jules Romains nicht nur gegen die New Yorker Neugründung, sondern kündigte auch – wenngleich nicht offen – die Reaktivierung der Deutschen Gruppe an, deren Tätigkeit mit dem Tod des Generalsekretärs erloschen war. Er unterstellte, dass diese bereits erfolgt sei, um die Legitimität der von Romains und Bruckner etablierten Konkurrenzorganisation zu bestreiten: „If there must be a ,European P.E.N.‘ so-called (and we do not, as a matter of fact, see any reason for this new classification), so its seat must be in England, which remains free and is, after all, Europe.“[7] Ould wies nicht nur einen US-amerikanischen Führungsanspruch zurück, sondern meldete zugleich – im Namen des Internationalen Exekutivkomitees mit Sitz in London – den eigenen Anspruch an: England sollte das freie literarische Europa repräsentieren. Kategorisch ausgeschlossen wurde die Repräsentation der deutschen Literatur (und der Literaturen der von den Nazis eroberten Länder) durch Zentren außerhalb Londons. Die Bezeichnung „German Group“ sollte durch „German (anti-Nazi) Group“ ersetzt werden.

Zur ersten Mitgliederversammlung der als ‚anti-Nazi‘ reaktivierten German Group kam es erst am 4. September 1942. Der vom Internationalen PEN anstelle von Heinrich Mann eingesetzte Präsident Alfred Kerr schrieb dazu einem Mitglied: „Es galt für uns nur ein festeres Angliedern des winzigen deutschen Beiwägelchens an die Mutterkutsche.“[8] In bezeichnend diplomatischer Form – als scheinbares Zitat aus einer US-amerikanischen Zeitschrift – dokumentierte zur selben Zeit eine Meldung in der in Moskau erscheinenden, der ISVK verbundenen Internationalen Literatur, dass die kommunistischen Literaturpolitiker die alleinige Legitimität des Londoner PEN anerkannten: „Wie die amerikanische Zeitschrift ,Saturday Review of Literature‘ mitteilte, ist die Haupttätigkeit des Pen-Klubs jetzt in London konzentriert.“[9]

Während Oulds Protestbrief vom Mai 1941 bereits sieben der zehn in London vertretenen Zentren für besetzte oder mit Nazi-Deutschland verbündete Länder nannte, deren Repräsentanten auf dem Kongress im September sprechen würden (hinzu kamen Spanien, Frankreich und Ungarn), schwieg er über die außereuropäischen Vertretungen aus Indien, China, Kanada und Palästina. Ebenso verfuhr er mit Autoren, die Romains als Internationalen Präsidenten absetzen wollten, gegen dessen „political perambulations“ die Präsidentin des englischen Zentrums, Margaret Storm Jameson, in einer Luncheon-Rede vor Vertretern von zwanzig Zentren am 15. Juli 1941 bekräftigt hatte: „Here we are and here we intend to remain, Europe in England and England in Europe.“[10]

Viele der Redner waren mit in London tätigen Exilregierungen verbunden,so André Labarthe als Herausgeber von La France Libre oder Tymon Terlecki als Herausgeber von Polska Walczaca, dem offiziellen Organ der Polish Armed Forces in the West. Andere Redner waren in London in politischen Organisationen tätig. So auch Robert Neumann[11], dessen Rede „When a Writer Goes into Politics“[12] Romains‘ Sturz begründete, und der als Organisator – in Zusammenarbeit mit dem Foreign Office – des Free Austrian Movement fungierte. Für britische zivile oder militärische Dienststellen arbeiteten Arthur Koestler, der – als Ungar eingeführt – in der Uniform des Pioneer Corps auftrat[13], für das Ministry of Information (seit 1939) Peter de Mendelssohn[14] und für die BBC der Inder Mulk Raj Anand ebenso wie Erika Mann.

