Der Kreislauf der Wirtschaft. Internationaler Handel und nationale Produktion im 17. Jahrhundert aus holländischer Perspektive[1]
Von Justus Nipperdey
Holland war im 17. Jahrhundert das Zentrum der (europäischen) Weltwirtschaft. Das kleine Land, das über keine nennenswerten Rohstoffe verfügte, dominierte die wichtigsten Handelsrouten und diente als zentraler Umschlagplatz von Waren aus der ganzen Welt. Die Niederländische Ostindien-Kompanie, die Vereenigde Oostindische Compagnie (VOC), beherrschte den europäischen Handel mit Asien und brachte zunächst Gewürze und zunehmend feine Stoffe nach Amsterdam, von wo sie häufig weiterverkauft wurden. Doch die Wirtschaft lebte keineswegs nur von diesem ‚Stapelmarkt’, bei dem Waren importiert werden, um dann später mit Gewinn re-exportiert zu werden. Ganz im Gegenteil, die Holländer konsumierten einen großen Teil ihrer Importe oder sie verarbeiteten sie weiter zu Fertigprodukten, die dann exportiert werden konnten. Aus der Ostseeregion kam Getreide zur Ernährung der wachsenden Bevölkerung und Holz für die bedeutende Schiffsbauindustrie; aus Spanien kam – in Friedenszeiten – Wolle als Rohstoff der Textilproduktion. Schließlich entwickelte sich Amsterdam zur Finanzmetropole des 17. Jahrhunderts, wo internationale Geldgeschäfte einfach und günstig abgewickelt werden konnten.[2]
All diese Elemente führten dazu, dass Holland und die Holländer reich wurden, allen voran die mächtigen Kaufleute. Doch das ‚Goldene Zeitalter’ wirkte sich auf die Prosperität der gesamten Gesellschaft aus. Die Bevölkerung der Niederlande wuchs zwischen 1600 und 1700 von über einer Million auf fast zwei Millionen an; mehr als die Hälfte davon lebte in der Provinz Holland. Zugleich stiegen die Reallöhne, zumindest in der ersten Hälfte des Jahrhunderts.[3] Dies war in vorindustriellen Gesellschaften außergewöhnlich, wo Bevölkerungswachstum gewöhnlich Druck auf die Löhne ausübte. Der Reichtum der Niederländer erzeugte bei den Nachbarn Aufsehen und Neid, sie wurden zum bewunderten und verhassten Maßstab ökonomischen Erfolgs. Im Laufe des 17. Jahrhunderts machten Engländer, Franzosen und Deutsche unzählige Vorschläge, wie man die Niederländer kopieren oder vom Thron stoßen könne. Der Erfolg der kleinen Republik befeuerte das Nachdenken über die Gründe wirtschaftlichen Erfolgs und damit auch über die Funktionsweise der sich herausbildenden globalen Wirtschaft.[4]
Aus diesem Grund gibt es mehr bekannte ausländische als heimische Beschreibungen der niederländischen Wirtschaft. Eine Ausnahme bildet Pieter de la Courts Interest van Holland, ofte gronden van Hollands-Welvaren, das 1662 halbanonym erschien (das Titelblatt weist den Autor als V. D. H. aus, ein leicht zu entzifferndes Kürzel für Van Den Hove, die niederländische Übersetzung von de la Court). Das Interesse von Holland ist ein vielschichtiges Werk.[5] Es geht weit über einen bloßen Wirtschaftstraktat hinaus, es behandelt grundlegende politische Fragen der niederländischen Staatsordnung. Seit ihrer Loslösung von Spanien und den südlichen Niederlanden Ende des 16. Jahrhunderts waren die vereinigten sieben nördlichen Provinzen eine Republik. Jede Provinz verfügte über ihre eigene Ständeversammlung, die ‚Staaten’; alle Provinzen sandten Vertreter in die ‚Generalstaaten’, das zentrale Gremium der Konföderation der autonomen Provinzen. Obwohl also an der Spitze des Gesamtstaates kein Monarch stand, existierte ein starkes monarchisches Element im Amt des Statthalters, den jede Provinz ernannte. Eine dominierende Position nahm der Statthalter von Holland, Seeland und Utrecht ein, der seit dem 16. Jahrhundert immer aus dem Haus Oranien-Nassau stammte. Die Ambivalenz zwischen der republikanischen Ordnung und der quasi-erblichen Statthalterschaft des wichtigsten Teils der Republik führte immer wieder zu heftigen Konflikten zwischen Republikanern und Orangisten, den Anhängern der Oranier.
