Angleichung und Abgrenzung Perspektiven des Musiklebens in Europa im 19. Jahrhundert

Vergleicht man die Praktiken, die Geschmäcker und das Repertoire im Musikleben des 19. Jahrhunderts in Europa, fallen zunächst Parallelen auf. In den meisten europäischen Spielstätten waren der spontane Genuss musikalischer Darbietungen und der Konsum von Musik innerhalb eines sozialen Raumes ausschlaggebend. Das Diktum des berühmten Kritikers Eduard Hanslick, wonach sich eine Arie im Unterschied zu anderen Kunstformen, wie ein Glas Champagner genießerisch „schlürfen“ lasse, entspricht exakt dem Reisebericht Carl Maria von Webers, der über ein Privatkonzert im Hause Lord Hartfords im März 1826 aus London an seine Frau schrieb: „Herrlicher Saal, 500 bis 600 Personen da. Alles im höchsten Glanze. Fast die gesamte italienische Opern-Gesellschaft… . Da wurden Finales gesungen ec., aber kein Mensch hört zu. Das Gewirr und Geplauder der Menschenmenge war entsetzlich. [...]

Angleichung und Abgrenzung. Perspektiven des Musiklebens in Europa im 19. Jahrhundert[1]

Von Sven Oliver Müller

I. Kontexte und Kommunikation

Vergleicht man die Praktiken, die Geschmäcker und das Repertoire im Musikleben des 19. Jahrhunderts in Europa, fallen zunächst Parallelen auf. In den meisten europäischen Spielstätten waren der spontane Genuss musikalischer Darbietungen und der Konsum von Musik innerhalb eines sozialen Raumes ausschlaggebend. Das Diktum des berühmten Kritikers Eduard Hanslick, wonach sich eine Arie im Unterschied zu anderen Kunstformen, wie ein Glas Champagner genießerisch „schlürfen“ lasse[2], entspricht exakt dem Reisebericht Carl Maria von Webers, der über ein Privatkonzert im Hause Lord Hartfords im März 1826 aus London an seine Frau schrieb: „Herrlicher Saal, 500 bis 600 Personen da. Alles im höchsten Glanze. Fast die gesamte italienische Opern-Gesellschaft… . Da wurden Finales gesungen ec., aber kein Mensch hört zu. Das Gewirr und Geplauder der Menschenmenge war entsetzlich. Wie ich meine Polacca in Es spielte, suchte man einige Ruhe zu stiften, und ungefähr 100 Personen sammelten sich theilnehmendst um mich; was sie aber gehört haben, weiß Gott, denn ich hörte selbst nicht viel davon. Ich dachte dabei fleißig an meine 30 Guineen und war so ganz geduldig. Gegen 2 Uhr ging man endlich zum Souper, wo ich mich aber empfahl und in mein Bett eilte.“[3]

Im 19. Jahrhundert entwickelten sich viele musikalische Spielorte zu gesellschaftlichen Begegnungsräumen in Europa. Gerade in den europäischen Hauptstädten dienten Opernhäuser und Konzertsäle den adeligen und den großbürgerlichen Eliten zur Demonstration ihrer politischen, sozialen und ökonomischen Macht. Doch auch Kleinbürger oder Bedienstete konnten sich oft preiswertere Plätze leisten. Dieser Kulturtransfer erfasste auch die Städte jenseits der großen Musikzentren London, Paris, Wien, Berlin, Mailand oder St. Peterburg. Erklärungsbedürftig sind die zunehmende Ähnlichkeit des Repertoires, der ästhetischen Präferenzen und der Aufführungen selbst, aber auch der gesellschaftlichen Funktion und des Hörverhaltens. Dieser Befund erscheint umso erklärungsbedürftiger, wenn man die deutlichen Unterschiede in der Organisation und der sozialen Zusammensetzung des jeweiligen Konzert- und Opernpublikums in den europäischen Städten bedenkt. Denn es ist keineswegs selbstverständlich, dass sich ein preußischer Handwerker und ein englischer Aristokrat zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Oper ähnlich benahmen und überaus ähnlichen Aufführungen ein und derselben Werke lauschten.[4]

Wichtig ist es zu diskutieren, warum gerade die Kunstmusik in vielen europäischen Großstädten im 19. Jahrhundert von einer privaten zu einer öffentlichen und mithin eminent sozialen, ökonomischen und politischen Angelegenheit avancierte. Welche Folgen hatte diese neue Erwartungshaltung der Eliten in Europa für die musikalischen Aufführungen selbst und für die gesellschaftliche Funktion der Musik in den europäischen Metropolen? Besonders vielversprechend scheint hier die Frage nach Angleichungsprozessen und Abgrenzungsstrategien bestimmter Praktiken, Geschmäcker und Konsumgewohnheiten zwischen den Ländern und ihren Spielstätten zu sein. Denn Opern- und Konzertaufführungen als Teil einer europäischen Kultur zu beschreiben, beleuchtet gemeinsame und unterschiedliche Formen der Musikproduktion und Rezeption. Dabei geht es nicht nur um einen Vergleich des Spielbetriebs in den Hauptstädten, sondern in erster Linie um die Beschreibung parallel geführter Diskurse und gelebter Verhaltensmuster. Ein linearer in eine Richtung verlaufender Prozess wird dabei nicht zutage gefördert, sondern nur Interpretationen und Variationen sozialer Interessen, kultureller Werte und politischer Utopien an bestimmten Orten.[5]