In seinem Nachwort zu der als Buch veröffentlichten Dokumentation des Kongresses hob Ould diese Mitwirkung an dem britischen „war effort“[15] und den Wechsel zum Englischen hervor; mit Koestler, Mendelssohn und Neumann nannte er die erfolgreichsten unter den nach Großbritannien Geflohenen, die englisch zu schreiben begonnen hatten. Ould erwähnte auch die Meinungsverschiedenheiten auf dem Kongress am Beispiel der deutschsprachigen Delegierten, die „apparently irreconcilable“ wie „fundamentally opposed opinions“[16] über die Umerziehung der Deutschen nach dem Krieg von Alfred Kerr, Erika Mann und Robert Neumann auf der einen, Wilhelm Wolfgang Schütz, dem London-Korrespondenten der Neuen Zürcher Zeitung auf der anderen Seite. Erika Mann erklärte die Schriftsteller zwar nicht für zuständig für „die nach dem Krieg auf uns zukommenden großen politischen und wirtschaftlichen Probleme“, aber für „das Problem der Erziehung in Europa und vor allem der Umerziehung in Deutschland”[17]: „unsere Aufgabe” als Schriftsteller sei es, „die Deutschen” „von […] Wünschen”, „einen weiteren Krieg vorzubereiten”, zu „befreien”.[18] Der Literatur stellte sie die Aufgabe der Umerziehung durch „Bücher”, die „die deutsche Erziehung völlig neu [...] gestalten”[19], denn „schon seit Generationen sind sie in hohem Maße falsch erzogen worden; ihr Verstand ist vergiftet, sie sind geistig krank.”[20] Aber die Deutschen seien nicht „unheilbar”.[21]

Der exilierte tschechoslowakische Präsident Eduard Benes hatte in seiner Grußbotschaft an den Kongress die Erwartung geäußert, dass die Literatur und die Welt nach dem Krieg das wichtigste Thema des Kongresses seien, und betont, „that literature […] must play an influential part in the reconstruction of the world after the war, that ‚The Writers‘ Part in Social Reconstruction‘ […] must be a great and responsible one.“[22] Heftig umstritten war die Äußerung des tschechoslowakischen Vertreters Frantisek Langer, dass der Internationale PEN-Clubs seit dem Kongress von 1933 in Ragusa/Dubrovnik eine offene politische und antifaschistische Haltung eingenommen habe.[23] Als Zeitverschwendung lehnte E. M. Forster jedes Reden über eine Neuordnung ab, weil Ordnung nur mystisch in Gott und in der ‚inneren Harmonie‘[24] des Kunstwerks zu erfahren sei. Als außerhalb des Zuständigkeitsbereichs des Schriftstellers wies J. B. Priestley die Aufgabe zurück, die Storm Jameson den britischen Autoren in der Selbsterneuerung der westlichen Kultur nach dem Krieg stellte, nämlich die Engländer von ihrer Verantwortung gegenüber Europa zu überzeugen[25]; für solche Ratschläge oder gar Führungsaufgaben seien Schriftsteller nicht zuständig.[26] Als Vernachlässigung dessen, was ein Schriftsteller sei[27], konterte Rebecca West Koestlers Kritik am Elfenbeinturm; sie verteidigte deshalb Jules Romains, gegen den Neumann eine ‚Hexenjagd‘ eröffnet habe.[28] Der exilierte spanische Autor Salvador de Madariaga erinnerte im Anschluss an Koestlers Kritik an E. M. Forsters Verteidigung der ‚Kunst um der Kunst willen‘, dass man als Autor immer in einem Elfenbeinturm arbeite, aber nicht in diesem lebe.[29] Als überzeugter Atlantiker äußerte er die Meinung, dass Europa nach dem Weltkrieg entweder von Großbritannien und den USA neu geschaffen werde oder in einem weiteren Krieg versinke.[30] Gegen Erika Manns Vorstellung, dass die Umerziehung der Deutschen nach der nationalsozialistischen Herrschaft und dem von Deutschland ausgegangenen Krieg durch das Ausland getragen werden müsse, betonte Madariaga in Überstimmung mit Wilhelm Wolfgang Schütz, dass die europäische Tradition einer gemeinsamen Kultur in Deutschland immer noch existiere[31], weil der Geist das einzige Reich des Lebens sei, an dem die Macht des Nazi-Systems ende.[32] Diese sehr starken positiven Elemente Europas[33] setzte Madariaga von negativen ab. Dem norwegischen Vertreter Wilhelm Keilhau warf er vor, dass dieser mit seiner Aussage, „making ‚Europe‘ a political unit is to-day a main programme of the Nazis“, Europa bedeute die fünfte Weltmacht mit Deutschland als ihrem zentralen Imperium, die europäische Idee verrate.[34] Daraus leitete Keilhau den Vorschlag ab, überhaupt die Vorstellung von Europa als unrealistisch und sogar gefährlich aufzugeben[35] und stattdessen als wahre Weltbürger an das Friedensproblem heranzugehen.[36] Seine Auffassung einer neuen Achse Washington-London-Moskau-Tschungking als Grundlage des Umbaus der Welt[37] nach dem Krieg stieß indes auf den Widerspruch derjenigen, die in ihren Redebeiträgen Kosmopolitismus und Internationalismus als billig oder oberflächlich bezeichneten.[38] Der französische Vertreter Labarthe betont in Übereinstimmung mit anderen Rednern, dass das Ende von Hitlers imperialistischem Traum nicht die Wiedergeburt eines destruktiven Nationalismus bedeuten müsse; denn Nationalismus behindere an und für sich die Befriedung Europas nicht. Labarthe erteilte zugleich der Vorstellung einer auf dem gemeinsamen Leiden der Völker und Menschen aufbauenden europäischen Einheit eine Absage, indem er zwischen ‚Opfer-‘ und ‚Täter-Ländern‘ unterschied: Rekonstruktionspläne für Europa müssten den Gefühlen der Opfer-Länder entsprechen, wenn gelten solle, dass man nie wieder eine solche Katastrophe über die Welt hereinbrechen lassen dürfe.[39] Eine andere Grenze zog der katalonische Vertreter J. M. Batista i Roca, als er Nationalismus und Internationalismus für keineswegs unvereinbar erklärte: Er unterschied zwei Ideologien, nämlich den ‚freien Geist‘, für den Europa eine kulturelle und spirituelle Einheit bilde, und die ‚totalitäre Neuordnung‘, die die kulturell-geistigen Verbindungen zerbreche. Um jedes Land als eine Facette eines Edelsteins zu begreifen, forderte Roca, dass das neue Konzept von Nationalismus die Vaterlandsliebe um das Interesse an allen anderen Ländern ergänzen müsse.[40]