Ein solcher Streit tobte auch zu der Zeit, als Pieter de la Court das Interesse von Holland verfasste. Nach dem Tod des jungen Statthalters Wilhelm II. (1626–1650) hatten Holland und Seeland keinen neuen Statthalter ernannt, sodass die Macht ungeteilt bei den Staaten lag. Daher bezeichnete Ratspensionär Johan de Witt (1625–1672), der eigentliche Machthaber, dieses Regime als ‚Wahre Freiheit’(ware vrijheid).[6] Das hybride Regierungssystem neigte sich in dieser statthalterlosen Zeit in Richtung einer Republik, was die Orangisten alarmierte. Als überzeugter Republikaner begrüßte und verteidigte de la Court diese Entwicklung. Doch die ‚wahre Freiheit’ ging ihm nicht weit genug. In der Realität bedeutete sie die Herrschaft einer kleinen Oligarchie reicher Kaufleute, deren Geschäfte häufig durch Monopole und Privilegien geschützt waren. De la Court war zwar selbst ein reicher Textilproduzent in Leiden, als Sohn eines Einwanderers aus den südlichen Niederlanden hatte er jedoch zunächst keinen Zugang zu dieser höchsten Herrschaftsschicht. Vehement wendete er sich gegen alle Handelsprivilegien und nahm sogar den Kampf gegen die allmächtige VOC auf. Das Interesse von Holland wäre noch radikaler ausgefallen, hätte de la Court das Manuskript nicht Johan de Witt überlassen, der allzu scharfe Angriffe auf die Kaufmannsoligarchie und damit letztlich auf sein eigenes Regime entfernte. Nach de Witts Geschmack sollte das Buch einerseits eine scharfe anti-monarchische Stoßrichtung besitzen und andererseits explizit das holländische Interesse gegenüber den anderen niederländischen Provinzen vertreten.[7]
In der politisch aufgeladenen Atmosphäre der statthalterlosen Zeit wurde das Buch unverzüglich ein Bestseller. Noch im Erscheinungsjahr erlebte es acht weitere Auflagen und löste heftige Reaktionen der politischen Gegner aus, die sich in Pamphleten und dem Verbot des Werkes in Leiden ausdrückten.[8] Sieben Jahre später brachte de la Court unter dem Titel Aanwysing der heilsame politieke gronden en maximen van de republike van Holland en West-Vriesland eine veränderte Version in einer Auflage von 2.500 Stück heraus. Beide Versionen wurden innerhalb kürzester Zeit ins Deutsche übersetzt, das Interesse erschien 1665 sogar in drei unterschiedlichen Ausgaben in Amsterdam, Frankfurt und Lübeck. Damit erfuhr de la Courts Werk seine stärkste zeitgenössische Rezeption in Deutschland. In England und Frankreich wurde es dagegen erst durch Übersetzungen zu Beginn des 18. Jahrhunderts bekannt, obwohl der französische Außenminister Hugues de Lionne schon 1663 für sich und Colbert um Übersendung von Exemplaren dieses Buches gebeten hatte, da es angeblich „tout le secret du commerce“ enthalte.[9] Die späte Wiederbelebung in England und Frankreich hatte zwei Gründe. Erstens hatte sich im Laufe der Zeit das Gerücht verfestigt, das ganze Buch sei von Johan de Witt selbst verfasst. Es schien also die geheimen Regierungsmaximen dieses großen Staatsmannes zu enthalten. Zweitens war das Interesse am holländischen Wirtschaftswunder immer noch groß, obwohl die Republik an politischer Macht eingebüßt hatte. Die französischen und englischen Leser im 18. Jahrhundert interessierten sich weniger für die republikanischen Ideen, die 1662 die Gemüter bewegt hatten, als für die ökonomischen Analysen und wirtschaftspolitischen Rezepte, die Holland groß und reich gemacht hatten. Noch in den Jahren nach 1750 wurden de la Courts ökonomische Beobachtungen im berühmten Kreis französischer ökonomischer Theoretiker um Jacques Vincent de Gournay immer wieder positiv genannt.[10]
Die folgende Analyse des Werkes und insbesondere des ausgewählten Auszugs konzentriert sich ebenfalls auf die inhaltliche Darstellung der ökonomischen Verflechtungen, die Art und Weise der Argumentation und die wirtschaftspolitischen Folgerungen, die sich daraus ableiten. Allerdings muss man stets im Hinterkopf behalten, dass de la Courts Beschreibung des Landes und seiner Wirtschaft ohne den geschilderten politisch-ideologischen Hintergrund nicht zu verstehen ist.