Auch die historische Forschung beschäftigt sich intensiv mit der Frage nach der Rezeption von Musik im 19. Jahrhundert. Das belegen etwa die Studien von Celia Applegate, William Weber, Sven Oliver Müller oder Philip Ther.[6] Denn der Wert der Musik für die Menschen erschließt sich durch eine Analyse der Notenwerte allein nur unzureichend. Das Hören von Musik ist mindestens so sehr ein gesellschaftlicher wie ein rein musikalischer Prozess. Im Anschluss an die Konjunktur konstruktivistischer Ansätze in den Kulturwissenschaften scheint es unstrittig, dass auch die Bedeutung von Musik nicht unverrückbar besteht, sondern immer auch von den Hörern selbst erzeugt wird. Dabei ist sie von zentraler Bedeutung, da der gesellschaftliche Erfolg der Oper und des Konzerts als Kunstformen und als Institutionen im 19. Jahrhundert nicht zuletzt darauf beruhte, was in sie hineingedacht, was von ihr an gesellschaftlicher und sozialer Wirkung erwartet wurde. Ein wichtiger Anstoß für die Forschung ging 1995 von James Johnsons Studie Listening in Paris aus, welche die sich wandelnde Beziehung zwischen der in Opern- und Konzerthäusern aufgeführten Musik und den Publikumsreaktionen vom späten 18. ins frühe 19. Jahrhundert untersucht. Seine pointierte, doch einer international vergleichenden Überprüfung harrende These besagt, dass sich in Paris ein schweigendes Hörverhalten des Publikums in Folge neuer Kompositionen und neuer Aufführungspraktiken durchsetzte.[7]

Genau hier besteht weiterhin das Forschungspotential für eine interdisziplinär orientierte Geschichtswissenschaft. Musikalische Aufführungen bieten den analytischen Vorzug, verschiedene Segmente der Gesellschaft wie Bürgertum und Adel nicht als abstrakte Konstrukte, sondern als konkrete Handlungs- und Erfahrungsträger an bestimmten Orten in Aktion beobachten zu können. Mehr noch: Der Umgang der Produzenten und Konsumenten mit der Musik des 19. Jahrhunderts muss als soziales und politisches Handeln deutend verstanden und dadurch im Idealfall erklärt werden. Da das Erlebnis von Musik niemals allein von der Musik abhängt, sondern sozial vorgeprägt ist, kommt es darauf an, das Spannungsfeld zwischen der Aufführung, dem Erwartungshorizont des Publikums und seinen Reaktionen zu vermessen. Die Vielzahl der zu berücksichtigenden Gesichtspunkte umfasst die Musik selbst, deren Aufführungspraxis, die Rezeption durch das Publikum, sowie die sozialen Bedingungen und kulturellen Weltbilder in einer Gesellschaft, die diese Aneignung strukturieren.

II. Bedingungen der Professionalisierung des Musiklebens

Um 1800 hatte sich vor allem in West- und in Mitteleuropa eine neue Öffentlichkeit herausgebildet. Die Metropolen beförderten diesen Prozess, weil sie die Zugänglichkeit zu Informationen erhöhten. Die Großstädte bildeten Räume, die die Begegnung und den Austausch einander fremder Menschen wahrscheinlich machten. Während in der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts verschiedene sozial und regional abgegrenzte Öffentlichkeitsformen nebeneinander bestanden, bildete sich in den Großstädten nun ein überregionales Beziehungs- und Kommunikationsnetz heraus. Sicher, diese Verkehrskreise waren zahlenmäßig und sozial beschränkt: Doch in den Salons und Kaffeehäusern, in den frühen literarischen Zirkeln und in den sich seit der Wende zum 19. Jahrhundert rapide vermehrenden Zeitungen und schließlich durch die Erfindung der Eisenbahn formierten sich reale und mediale Begegnungsräume. Während die baulichen Veränderungen der Städte den Verkehr von Personen erleichterten, beschleunigten die gedruckten Medien den Transfer von Nachrichten und die intellektuelle Teilnahme von Tausenden persönlich nicht Anwesender. Der unvermittelte und der vermittelte Austausch der An- und Abwesenden erzeugte ein Gefühl der Zusammengehörigkeit bei denjenigen, die in der Lage waren, sich dieses Kommunikationsstils zu bedienen.[8]

Eine wichtige Quelle dieser wachsenden Kommunikation war der wirtschaftliche Erfolg, zumal des erstarkten Bürgertums. Erst der neue Wohlstand der gesellschaftlichen Eliten ermöglichte seit den 1820er-Jahren einen bis dahin ungekannten kulturellen Verbrauch – den Erhalt etablierter und die Entstehung neuer Spielstätten sowie die Verbreitung neuer Konzertserien. -etropolen wie Paris, London oder St. Petersburg boten den Eliten unübertreffliche Möglichkeiten – politisch als Hauptstädte, wirtschaftlich durch die Kapitalkonzentration und die Konsummöglichkeiten, sozial durch den Fortbestand der Aristokratie und die Ausdifferenzierung des wachsenden Bildungs-, Wirtschafts- und Kleinbürgertums.[9]

Kulturelles Wissen wurde für immer mehr Menschen zugänglich: visuell und akustisch, präsent und erfahrbar.Das Reden und Schreiben über Kunstwerke im Allgemeinen und über Musik im Besonderen bildete für städtische Eliten einen wesentlichen Bestandteil öffentlicher Kommunikation. Die Metropole beförderte die Kunstmusik durch das Zusammenspiel der im Stadtbild angelegten baulichen Ordnungen und künstlerischen Vorführungen. Da die Oper und das Konzert im Unterschied zu anderen Kunstformen der Aufführung eines Publikums bedürfen, stellen musikalische Darbietungen ohnehin öffentliche Ereignisse dar. Literatur und Werke bildender Kunst beispielsweise lassen sich auch im Privaten genießen, Opern und Sinfonien vor der Erfindung der Schallplatte nicht.