Das Bild von der Literatur als Brücke wurde nur vereinzelt angesprochen. Der zum englischen Schriftsteller gewordene Peter de Mendelssohn hielt die Bücher der aus Deutschland geflohenen Autoren, die nach dem Krieg nach Deutschland zurückkehren wollten, für genauso notwendig und unersetzlich, wie die Bücher der Autoren, die nicht mehr dahin gehen wollten; jedes Buch werde auf seine Weise eine Niete in der großen Brücke sein, die errichtet werden müsse, um die Kontinente und ihre Völker wieder zu verbinden.[41]

Was für Literatur in Maidanek geschrieben werde, fragte hingegen der britische Autor jüdischer Herkunft Joseph Leftwich[42], und der polnische Vertreter Tymon Terlecki wies in seinem Überblick über deutsche Unterdrückung in Polen als Teil eines Kriegs um Weltherrschaft auf Schriftsteller in Auschwitz hin.[43] Leftwich brachte eine Resolution zur jüdischen nationalen Heimstatt in Palästina ein, zu deren Begründung der Vertreter des PEN-Zentrums in Palästina an eine Tradition appellierte, die zuvor nur der tschechoslowakische Delegierte Josef Kodicek gegen den Elfenbeinturm, den ‚extremen Formalismus moderner Kunst‘ und den Abgrund zwischen Schriftsteller und Volk[44] ins Spiel gebracht hatte: Die Welt und ihre Literatur bräuchten mehr von dem Geist Zolas.[45]