Pieter de la Court präsentiert zunächst das klassische Bild der dürftigen Existenzgrundlagen Hollands. Er verweist auf das mäßige Klima, die Überschwemmungen und die geringe Größe des Landes. All dies führe dazu, dass Holland seine Einwohner buchstäblich nicht ernähren könne. Bereits hier begegnen wir erstmals dem Versuch, seine Thesen durch exakte Zahlen und Berechnungen zu belegen. Er kalkuliert, dass der holländische Boden selbst bei vollständiger Bebauung mit Getreide nicht ausreiche, um jedem Einwohner täglich auch nur ein Pfund Brot garantieren zu können.[11]
Holland muss sich also anders ernähren und da trifft es sich gut, „[d]aß Holland sehr wohl liegt / seine Nahrung auß der See zu bekommen“.[12] Doch geht es de la Court hier nicht rein um die Nahrungsmittelversorgung. Vielmehr beschreibt er den Fischfang als einen Industriezweig, ja geradezu als Leitindustrie. Der Fischfang hat eine enorme Beschäftigungswirkung, die weit über die 12.000 Matrosen hinausgeht, die allein die nordatlantische Walfangflotte bemannen. Dazu kommen der Bau und die Ausrüstung der Schiffe, die Weiterverarbeitung der Fischprodukte wie Walfischöl und schließlich deren Weiterverkauf in alle Welt. Tatsächlich verkauften die Niederländer einen wichtigen Teil ihres Herings in die Ostseeregion und füllten damit ihre Schiffe, die ansonsten fast leer dorthin gesegelt wären, um Holz und Getreide aufzunehmen.[13] De la Court kommt auf Basis dieser Überlegungen zu dem Schluss, dass der Fischfang nicht nur für sich genommen wichtig ist, sondern zugleich die Voraussetzung für bestimmte Handelsgeschäfte ist.
Der Handel stellt dann die zweite Branche dar, die Holland ernährt und reich macht. Als „Kauffmanschafft“ oder „Negotie“ bezeichnet er dabei nur den Groß- und Außenhandel; er bezieht aber bewusst den Stapelmarkt ebenso ein wie den Export eigener Produkte und den dafür nötigen Import von Rohstoffen. Als Erklärungen für den Erfolg des holländischen Handels führt er die günstige geografische Lage an, die dominante Stellung der VOC im Asienhandel und das niedrige Zinsniveau in der Republik, das tatsächlich den Neid ganz Europas auslöste. Der Fischfang und der Handel sind schließlich die Voraussetzungen für eine Vielzahl weiterer florierender Gewerbe. Beide sorgen für die Zufuhr an Rohstoffen, sind selbst Abnehmer holländischer Produkte oder sorgen für den Vertrieb im Ausland.
Diese drei zentralen Branchen – Fischfang, Handel und gewerbliche Produktion – hängen alle voneinander ab, sie bilden einen Kreislauf der Wirtschaft. Der Fischfang könnte nicht florieren, wenn der Fang nicht weiterverarbeitet und ins Ausland verkauft würde; der Handel ginge um die Hälfte zurück, wenn er nicht die Fisch- und Gewerbeprodukte des Landes verkaufen könnte; und die Handwerker müssten zu Grunde gehen, wenn die Kaufleute und Fangflotten nicht für Absatz sorgen würden. Zum guten Schluss denkt der Textilfabrikant auch an die Bauern, die vom allgemeinen Wohlstand der Stadtbürger profitierten, indem ihre Produkte dauerhaft stark nachgefragt würden.