Eine wichtige Veränderung im Unterschied zum Musikleben des 17. und frühen 18. Jahrhunderts aber war nun, dass sich musikalische Aufführungen zunehmend von ihren höfischen oder religiösen Zusammenhängen lösten. Vor dem ausgehenden 18. Jahrhundert hatten nur Wenige die Gelegenheit, Kunstmusik außerhalb der Kirche oder in Gesellschaft von Adeligen zu hören. Die Möglichkeit, Musikdarbietungen gegen Eintritt zu besuchen, verwandelte Musik nicht nur in eine Ware, sondern in einen öffentlichen Gegenstand. Indem Konzert- und Opernaufführungen zugänglich wurden und sich im 19. Jahrhundert zu eigenen Institutionen entwickelten, übten sie die Funktion kommunikativer Räume aus. Durch die medialen Vermittlungs- und ökonomischen Marktmechanismen erlangten musikalische Aufführungen den Wert von Informationen. Musikalische Aufführungen stimulierten Debatten über ästhetische Präferenzen und kulturelle Normen. Im Auditorium kommunizierte die Gesellschaft mit sich selbst.[10]

Stefan Zweig beschrieb in seiner literarischen Rückschau auf das Kulturleben im Wien des späten 19. Jahrhunderts eine Gesellschaft, die ihre Freude und ihr Prestige auch dadurch bezog, dass jedermann auf Musiker und Schauspieler, auf ihre Verdienste und Meriten achtete. Oft stiftete ein gemeinsamer kultureller Geschmack unter fremden Menschen kulturelle Beziehungen. „Das kaiserliche Theater […] war der Mikrokosmos, der den Makrokosmos spiegelte, der bunte Widerschein, in dem sich die Gesellschaft selbst betrachtete, der einzige richtige ‚cortigiano‘ des guten Geschmacks. […] Die Bühne war statt einer bloßen Stätte der Unterhaltung ein gesprochener und plastischer Leitfaden des guten Benehmens, der richtigen Aussprache, und ein Nimbus des Respekts umwölkte wie ein Heiligenschein alles, was mit dem Hoftheater auch nur in entferntester Beziehung stand. Der Ministerpräsident, der reichste Magnat […] konnte in Wien durch die Straßen gehen, ohne daß jemand sich umwandte; aber […] eine Opernsängerin erkannte jede Verkäuferin und jeder Fiaker.“[11]

Kaum eine Stadt, die in Europa etwas auf sich hielt, wollte auf Räume musikalischer Vergnügungen und gesellschaftlicher Repräsentation verzichten. Während zu Beginn des 19. Jahrhunderts nur eine relativ überschaubare Anzahl von Hoftheatern oder Konzertsälen existierte, hatten diese Spielstätten an der Wende zum 20. Jahrhundert gleichsam flächendeckend ein kulturelles Netz über Europa gelegt. Ob Zentrum oder Peripherie, ob industrialisiert oder agrarisch, im Deutschen Reich und im Habsburgerreich leistete sich fast jede größere Stadt prachtvolle Opern- und Konzerthäuser. Die Anzahl der Theaterbauten nahm zwischen 1840 und 1900 schnell zu. Im Jahr 1900 gab es in Wien 10, in Berlin 22, in Paris 36 und in London sage und schreibe 61 Musik- und Sprechtheater. Während in Großbritannien und in Frankreich aufgrund der Zentralisierung auch das Musiktheater auf relativ wenige Standorte beschränkt blieb, ist allein für Italien die Anzahl der Opern- und Theaterhäuser für die späten 1860er-Jahre auf unerhörte 942 Gebäude geschätzt worden, von denen allein zwischen 1861 und 1868 nicht weniger als 198 errichtet wurden. Wenn viele dieser Einrichtungen in Ermangelung finanzieller Ressourcen auch nur saisonal bespielt wurden und lange eher bespielbaren Lagerhäusern ähnelten, verwandelte sich im Laufe des Jahrhunderts insgesamt die Mehrzahl der Spielstätten in zentrale urbane Repräsentationsbauten. In der Architektur ähnelten sich diese Häuser sehr stark, beim Wiener Architektenbüro Helmer und Fellner konnte man sie zu relativ geringen Kosten quasi von der Stange bestellen. Allein dieses Büro errichtete bis zur Jahrhundertwende von Aachen und Zürich im Westen, bis Odessa im Osten 48 repräsentative Theaterbauten.[12]