Zeitlich parallel zur Reaktion des Internationalen PEN-Clubs auf die Initiative zu einem Europäischen PEN in Amerika waren die Vorbereitungen zu einer nationalsozialistischen Gegenorganisation in dem von Deutschland beherrschten Europa gelaufen. Keine vierzehn Tage vor dem Überfall auf die Sowjetunion, am 11. Juni 1941, schrieb der Geschäftsführer der Reichskulturkammer im Auftrag von Minister Goebbels an eine Reihe von Experten über den Plan, „möglichst bald eine Gegenbewegung bzw. eine Vereinigung gegen den PEN-Club einzuleiten und einzurichten, d.h. zunächst auf europäischer Basis“.[46] Im Oktober 1941 gründete das Propagandaministerium die Europäische Schriftsteller-Vereinigung (ESV), zu deren erster Jahrestagung in Weimar Goebbels für seine Rede notierte: „Der PEN-Klub wird von mir als ‚Penn‘-Klub gekennzeichnet, der nicht mehr das Recht habe, im Namen des intellektuellen Europa zu sprechen.“[47] Unter Beteiligung von ausländischen Autoren wie Robert Brasillach, Marcel Jouhandeau, John Knittel und Drieu la Rochelle wurde Hans Carossa zum Präsidenten gewählt, der sich in seinem „Lebensbericht“ 1951 auf die „Geistesgegenwart“ seiner Erklärung bei der Annahme des Vorsitzes berief: „In Ihnen allen, meine Herren, lebt sicherlich so fest wie in mir selber der Glaube, daß eine Erneuerung des Abendlandes nur vom Geist und von der Seele her erfolgen kann.“[48] Welchen europäischen Geist Carossa repräsentieren sollte, hatte im Pressedienst Das neue Europa eine polemische Glosse zum Londoner PEN-Kongress deutlich gemacht, die in Vorbereitung des Europäischen Dichtertreffens in Weimar erschienen war. Unter dem Titel „Pen-Klub ohne Auditorium“ hieß es dort, namentlich gegen Kerr und Erika Mann gewendet: „Die Emigranten müßten sich englisch oder hebräisch unterhalten [...], sie seien blind für eine Erneuerung der Kultur aus arischem Geist, doch zum Glück sei man sie in Deutschland für immer los.“[49]

Die Kontroversen des PEN-Kongresses von 1941 über Europa und die Rolle der Literatur fanden nach dem Sieg der Alliierten und unter den Bedingungen des bald darauf beginnenden Kalten Krieges ihre Fortsetzung in einer Serie von internationalen Konferenzen von Intellektuellen. 1946 unternahm Georg Lukács bei dem ersten Europäischen Gespräch in Genf den Versuch, das Bündnis von 1941 als eines von Demokratie und Sozialismus wiederherzustellen.[50] Das scheiterte mit dem Ausschluss Russlands aus der abendländischen Kultur, den Max Frisch aufgrund der Diskussionen des Weltkongresses der Intellektuellen für den Frieden 1948 in Wroclaw konstatierte[51], oder mit der Erhebung Europas zur Schutzmacht nationaler Kulturen gegen die USA und die Sowjetunion, die Jean-Paul Sartre 1949 begründete.[52]



[1] Essay zur Quelle: Erika Mann: „Die Zukunft Deutschlands“ (1941).

[2] Berthold, Werner; Eckert, Brita, Der deutsche PEN-Club im Exil 1933–1948. Eine Ausstellung der Deutschen Bibliothek, Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1980, S. 37.

[3] Berghahn, Volker, August 1941. The Atlantic Charter and the Future of Europe, in: Themenportal Europäische Geschichte (2008), URL: <http://www.europa.clio-online.de/2008/Article=288> (13.10.2014).

[4] Ould, Hermon (Hg.), Writers in Freedom. A Symposium. Based on the XVII International Congress of the P.E.N. Club Held in London in September, 1941. London u.a. 1941, S. 150.

[5] Berendsohn, Walter A., Die humanistische Front. Einführung in die deutsche Emigranten-Literatur. Erster Teil: Von 1933 bis zum Kriegsausbruch 1939, Zürich 1946, S. 181.

[6] Berthold, Werner, et al., So viele Bücher, so viele Verbote. Reden zur Eröffnung der Ausstellung „Der deutsche PEN-Club im Exil 1933–1948“, Frankfurt am Main 1981, S. 55.

[7] Archiv der Akademie der Künste Berlin (AdK), Bestand Bruckner, 764.

[8] Brief von Alfred Kerr an Kurt Hiller vom 2.5.1942, AdK, Bestand Kerr, H br D h pe.

[9] Roha (d.i. Heinz Willmann), Die Arbeit des Pen-Klubs, in: Internationale Literatur 12 (1942), H. 5/6, S. 127.

[10] Stadler, Franz (Hg.), Robert Neumann. Mit eigener Feder. Aufsätze. Briefe. Nachlassmaterialien, Innsbruck u.a. 2013, S. 162.

[11] Wagener, Hans, Robert Neumann. Biographie, München 2007, S. 91, 94.

[12] Ould, Writers, S. 99–103.

[13] Cesarani, David, Arthur Koestler. The Homeless Mind, London 1998, S. 181.

[14] Pross, Harry, Mendelssohn, Peter de, in: Neue Deutsche Biographie 17 (1994), S. 63–65, hier S. 64.

[15] Ould, Writers, S. 11.

[16] Ebd., S. 150.