Die große Menge der Einwohner, die anfangs noch als Ernährungsproblem eingeführt wurde, stellt sich in dieser arbeitsteiligen und interdependenten Wirtschaft als Aktivposten des Landes heraus. In der späteren Auflage, den Anweisungen der heilsamen politischen Gründe und Maximen der Republik Holland und Westfriesland, fügte de la Court sogar hinzu, dass Holland auch weiterhin „ohne Unterlaß neue Inwohner auß frembden Landen an sich ziehen müsse.“[14] Die große Bevölkerung ist die Voraussetzung für Handel und Gewerbe. Gerade der Handel lebt davon, all die Waren, die von dieser Menschenmenge nachgefragt werden, ins Land zu bringen, damit sie dort konsumiert oder weiterverarbeitet werden. Es würde nicht ausreichen, die Waren „allein zu stabilieren [im Original besser verständlich: „verstapelen“, i.e. stapeln, J.N.], und darnach ausserhalb Lands“ zu verkaufen. De la Court bestreitet nicht, dass der Stapelmarkt dem Land Reichtum und Beschäftigung bringt. Aber er möchte zeigen, dass dieser Effekt überschätzt wird und den anderen Branchen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden müsse.
Um diesem Argument eine größere Überzeugungskraft zu verleihen, greift de la Court wieder auf das Mittel der Quantifizierung zurück. Er präsentiert eine Aufstellung der gesamten Bevölkerung nach Wirtschaftszweigen. Dies ist aus zwei Gründen bemerkenswert. Erstens wegen der rein ökonomischen Definition aller Mitglieder der Gesellschaft; hier gibt es keine Hierarchie und keine Stände, sondern stattdessen eine geradezu technokratische Einordnung der Menschen. Genauso bemerkenswert ist zweitens der Versuch, diese Ordnung in exakten Ziffern darzustellen. Damit reiht sich de la Court in einen größeren Trend der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ein, in der politischen Arena mithilfe von Zahlen zu argumentieren. Das bekannteste Beispiel bildet die sogenannte Political Arithmetic in England, doch gab es auch auf dem Kontinent ähnliche Versuche.[15]
De la Court errechnete zunächst aus älteren Quellen die Bevölkerung seiner Heimatprovinz. Dabei ist allerdings anzumerken, dass er seine zunächst sehr genauen Daten aus dem Jahr 1622 (602.417) unvermittelt pauschal um das Vierfache multiplizierte, um das Bevölkerungswachstum und die Fehlerhaftigkeit der ursprünglichen Daten mit einzukalkulieren. So kommt er auf eine Bevölkerung Hollands und Westfrieslands von 2,4 Millionen. Damit schoss er weit über sein Ziel hinaus, übertrifft diese Zahl doch sogar die Einwohnerzahl der gesamten niederländischen Republik seiner Zeit. Auch die Zeitgenossen gingen von einer kleineren Zahl aus; William Petty etwa (unter-)schätzte die holländische Bevölkerung zwei Jahrzehnte später auf maximal 800.000 Personen.[16]
Wichtiger als die dubiose Multiplikation und die insgesamt mangelhafte Genauigkeit der Zahl ist ihre Verwendung bei de la Court. Denn die Bevölkerungszahl macht nur die eine Seite seiner Gleichung aus. Sie ist ein notwendiger Basiswert, letztlich aber nur eine Recheneinheit. Die interessantere Seite der Gleichung setzt sich aus den verschiedenen Sektoren der Wirtschaft zusammen, die natürlich ebenfalls auf 2,4 Millionen addiert werden müssen. Schon beim ersten Blick auf die Aufstellung wird deutlich, dass de la Court ein ganz anderes Ordnungsschema anlegt, als wir es heute gewöhnt sind. Die Wirtschaft wird nicht in einen primären, sekundären und tertiären Sektor unterteilt – ja, die Gliederung orientiert sich nicht einmal strikt an Tätigkeiten. Sie folgt einem anderen Prinzip: de la Court addiert alle Menschen, die von einem Wirtschaftszweig leben, egal ob direkt oder indirekt. So kann ein Tuchmacher (und seine Frau und Kinder) in unterschiedlichen Spalten eingeordnet werden, je nachdem, ob er seine Produkte für den Export oder inländischen Konsum herstellt. Entscheidend ist nicht, was der Tuchmacher herstellt, sondern aus welcher Quelle er sein Einkommen bezieht.