Als Louis Spohr 1812 Kapellmeister im Theater an der Wien wurde, war für ihn diese Metropole „unbestritten Hauptstadt der musikalischen Welt“.[13] Viele große Musiker des 19. Jahrhunderts unternahmen Pilgerfahrten zu Haydns, Mozarts und Beethovens Wirkungsstätten. Von der Jahrhundertmitte vielleicht abgesehen, riss in Wien das kulturelle Erbe nicht ab. Für viele junge Komponisten blieb Wien die Wahlheimat (Brahms, Bruckner, Mahler, Wolf). Nicht zuletzt machten die vielfältigen Institutionen der Kaiserstadt und besonders die Kultur der Adelshäuser Wien zu einem musikalisch bedeutsamen Ort. Adelige Familien engagierten sich als Veranstalter zunächst halböffentlicher Konzerte und finanzierten ohne Bedenken selbst Beethovens Karriere.[14]

Wenn Wien als führende Metropole der Komponisten bezeichnet werden konnte, dann war London die führende Metropole des musikalischen Konsums. Die erfolgreich befriedigte Nachfrage nach den besten Künstlern und den wichtigsten Werken spiegelte die ökonomische Macht Londons wider und stellte die musikalischen Konsummöglichkeiten in Wien und in Berlin deutlich in den Schatten. Die Royal Philharmonic Society vergab großzügig dotierte Auftragswerke – beispielhaft ist Beethovens IX. Sinfonie 1815. Den Londoner Spielplan beherrschten das italienische und das deutsche Repertoire. Nicht nur das: Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts und dem Aufstieg „britischer“ Komponisten wie Arthur Sullivan und Edward Elgar spotteten viele innerhalb und außerhalb Großbritanniens über „das Land ohne Musik“.

Die einzigartige Vielfalt des Londoner Konzertlebens reflektierte den wachsenden Unterhaltungsbedarf einer zu ungekanntem Reichtum gekommenen städtischen Elite. Wie in Wien formierten sich auch in London zunächst private Vereine, deren Orchester aus adeligen bzw. bürgerlichen Amateuren bestanden und für öffentliche Aufführungen um wenige Berufsmusiker ergänzt wurden. Vor der Gründung der Royal Philharmonic Society im Jahre 1813 existierte hier kein permanent etabliertes Sinfonieorchester. Nach heutigen Maßstäben waren im frühen 19. Jahrhundert alle diese Orte Kammermusiksäle, die lediglich 300 (Argyll Rooms), 500 (Hanover Square Rooms) bzw. 800 (Konzertsaal im Her Majesty’s Theatre) Personen fassten. In London – und auch in Paris – waren Konzertsäle zunächst viel kleiner als die bis zu 2.000 Zuschauer fassenden Opernhäuser. Bereits die Abmessungen der Bauwerke für Musik zeigten ihren sozialen Stellenwert. [15]

Am Ende des Jahrhunderts aber besuchten über 10.000 Besucher wöchentlich die nun viel größer gewordenen Konzertsäle in London, und selbst in Städten mittlerer musikalischer Bedeutung wie Manchester etablierten sich neue Konzertserien. Keine andere Stadt in Europa konnte darin mit London konkurrieren. Entsprechend fiel die staunende Bewunderung reisender Deutscher aus. Exemplarisch für die London-Begeisterung deutscher Musiker und Journalisten war die Freude Eduard Hanslicks. Nur noch in Superlativen schwärmte er vom größten Konzertsaal der Welt. „Die grandiose Albert Hall steht auf der Stelle des Weltausstellungsgebäudes von 1862 und wurde im März 1871 von der Königin persönlich eröffnet. [...] Zwölftausend Personen haben darin Platz, nicht etwa gedrängt, sondern auf bequemen, von allen Seiten amphitheatralisch aufsteigenden Sitzen, zu welchen 26 verschiedene Eingänge führen, nebst einem zu den obersten Plätzen emporragenden Ascenseur, der fortwährend funktionirt. Und dieser unabsehbare Raum soll hinreichend gefüllt, ja ausverkauft sein in einem Concert? Ich habe das Unglaubliche selbst gesehen und kann mir nichts Imposanteres [...] denken.“ [16]

Berlin hatte der musikalischen Reputation Wiens und dem kommerziellen Potential Londons lange nichts Vergleichbares entgegenzusetzen. Die Residenz der preußischen Könige hatte trotz ihrer großzügigen Anlage bis zum zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts noch eher das Erscheinungsbild einer mittleren Garnisonsstadt. Die kulturelle Freiheit beschränkten preußische Vorschriften (das Religions- und Zensuredikt 1788) und das politische Klima der Restauration. In Berlin wirkten zunächst keine deutschen Komponisten von Rang. Musikalische Innovationen erhielt die Stadt bis 1850 vor allem durch die Leistungen von Komponisten, die im Ausland Karriere gemacht hatten und dann in Berlin als Generalmusikdirektoren wirkten (Spontini, 1820–1841, Meyerbeer, 1842–1846). Die Berliner Hofoper war das erste bedeutende Opernhaus überhaupt, das als frei stehendes Gebäude errichtet wurde. Damit wirkte es als ein frühes Element der Urbanität und verlieh dem anderweitig noch wenig konturierten Zentrum der Stadt fortan sein Gesicht. Auch in Berlin war die Oper Staatsoper, die regierenden Monarchen von Friedrich II. bis Wilhelm II. finanzierten die Vorstellungen nicht nur aus dem laufenden Etat, sondern mischten sich oft direkt in die Gestaltung des Spielbetriebes ein.[17]