[17] Mann, Erika, Die Zukunft Deutschlands, in: dies., Blitze überm Ozean. Aufsätze, Reden, Reportagen. Herausgegeben von Irmela von der Lühe, Uwe Naumann, Reinbek 2000, S. 229–233, hier S. 230.

[18] Ebd.

[19] Ebd., S. 232.

[20] Ebd., S. 230.

[21] Ebd.

[22] Ould, Writers, S. 5.

[23] Ebd., S. 35.

[24] Ebd., S. 74f.

[25] Ebd., S. 16.

[26] Ebd., S. 19.

[27] Ebd., S. 20.

[28] Ebd., S. 23.

[29] Ebd., S. 28.

[30] Ebd., S. 33.

[31] Ebd., S. 86.

[32] Ebd., S. 89.

[33] Ebd., S. 32/33.

[34] Ebd., S. 111.

[35] Ebd., S. 104.

[36] Ebd., S. 112.

[37] Ebd.

[38] Ebd., S. 123.

[39] Ebd., S. 41f.

[40] Ebd., S. 120–122.

[41] Ebd., S. 98.

[42] Ebd., S. 139.

[43] Ebd., S. 148/149.

[44] Ebd., S. 71.

[45] Ebd., S. 143.

[46] Hausmann, Frank-Rutger, „Dichte, Dichter, tage nicht!” Die Europäische Schriftstellervereinigung in Weimar 1941–1948, Frankfurt am Main 2004, S. 29.

[47] Ebd., S. 52.

[48] Carossa, Hans, Ungleiche Welten. Lebensbericht, Frankfurt am Main 1978, S. 109.

[49] Hier referiert nach Hausmann, Dichter, S. 52.

[50] Lukács, Georg, Aristokratische und demokratische Weltanschauung, in: Benseler, Frank (Hg.), Georg Lukács: Revolutionäres Denken, Darmstadt, Neuwied 1984, S. 197–223, hier S. 219.

[51] Frisch, Max, Tagebuch 1946–1949, Frankfurt am Main 1950, S. 299–301.

[52] Sartre, Jean-Paul, Verteidigung der französischen Kultur durch die europäische Kultur. Vortrag am Centre d’Études de Politique étrangère vom 24. April 1949, in: ders., Schwarze und weiße Literatur. Aufsätze zur Literatur 1946–1960, Reinbek 1984, S. 92–111.



Literaturhinweise

  • Abbey, William, ,Die Illusion genannt Deutscher PEN-Club‘. The PEN-German Group and the English Centre, 1933–45, in: ders. et. al. (Hgg.), Between Two Languages. German-speaking Exiles in Great Britain 1933–45, Stuttgart 1995, S. 135–153.
  • Feigel, Lara, Writing the Foundations of a Better World. The Role of Anglo-German Literary Exchange in the Reconstruction of Germany and the Construction of Europe, 1945–1949, in: Bru, Sascha (Hg.), Europa! Europa? The Avant-garde, Modernism and the Fate of a Continent, Berlin 2009, S. 229–243.
  • Lühe, Irmela von der, Erika Mann. Eine Biographie, Frankfurt am Main u.a. 1994.
  • Peitsch, Helmut, „No Politics“? Die Geschichte des deutschen PEN-Zentrums in London 1933–2002, Göttingen 2006.
  • Wilford, R. A., The PEN Club, 1930–50, in: Journal of Contemporary History 14 (1979), H. 1, S. 99–116.

Erika Mann: Die Zukunft Deutschlands (1941)[1]

Rede auf dem Internationalen PEN-Kongreß

Es ist mir eine Ehre und wirklich eine große Freude, bei Ihnen zu sein. Nichts könnte angenehmer, ermutigender und bedeutender sein als dieses Zusammentreffen freier Geister in der Hauptstadt der Welt – ein Treffen von geistig tätigen Menschen, die alle für die Demokratie kämpfen. Ich werde dieses Bild vom XVII. Internationalen P.E.N.-Kongreß mit mir nach Amerika nehmen, und wann immer die Krakeelerei von Mr. Lindbergh und Mr. Wheeler mich während meiner nächsten Vortragsreise stören und behaupten, daß Hitler schließlich den Kontinent geeint habe und daß Deutschland Europa sei, werde ich an Sie denken und sagen: «Wie kann Deutschland behaupten, Europa zu sein, wenn ich mit eigenen Augen gesehen habe, daß Europa in London ist?»