Dabei spielt der Export, der die Reichtümer der Ausländer ins Land spült, die zentrale Rolle. 450.000 Menschen, also knapp 20 Prozent der Bevölkerung, leben demnach direkt vom Export von Gewerbeprodukten und Schiffen. Jeweils die gleiche Anzahl lebt vom Fernhandel und vom Fischfang, die ja gleichfalls den Aspekt beinhalten, auswärtige Reichtümer an Land zu holen. Dies sind die drei Wirtschaftszweige, die den Kreislauf der Wirtschaft antreiben. Dazu kommen dann drei rein interne Sektoren. Die Landwirtschaft ernährt mit 200.000 Menschen nach de la Court weniger als 10 Prozent der Einwohner. Der größte aller Sektoren ist dagegen der Bereich der inländischen Versorgung (Nahrungsmittel, Kleidung, Bauwirtschaft) mit 650.000 davon Abhängigen – die aber letztlich ebenfalls von den Exporteuren leben, die ihre Waren und Dienstleistungen bezahlen. Schließlich gibt es noch diejenigen, die gar nichts erwirtschaften: eine bunte Mischung von Regenten, Beamten und Bettlern, sowie die dem pazifistischen Republikaner besonders verhassten Adligen und Soldaten, die alles in allem ebenfalls 200.000 Personen ausmachen.
Pieter de la Court präsentiert mit seiner quantitativen Aufgliederung der holländischen Volkswirtschaft ein klassisch merkantilistisches Verständnis: Reichtum bzw. die Möglichkeit einer wachsenden Menge von Menschen und Gütern kann nur durch Außenhandel erreicht werden. Die Notwendigkeit einer positiven Handelsbilanz, eines Überschusses von Exporten gegenüber Importen, gehörte dabei zu den Gemeinplätzen des 17. und 18. Jahrhunderts. De la Court argumentiert jedoch nicht direkt mit dem fremden Gold und Silber, das ins Land fließt und dort das Kapital physisch vermehrt; sondern er stellt die Arbeitsplätze und die Menge der Menschen, deren Arbeit quasi von Ausländern bezahlt werden, in den Vordergrund. Diese Argumentationsweise ist für die englische Debatte als „foreign-paid-income“ Theorie bezeichnet worden.[17] Vom Ausland bezahlt werden natürlich die Kaufleute, die Waren nur importieren, um sie wieder zu exportieren sowie alle, die von diesem Geschäft abhängen, etwa Seeleute oder Hafenarbeiter; aber genauso die Tuchmacher und Schiffsbauer, deren Produkte exportiert werden und schließlich die Heringsfischer und Walfänger, deren Fang ebenfalls weiter exportiert wird.
De la Courts Beschreibung ist keine wertfreie Analyse, sondern eine (wirtschafts-)politische Aussage. Er wendet sich gegen ein einseitiges Verständnis des niederländischen Wirtschaftserfolgs, das sich allein auf den Handel und Hollands Funktion als Stapelmarkt konzentriert. Er bestreitet dessen Bedeutung keineswegs, schließlich stellt er einen seiner drei gewinnträchtigen Sektoren dar. Er betont jedoch die Existenz zweier weiterer solcher Sektoren, die zudem, wie er vorher gezeigt hat, dem Handel wiederum Impulse geben. Damit positioniert sich de la Court eindeutig gegen die Amsterdamer Fernhändler und deren wirtschaftspolitische Konzeption. Um ihren Stapelmarkt zu sichern, lehnte Holland unter deren Führung nämlich jene Schutzzollpolitik ab, die die Nachbarstaaten zunehmend praktizierten. Dagegen forderten Vertreter der produzierenden Gewerbe höhere Zölle auf die Einfuhr der Konkurrenzprodukte.[18] Diese Forderung sprach auch de la Court aus und unterfütterte sie mit seiner Analyse der holländischen Wirtschaft.[19] Allerdings richteten sich seine Hauptangriffe gegen die Monopole und Privilegien der Fernhändler.
Trotz der deutlichen Privilegierung des Außenhandels, der die eigentliche Quelle des Reichtums ist, thematisiert de la Court auch die Binnenwirtschaft. Der innere Kreislauf der Wirtschaft hat letztlich eine untergeordnete Funktion: er dient der Verteilung der im Außenhandel erworbenen Reichtümer. Folgt man den Zahlen des Leidener Fabrikanten, sind es dann aber doch fast 45 Prozent der Bevölkerung, die von der Versorgung, Einkleidung, Behausung, Verwaltung oder Verteidigung der exportierenden Bevölkerung leben; viel mehr als jenes Achtel der jetzigen Bevölkerung, das seiner Meinung nach ohne Exportgewinne im Land leben könnte. Sie generieren keinen Reichtum, sie haben aber ihren Anteil an einer integrierten Volkswirtschaft und einem zusammengehörigen Gemeinwesen. Ihre große Zahl ist letztlich ein Ausweis für den Gesamterfolg der holländischen Ökonomie und Republik.