III. Themenfelder

Um die Erscheinungsformen des Musiklebens in Europa vergleichen zu können, mithin die künstlerische Produktion und die gesellschaftliche Rezeption an den verschiedenen Orten, ist der Blick auf vier Themenfelder hilfreich, deren Bedeutung auf dem ganzen Kontinent nicht zu unterschätzen ist: Erstens die Untersuchung der jeweiligen Aufführungsorte als zentrale Institution der jeweiligen Stadtgesellschaften und als Plätze sozialer Distinktionsmechanismen; zweitens die Rolle der Oper und des Konzerts als Schauplatz politischer Deutungskämpfe; drittens die Rekonstruktion des Hörverhaltens des Publikums und viertens die Konvergenz des Repertoires.

III.1 Spielstätten der Elitenkultur

Im Zugang zum Opernhaus und Konzertsaal manifestierte sich die Zugehörigkeit zur Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Die Funktion des Opernbesuches erschöpfte sich nicht im musikalischen Genuss. Vielmehr kam es darauf an, den eigenen Status sichtbar zu machen. Nicht dass die Musik unwichtig war – aber sie bildete eben nur ein Element eines gesellschaftlichen Ereignisses, zu dem das „sehen und gesehen werden“, der soziale Kontakt, das geistreiche Gespräch, das gute Essen und nicht zuletzt der Kontakt mit dem anderen Geschlecht ebenso selbstverständlich zählten. Die Besucher repräsentierten sich nach außen, indem sie sich abgrenzten und demonstrierten gleichzeitig nach innen ihren eigenen Status durch den Aufwand an Garderobe, durch die Ordnung und Preisklasse der Sitze oder das kompetente ästhetische Urteil. Bereits die repräsentative Architektur der vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in beinahe allen europäischen Metropolen erbauten neuen Opernhäuser reflektierte die sozialen und politischen Strukturen. Man betrat etwa in London und Berlin das Gebäude streng hierarchisch durch verschiedene Eingänge und wohnte der Aufführung auf unterschiedlich teuren und daher unterschiedlich prestigeträchtigen Plätzen im Parkett, in der Loge oder auf dem Balkon bei. Selbst in der Pause setzte sich die soziale Separierung in unterschiedlichen Foyers fort.[18] Der Gang in die Spielstätten dieser Metropolen lässt sich damit als öffentlicher Akt eines demonstrativen Konsums im Sinne von Thorstein Veblen begreifen.[19] Die ungeschriebenen Verhaltens- und Repräsentationsregeln wirkten für Bürger und Adelige, Städter und Landbewohner, Männer und Frauen gleichermaßen als Distinktionsbarrieren. Die Fähigkeit, Konventionen und Verhaltensmuster durch Beobachtung imitieren und adaptieren zu können, zu wissen, welche Kommunikations- und Verkehrsformen Geltung beanspruchen konnten, war für den Erwerb und die Behauptung gesellschaftlicher Positionen und für die Errichtung und die Überwindung sozialer Schranken entscheidend.[20]

Folgt man Pierre Bourdieus Habituskonzept, wirkt keine Praxis stärker klassifizierend, das heißt die Verhaltensmuster einer sozialen Gruppe ausdrückend und prägend, als der öffentliche Musikkonsum. Bereits der Übertritt aus der Welt des alltäglichen Lebens in die grandiose Feierlichkeit der pompösen Säle, vor allem aber das Wissen über die Musik, über Komponisten, Stile, Sänger und Dirigenten ist demnach Herrschaftswissen, an welchem die Eingeweihten erkennen, wer zu den „happy fews“ gehört und wer nicht. Denn wer die kulturellen Regeln nicht hinreichend beherrscht, wird durch sie ausgeschlossen.[21] Der öffentlichen Aneignung und Bewertung von Musik im Kontext eines gesellschaftlichen Regelsystems fiel damit eine doppelte Funktion in den europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts zu: Zum einen befestigte sie durch eine habitualisierte Praxis und den Bezug auf ideelle Werte soziale Identität. Zum anderen wirkte der praktizierte Kunstgeschmack als Distinktionsmittel, um Grenzen und Distanzen innerhalb der Gesellschaft zu wahren, um sich als Individuum wie als soziale Gruppe kenntlich zu machen. Das öffentliche Hören von Musik kreierte und legitimierte soziale und politische Ungleichheit.

Dass die Oper und das Konzert als ein Mittel der gesellschaftlichen Distinktion gleichzeitig aber auch allgemein zugängliche öffentliche Orte waren, ist nur ein scheinbarer Widerspruch. Zum einen waren die Häuser in den europäischen Metropolen abgesehen von sakralen Räumen die wichtigsten Treffpunkte der Gesellschaft und demzufolge auch Foren, die zumindest dem Anspruch nach sozial inklusiv waren. Zum anderen begriffen Abseits der imperialen Zentren die jeweiligen regionalen Eliten die Spielstätten auch als ein Instrument der politischen und sozialen Emanzipation. In vielen deutschen Städten und ebenso in Oberitalien, in Böhmen, Polen, Ungarn sowie der Ukraine engagierten sich gerade im Vormärz breite Segmente der Gesellschaft für die Oper. Insbesondere dann, wenn die Oper zum Repräsentationsobjekt der Nation und zum Movens der Nationalbewegung wurde, wie zum Beispiel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei den Tschechen, avancierte das Musiktheater zum Kristallisationspunkt von Massenbewegungen. Wie Dieter Langewiesche in seinen Studien zur Sängerbewegung gezeigt hat,[22] war dies bis zur Reichsgründung auch im deutschsprachigen Raum der Fall.