Im Anschluß an meine Vorträge und nach den Publikumsfragen warten immer ein paar Botenjungen hinter der Bühne auf mich und geben mir ein paar Briefe. Auf diesen Briefen steht meist «Persönlich», «Dringend» oder «Wichtig»; einer mag mit «Ein wahrer Amerikaner» unterschrieben sein, ein anderer mit «Eine amerikanische Mutter», ein dritter mit «Ein christlicher Amerikaner» und ein vierter einfach mit «Heil Hitler! ».Sie alle pflegen in schrecklichem Englisch geschrieben zu sein, das deutlich ihre Naziherkunft verrät, und sie versichern mir, daß die Geduld des Absenders erschöpft sei, was mich anbetrifft, und daß bald ein gewaltsamer Tod meine kriminellen, verräterischen und kriegstreiberischen Aktivitäten beenden werde. Sie alle werden per Boten zugestellt, weil das moderne Gesetz verbietet, Menschenleben bedrohende Nachrichten mit der Post zu schicken. Nur, damit kann ich leben, weil ich entschlossen bin, niemals die Geduld zu verlieren, sondern mit meiner Aufklärungsarbeit weiter zumachen [sic] und gleichzeitig meine eigene Bildung langsam, aber sicher zu verbessern. Geduld, heißt es, kommt vom Himmel, und solange sie mit einer kämpferischen Tätigkeit einhergeht, stimme ich aus ganzem Herzen zu. Denn kämpferische Tätigkeit ist notwendig, und sie ist jetzt notwendig, im Erziehungsbereich mehr als anderswo, glaube ich, denn während die nach dem Krieg auf uns zukommenden großen politischen und wirtschaftlichen Probleme von den Berufspolitikern gelöst werden müssen und vor dem Ende des Krieges nicht in allen Details und offen erörtert werden können, ist das Problem der Erziehung in Europa und vor allem der Umerziehung in Deutschland unsere Angelegenheit, und je eher wir uns damit befassen, desto besser ist es.

Fast neun Jahre lang sind die Deutschen erzogen – in einem fast unglaublichen Grad falsch erzogen – worden, und schon seit Generationen sind sie in hohem Maße falsch erzogen worden; ihr Verstand ist vergiftet, sie sind geistig krank. Bedeutet dies, daß sie unheilbar sind? Wenn sie es wären, hätten wir allen Grund zu verzweifeln, denn weder eine einseitige Entwaffnung noch die allgemeine wirtschaftliche Sicherheit, wie sie in der Atlantik-Charta vorgesehen ist, würde die Deutschen daran hindern, im geheimen einen weiteren Krieg vorzubereiten, wenn sie es wollten. Wir müssen sie von solchen Wünschen befreien. Das wird unsere Aufgabe sein; es wird eine harte Aufgabe sein, äußerst schrecklich und oft ziemlich gefährlich, das gebe ich zu, aber einen weiteren Krieg in zwanzig Jahren durchzustehen, wäre unendlich härter, unangenehmer, gefährlicher. Die militärische Abrüstung Deutschlands muß mit der moralischen Aufrüstung verbunden werden.

Der Begriff «moralische Aufrüstung» wird von einer ziemlich zwielichtigen Organisation benutzt und mißbraucht, aber er bleibt trotzdem ein guter Begriff. Beim Versuch, Deutschland moralisch aufzurüsten haben wir es mit drei Generationen zu tun: mit den Erwachsenen, den Älteren, die sich noch an die Zeit vor den Nazis erinnern und nie ganz von Hitler unterjocht wurden; mit den Jüngeren, die von ihm besessen sind und nichts als den Nazismus kennen; und mit den Kindern, deren Geist immer noch formbar genug ist, um für neue Einflüsse offen zu sein. Ich glaube nicht, daß es schwierig sein wird, die deutschen Kinder umzuerziehen, und ich spreche da aus eigener Erfahrung. Immerhin war unsere eigene Erziehung während des letzten Krieges auch nicht allzu gut; sie war fast so schlecht, wenn auch nicht so durchdringend und totalitär wie die Nazi-Erziehung. Wir hörten nichts anderes, als daß Deutschland wirklich das einzige annehmbare Land sei, daß alle anderen degeneriert, dumm und kriminell seien und daß wir den Krieg zweifellos gewinnen würden; wir waren unbesiegbar und unser Kaiser ein gottähnlicher Übermensch. Als wir 1918 ziemlich plötzlich den Krieg verloren und uns gesagt wurde, daß der Kaiser nicht gottähnlich, sondern in Holland war, war das natürlich ein ziemlicher Schock. Ich war damals zwölf Jahre alt, und es schockierte auch mich, aber nach sehr kurzer Zeit freute ich mich, daß ein neues Leben begonnen hatte, daß die Dinge, die man uns gesagt hatte, offensichtlich falsch gewesen waren, und daß wir nicht länger an sie denken sollten. Wir waren offen und bereit für etwas Neues; wenn diese militärischen Lehrer nicht noch immer am Ruder gewesen wären, hätten wir uns trotz Karl dem Großen, Friedrich dem Großen, Bismarck und dem Kaiser noch gut entwickeln können.