Pieter de la Court überhöht die ökonomische Interdependenz schließlich zu einem politischen Argument zugunsten der republikanischen Regierung. Durch den Kreislauf der Wirtschaft sind alle Einwohner des Landes „von dem geringsten biß zu dem grösten“ „wunderlich aneinander geknüpfet“. Alle hängen voneinander ab, alle profitieren voneinander. In dieser Gesellschaft ist der Mensch nicht mehr dem Menschen ein Wolf, sondern ein Gott: „Homo hominis Deus in statu politico“.[20] Beide Wendungen wurden von Thomas Hobbes verwendet und berühmt gemacht.[21] Die Wolfsnatur des Menschen im Naturzustand verschwand hinter der Gottesnatur in der geordneten, von einem starken Monarchen kontrollierten Gesellschaft. Statt des Hobbes’schen Zwangs führt de la Court die pazifizierende Kraft des Wirtschaftskreislaufs ein. Die Menschen bereichern sich gegenseitig und nützen sich gegenseitig. Die funktionierende Gemeinschaft basiert nicht nur darauf, dass der Mensch ein soziales Wesen im aristotelischen Sinn (Zoon politikon) ist, sondern auch auf seinem Wesen als wirtschaftender Mensch. Sein wirtschaftliches Interesse zivilisiert ihn zu einem guten Bürger. Allerdings muss über all dem die aristokratische Regierung wachen.
Pieter de la Courts Beschreibung der holländischen Wirtschaft bietet einen tiefen Einblick in die Realitäten und Vorstellungen von Wirtschaft im 17. Jahrhundert. Einerseits entschlüsselt er für seine Zeitgenossen das holländische Wirtschaftswunder. Spannend ist, dass er keine monokausalen Erklärungen gibt. Stattdessen entwickelt er sein Modell der Gesamtwirtschaft, um die gegenseitigen Abhängigkeiten und die unterschiedlichen Beiträge zur Prosperität des Landes deutlich zu machen. Auch wenn die Zahlen nicht belastbar sind, liefert er eine schlüssige Aufgliederung der holländischen Wirtschaftsgesellschaft des 17. Jahrhunderts.
Andererseits lässt sich an de la Courts Text beobachten, wie stark die internationale Verflechtung, die Holland mit dem übrigen Europa und der ganzen Welt verband, das Denken der Zeit prägte. De la Court stellte das Ausmaß der Abhängigkeit Hollands vom Fernhandel sicherlich als Extremfall dar – und das war es auch. Doch die Verflechtungen innerhalb Europas und mit der übrigen Welt nahmen überall weiter zu und wurden von den Zeitgenossen genau registriert und analysiert. Der internationale Wirtschaftskreislauf stellte sich ihnen als ständiger Konkurrenzkampf um Ressourcen und Marktanteile dar. Wahren Reichtum konnte man in den Augen de la Courts nur erlangen, indem die Ausländer die Arbeit im Inland bezahlten; nicht nur durch Stapelmarkt und Zwischenhandel, sondern auch durch den Export eigener Produkte.
De la Courts Interesse von Holland erschien auf dem Höhepunkt der holländischen Prosperität und Macht, die aber bald ins Wanken geraten sollte. Sowohl politisch als auch ökonomisch geriet die kleine Republik langsam ins Hintertreffen. Das Zeitalter des Zwischenhandels neigte sich dem Ende zu; sowohl in der Ostsee als auch in Asien sahen sich die Niederländer verstärkter Konkurrenz gegenüber. Frankreich und England, die großen Kolonial- und Wirtschaftsmächte des 18. Jahrhunderts, privilegierten die heimische Produktion mit Rohstoffen aus aller Welt. De la Courts Versuch, die reale Lage der holländischen Wirtschaft offenzulegen, kann daher auch als Warnung gelesen werden. Nur wer auf das richtige Pferd setzte – und das war für ihn die exportorientierte Produktion – konnte auch auf langfristigen Erhalt des Reichtums hoffen.
[1] Essay zur Quelle: De la Court, Pieter: Das Interesse von Holland (1665).
[2] Als klassische Darstellung vgl. Israel, Jonathan, Dutch Primacy in World Trade, 1585–1740, Oxford 1989. Kritisch gegenüber dem Stapelmarkt-Modell Lesger, Clé ,De mythe van de Hollandse wereldstapelmarkt in de zeventiende eeuw, in: NEHA-Jaarboek 62 (1999), S. 6–25.