III.2 Politische Herausforderungen

Opernaufführungen und Konzertabende boten ein Forum für die Politisierung der europäischen Gesellschaften. Auf den ersten Blick dominiert die gesellschaftlich systemstabilisierende Funktion. Die Aufführung muss in direktem Zusammenhang mit dem soziokulturellen Habitus des Hof- und Herrschaftsstils aristokratischer und bürgerlicher Eliten gesehen werden. Die prachtvoll ausgestatteten Säle, die komplexen zeremoniellen Traditionen und die aufwendig dargebotene Musik nahmen (und nehmen) die unterschiedlichsten politischen Akteure für ihre öffentliche Repräsentation in Anspruch. Durch ihre choreografische Zelebrierung wurde die Gesellschaftsordnung visuell und akustisch in ihrer Rechtmäßigkeit bestätigt. Eine musikalische Galaaufführung für ein Staatsoberhaupt etwa versprach Legitimation durch öffentliche Kommunikation. Die Zeremonie folgte strengen Regeln, die auf die Beobachtung durch eine Öffentlichkeit abzielten. Durch das sinnliche Erleben wurde Herrschaft sichtbar erfahrbar gemacht und versprach gleichzeitig, das Bedürfnis der Beherrschten nach Selbstdarstellung zu erfüllen. So besuchten etwa der preußische König Friedrich Wilhelm III. und die englische Queen Victoria die Oper zuweilen wöchentlich und empfingen dabei die Huldigungen ihrer Untertanen.[23]

Doch in dieser politisch affirmativen Funktion ging der elitäre Musikbetrieb nicht auf. Gerade in Zeiten politischer Unterdrückung, wie etwa unter Metternich, waren die großen Operntheater nicht nur Keimzellen einer kritischen Öffentlichkeit, sondern häufig auch selbst ein Medium der Emanzipation. Die Gründung des Ständetheaters Ende des 18. Jahrhunderts, des Ungarischen Nationaltheaters und des Tschechischen Nationaltheaters war auch gegen Wien gerichtet. Die Mailänder Scala war trotz scharfer Zensurmaßnahmen als ein Ort der Kritik am österreichischen Regime bekannt, und nach der Gründung Italiens avancierte sie zum Symbol der Selbstbehauptung. Ähnliches lässt sich vom polnischen und vom ukrainischen Theater in Lemberg und Kiew sagen, die sich auch deshalb gut als Vergleichsobjekte eignen. Dies korrespondiert mit jüngeren Studien von Musik- und vor allem Politikwissenschaftlern, die den politischen Charakter der Oper im 19. Jahrhundert als Institution und als Genre hervorheben.[24]

Auch wenn die musikalischen Spielstätten traditionell als Kunstgenre und nicht als Politikum analysiert wurden, so ist seit der Romantik eine verstärkte Durchdringung von Musik und Politik zu beobachten. Die Ästhetisierung des Politischen mit Hilfe der Musik korrespondierte mit einer konfliktreichen Politisierung der Musik. Die Rebellion des Bürgertums gegen fürstliche Willkür und aristokratische Exklusivität vollzog sich nicht nur im sozialen und politischen Raum oder im Kampf um die Oper als Institution, sondern auch in den Theatern selbst. Der Musikgeschmack bildete eine wichtige Waffe im Arsenal des Bürgertums, in dessen Kampf zunächst gegen die etablierten aristokratischen Eliten in den 1830er- und 1840er-Jahren und später zur Verteidigung seiner politischen und sozialen Vorrangstellung gegen die Arbeiterschaft. Gezielt strebten Teile des Bildungsbürgertums danach, öffentliche Bereiche für sich zu besetzten, die vordem ein Privileg des Adels waren. Das hartnäckige Distinktionsbedürfnis der Bürger zielte nicht nur darauf, adelige Wertvorstellungen zu kopieren, sondern eigene bürgerliche Symbole und Kategorien an deren Stelle zu setzen. Umgekehrt kämpfte der europäische Adel nach 1815 um den Erhalt oder die Rückgewinnung kleinster Distinktionsprivilegien. Die bürgerlichen Eliten suchten durch eine Neubewertung des musikalischen Geschmacks im Sinne ihres eigenen Wertekanons, die Herrschaftsansprüche der Aristokratie gezielt in Frage stellten. Die quasi religiöse Umwertung der Musik und das andächtige Hörverhalten weiter Teile des Bildungsbürgertums enthielten eine antiaristokratische Spitze. Für das aufstrebende Bürgertum waren gemeinsame Werte und soziale Praktiken ebenso konstituierend wie gemeinsame soziale Gegner.[25]