Diesmal wird es unsere Aufgabe sein, nicht nur die große industrielle Produktion Deutschlands, die politische Maschinerie Deutschlands, sondern vor allem die Erziehung in Deutschland zu überwachen. Das Prinzip der Nichteinmischung, das sich als ein derartig entsetzlicher Mißerfolg in der Politik erwiesen hat, ist ebenso töricht und gefährlich auf kulturellem und erzieherischem Gebiet. Wir ·werden die Deutschen erziehen müssen – darüber kann es keinen Zweifel geben. Bücher müssen jetzt schon zum Gebrauch in allen europäischen Schulen vorbereitet werden; niemals wieder dürfen die Deutschen ihre Geschichte, Geographie, Rassenpsychologie lehren; wir müssen uns mit diesen neuen Büchern befassen, Pläne um die Verteilung von Millionen englischer Bücher an diese Institutionen müssen ausgearbeitet werden, wir müssen uns darauf vorbereiten, deutsche Erziehung aus dem Fenster zu werfen, die deutsche Erziehung völlig neu zu gestalten.

Die ältere Generation wird nicht allzuviel gegen solch eine Veränderung haben; ich kann mir vorstellen, daß viele ältere Deutsche dabei mithelfen. Die Jüngeren – diejenigen, die zwischen neun und vierzehn Jahre alt waren, als Hitler an die Macht kam – werden unser größtes Problem darstellen. Viele von ihnen sind schon gestorben, viele werden noch sterben müssen, bevor dieser Krieg gewonnen wird, aber mit den Überlebenden dieser Generation wird es Schwierigkeiten geben. Wir werden ihnen für einige Zeit nicht trauen können, wir werden sie überwachen müssen, während wir versuchen, sie umzuerziehen. Es wäre eine große Hilfe für sie, wenn man ordentliche Arbeit im Ausland für sie finden könnte, um ihnen so eine Chance zu geben, sich die Welt anzusehen.

Wie wird sie aussehen, unsere Welt? Das hängt weitgehend von uns ab. Wir werden sehr geduldig und sehr fleißig sein müssen. Einer Sache können wir wohl relativ sicher sein: das besiegte, das vollkommen besiegte Deutschland muß und wird leiden. Die Niederlage wird die Deutschen wie ein gewaltiger Schock treffen, und wenn wir sie so ansehen, wie wir es sollten, als ein Volk nämlich, das geisteskrank ist, wird uns die Erinnerung helfen, daß Schocks erfolgreich gegen alle möglichen Formen von Geisteskrankheit eingesetzt werden. Der Schock der Invasion hat schon manchen Patienten wieder zu Verstand gebraucht, und ich glaube, die Einschätzung ist nicht zu optimistisch, daß der Schock der Niederlage eine ähnliche Wirkung auf die Deutschen haben wird. Das Gift des Nazismus wird ihnen zumindest teilweise ausgetrieben werden. Es wird an uns sein, die Köpfe und Herzen der Deutschen mit neuen Ideen, neuen Hoffnungen und einem besseren Glauben zu füllen.


[1] Mann, Erika, Die Zukunft Deutschlands, in: dies., Blitze überm Ozean. Aufsätze, Reden, Reportagen. Herausgegeben von Irmela von der Lühe, Uwe Naumann, Reinbek 2000, S. 229–233. Transkription durch die Redaktion des Themenportals Europäische Geschichte.


Für das Themenportal verfasst von

Helmut Peitsch

( 2014 )
Zitation
Helmut Peitsch, Der Londoner Kongress des Internationalen Verbandes der Schriftsteller PEN (Poets, Essayists, Novelists) im September 1941, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2014, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1646>.
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