[3] Prak, Maarten, The Dutch Republic in the Seventeenth Century, Cambridge 2005, S. 103, S. 139.
[4] Appleby, Joyce, Economic Thought and Ideology in Seventeenth-Century England, Princeton 1978, S. 73.
[5] Ausführlich zu de la Court Weststeijn, Arthur, Commercial Republicanism in the Dutch Golden Age. The Political Thought of Johan & Pieter de la Court, Leiden u.a. 2012.
[6] Rowen, Herbert H., John de Witt – Statesman of the “True Freedom”, Cambridge 1986.
[7] Weststeijn, Republicanism, S. 56.
[8] Wildenberg, Ivo, Johan & Pieter de la Court (1622–1660 & 1618–1685). Bibliografie en Receptiegeschiedenis, Amsterdam 1986, S. 37.
[9] Zitiert nach ebd., S. 52.
[10] Ebd., S. 54f.
[11] De la Court, Pieter, Interesse Von Holland oder Fondamenten Von Hollands-Wohlfahrt, o.O. 1665, S. 10.
[12] Ebd. Im Folgenden stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders vermerkt, aus den hier mit veröffentlichten Quellenausschnitten.
[13] De Vries, Jan; van der Woude, Ad, The First Modern Economy. Success, Failure, and Preserverance of the Dutch Economy, 1500–1815, Cambridge 1997, S. 249.
[14] De la Court, Pieter, Anweisungen der heilsamen politischen Gründe und Maximen der Republik Holland und Westfriesland, Rotterdam 1671, S. 22.
[15] Zur Polititical Arithmetic vgl. Buck, Peter, Seventeenth-Century Political Arithmetic: Civil Strife and Vital Statistics, in: Isis 68 (1977), S. 67–84; McCormick, Ted, William Petty and the Ambitions of Political Arithmetic, Oxford 2009; in Frankreich sind vor allem die Versuche Marschall Vaubans bedeutsam, vgl. aus der Masse der Vauban-Literatur nur Virol, Michèle: Vauban. De la gloire du roi au service de l'état. Paris 2003. Für deutsche Beispiele vgl. Nipperdey, Justus, ‚Intelligenz’ und ‚Staatsbrille’: Das Ideal der vollkommenen Information in ökonomischen Traktaten des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, in: Brendecke, Arndt; Friedrich, Markus; Friedrich, Susanne (Hgg.), Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien, Münster 2008, S. 277–299.
[16] Petty, William, Five Essays in Political Arithmetick, London 1687, S. 42–44.
[17] Magnusson, Lars, Mercantilism. The making of an Economic Language, New York 1994, S. 99.
[18] Van Tijn, Theo, Dutch Economic Thought in the Seventeenth Century, in: van Daal, Johannes; Heertje, Arnold (Hgg.), Economic Thought in the Netherlands: 1650–1950, Aldershot 1992, S. 7–28, S. 9.
[19] Davids, Karel, Economic Discourse in Europe between Scholasticism and Mandeville: Convergence, Divergence and the Case of the Dutch Republic, in: Busche, Hubertus (Hg.), Departure for Modern Europe. A Handbook of Early Modern Philosophy (1400–1700), Hamburg 2011, S. 80–95, S. 85.
[20] De la Court verwendet die Formulierung in mehreren Publikationen. Vgl. Weststeijn, Republicanism, S. 158f.
[21] Tricaud, Franc¸ois, ‘Homo homini Deus’, ‘Homo homini Lupus’: Recherche des Sources des deux Formules de Hobbes, in: Koselleck, Reinhart; Schnur, Roman (Hgg.), Hobbes-Forschungen, Berlin 1969, S. 63–71.
Literaturhinweise
Davids, Karel, From De la Court to Vreede. Regulation and Self-Regulation in Dutch Economic Discourse between 1660 and the Napoleonic Era, in: The Journal of European Economic History 30 (2001), S. 245–289.
Israel, Jonathan, The Dutch Republic. Its Rise, Greatness, and Fall, 1477–1806, Oxford 1995.
Magnusson, Lars, Mercantilism. The Shaping of an Economic Language, London u.a. 1994.
Weststeijn, Arthur, Commercial Republicanism in the Dutch Golden Age. The Political Thought of Johan & Pieter de la Court, Leiden u.a. 2012.