Vermeintlich harmlose und unpolitische Musikkritiken in musikalischen Fachzeitschriften und in der liberalen Presse nutzten Bürger etwa in London, Berlin und Budapest zum Angriff auf das Hörverhalten und den Musikgeschmack der Aristokratie. Gerade unter den Bedingungen der Zensur ließen sich auf dem Umweg ästhetischer Stellvertreterkriege gesellschaftliche Ansprüche viel ungehinderter formulieren. Dabei gaben die Kritiker ihre musikalischen Eindrücke nicht ungefiltert wieder, sondern formulierten sie aus ihrer jeweiligen weltanschaulichen und schichtspezifischen Perspektive heraus. Die bürgerlichen Rezensenten beschrieben das Hörverhalten in den Opern in einer dichotomen Sprache und verknüpften damit implizit Herrschaftsansprüche.[26] Immer wieder kontrastierte man seit den 1830er-Jahren adäquates Hörverhalten (also das eigene konzentrierte und schweigende) mit dem geschwätzigen und genusssüchtigen Benehmen der Adeligen im Konzert. Das aufstrebende Bürgertum setzte seine vermeintlich überlegene Ästhetik als politische Waffe ein. Dabei relativierte sich die Grenze zwischen Kunst und Politik, indem die „richtig“ genossene Musik zum Ausdruck bürgerlichen Selbstverständnisses avancierte. Phasenweise wurde der Musikkonsum damit zum Objekt politischer und parteipolitischer Auseinandersetzungen. Es ist daher kein Zufall, dass mehrere Revolutionen (Brüssel 1830 oder noch in Prag 1989) ihren Ausgangspunkt im Theater hatten und die Attentäter des reformistischen russischen Ministerpräsidenten Stolypin 1909 die Oper in Kiew als symbolischen Ort ihres Anschlags wählten.

III.3 Die Disziplinierung des Publikums

Die Veränderungen des Hörverhaltens spiegeln den Wandel der kulturellen Wertesysteme der Elite des 19. Jahrhunderts wider. In der Untersuchung der sich verändernden musikalischen Praxis und des neuen Musikgeschmacks besteht die Chance, die kulturellen Normen und die davon beeinflussten Ein- und Ausgrenzungsmechanismen sozialer Gruppen zu veranschaulichen. Mehr noch: Die Bewertung der Musik bezeichnete für das Publikum einen Weg der Deutung, Aneignung und Reproduktion seiner Umwelt.

Bis in die 1850er-Jahre erinnerte das Hörverhalten oft nicht an den distanzierten Konsum von Bildung, sondern an die Anteilnahme und die Begeisterung auf einem Fußballplatz. Während die Musik lief, plauderte man mal leiser mal lauter; man aß und trank, besuchte sich gegenseitig in den Logen und promenierte durch den Saal. Geschäftsleute besprachen ihre kommerziellen Angelegenheiten, Frauen führten ihre neueste Kleidung vor, Kurtisanen machten potentielle Liebhaber auf sich aufmerksam. Die Konzert- und Opernbesucher waren nicht eigentlich unaufmerksam; sie konzentrierten sich nur höchst selektiv auf bestimmte circensische Glanzleistungen der Künstler und die „schönen“ Stellen einer Partitur. Dann aber nahm das Publikum in der Regel überaus aktiv am Geschehen teil, wobei es potentiell jedes Musikstück und jede Bravourarie bejubeln oder ausbuhen konnte. Oft zog sich die Aufführung erheblich in die Länge, weil einzelne Arien oder Szenen nach Aufforderung der Zuhörer zum Teil mehrfach wiederholt werden mussten. Der Unterschied zwischen Künstlern und Betrachtern bei der Gestaltung einer Aufführung war daher in gewisser Hinsicht marginal. Beide prägten den Charakter eines Abends derart, dass oft unklar schien, ob sich das interessantere Spektakel auf dem Podium oder im Zuschauerraum vollzog.[27] Das Publikum besuchte Konzerte mithin nicht allein, um öffentlich gesehen zu werden, sondern weil die Darbietungen offenbar gefielen und direkte Anteilnahme erlaubten.

Doch allmählich änderten sich Anspruch an und Aneignung der Musik. Vieles spricht für eine grundsätzlich neue Bewertung und Aufwertung der Musik nach 1820. Vor dem Hintergrund massiver ökonomischer, sozialer und kultureller Verwerfungen, sich relativierender Bindungen an Kirche und Tradition, Gemeinde und Zunft, erreichte die Kunst einen nie gekannten Stellenwert für die Bildungsbürger. Vor allem der Musik maßen die bürgerlichen Eliten eine transzendentale Qualität bei, die eine neue Orientierung des Lebenshorizontes und individuelle Sinnstiftung angesichts in Bewegung geratener Wertesysteme versprach.[28] Insbesondere in Deutschland und in Ostmitteleuropa wurde die Musik als eine „Gegenwelt“ begriffen, mit Schopenhauer als eine Matrix der realen Welt, als Schlüssel zur Seele und zum Glück, und mit Hegel und später Wagner als Medium der Aufklärung. Unter dem Einfluss einer neuen bildungsbürgerlichen „Kunstreligion“ (Thomas Nipperdey), die ein Musikstück zunehmend als wertvolles „Werk“ und weniger als unterhaltendes Beiwerk begriff, scheint sich ein partiell aufmerksames Publikum allmählich zu Zuhörern im eigentlichen Sinne des Wortes gewandelt zu haben. Musik sollte nicht einfach mehr „genossen“, sondern „verstanden“ werden und zur „Erbauung“ nachwirken. Und die Verhaltensweise, zu der die Musik zwang, wenn sie eine Bildungs- und Sinnstiftungsfunktion erfüllen sollte, war das schweigende Zuhören.

Damit wurde das stumme Hören Element einer bürgerlichen Selbstkontrolle. Durch eine distinktive Verhaltensform machte der eigene Geschmack das Bürgertum und analog dazu in Osteuropa die Intelligenz als Wertegemeinschaft sichtbar. Mit nichts konnte man seine „Klasse“ so gut hervorheben wie mit dem Musikgeschmack. Musikalische Ästhetik und soziale Dynamik verwiesen aufeinander. Das Medium der Musik entsprach geradezu idealtypisch dem Wertehimmel des aufstrebenden Bürgertums: Die musikalische Harmonie korrespondierte mit der Utopie gesellschaftlicher Eintracht. In der Struktur der auf gesetzmäßige Wiederholung angelegten Musik erkannte das Bürgertum seine Ordnungsprinzipien.[29]

III.4 Angleichung der Praktiken und der Repertoires

Während sich die Repertoires in West-, Mittel-, und Osteuropa bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts teilweise noch deutlich voneinander unterschieden, glichen sie sich danach immer mehr an. Einen ganz wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung hatte der internationale Erfolg ursprünglich nationaler Opernschulen. Richard Wagner wurde, auch wenn es ursprünglich starke Widerstände gab, um die Jahrhundertwende überall in Europa aufgeführt.[30] Seine Werke wurden paradoxerweise gerade deshalb so populär, weil deutsch keine gängige Opernsprache war, und sie daher von vornherein übersetzt werden mussten. Wagner wurde auf diese Weise „nostrifiziert“ und insbesondere bei den osteuropäischen Nationen und in England als Vorbild für ein erfolgreiches musikalisches Nationbuilding empfunden. Ohne den vorherigen Aufbau nationalsprachlicher Opernensembles, im Kontext einer noch italienisch geprägten Opernlandschaft wie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wäre ein solcher „Export“ kaum möglich gewesen.

Bereits um 1850 stellte die Blüte der Grand Opéra und etwas später die Rezeption der Opern Verdis ein gesamteuropäisches Phänomen dar.[31] Dabei spielte neben der Musik vor allem die Bildsprache der Oper eine wesentliche Rolle. Die Grand Opéra revolutionierte mit ihren Massenszenen und historischen Tableaus die Bühnenpraxis. Die Oper lockte durch ihre Pracht und ihre Effekte, war auf heutige Zeiten übertragen zugleich Hochkultur und Hollywood. Auch dies begünstigte den internationalen Austausch und insbesondere den europaweiten Erfolg der Grand Opéra, später auch einiger Opern Verdis und Wagners. Solcherlei Austauschprozesse gab es auch schon im 18. Jahrhundert, doch waren diese ganz von italienischen und später auch von französischen Komponisten geprägt.

Diese Europäisierung der musikalischen Praxis im späten 19. Jahrhundert lässt sich mit der Intensivierung der Kommunikation, regelmäßigen Kontakten und neuen Netzwerken erklären. Beispielsweise waren Berlin, Dresden, Prag, Wien und Budapest, was den Transfer von Sängern und Stücken betrifft, eng miteinander verbunden. Nicht zu vergessen ist die Wirkung reisender Musikveranstalter auf dem ganzen Kontinent. Ein dichtmaschiges Netz an Zugverbindungen erleichterte das Reisen erheblich. Dadurch wurde auch ehemaligen peripheren Regionen in Europa das Erlebnis hochkarätiger musikalischer Aufführungen zu Teil. Nicht nur bestimmte Werke, sondern auch deren Ausstattung und Interpretation waren in ganz Europa zu bestaunen. Kommerziell und kulturell erfolgreich waren beispielweise: Die Richard D’Oyle Carte Company (London) und ihre Europatournee mit den Operetten von Gilbert & Sullivan 1886–1887; das Richard-Wagner-Theater Angelo Neumanns (Leipzig), der zwischen 1882 und 1889 den Ring des Nibelungen von Amsterdam bis Breslau und von Rom bis Moskau aufführte; die Tourneen der Hofoper (Wien) unter Leitung Gustav Mahlers nach London 1892 und nach Paris 1900; die Ballets Russes von Sergei Diagilew (St. Petersburg), das zwischen 1909 und 1914 auf europaweiten Gastspielen die Werke und Choreografien der neuen Musik verbreitete.[32]

IV. Chancen und Grenzen einer musikalischen Europäisierung

Wahrscheinlich fällt die Bilanz dieser Überlegungen wenig überraschend aus. Bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hatte sich der Umgang der adeligen und bürgerlichen Elite mit der Kunstmusik in den europäischen Opern- und Konzerthäusern weitgehend angeglichen. Der kulturelle Austausch erreichte aufgrund neuartiger Kommunikations- und Verkehrssysteme, sowie der gesteigerten Bedeutung der Märkte und technischen Medien eine nie zuvor erreichte transnationale Dimension. Die europaweite Verehrung „großer“ Musik und ihrer Interpreten und die Rolle reisender Sänger und Ensembles verdient hier Erwähnung. Ebenso kann die Funktion verschiedener Printmedien (Zeitungen, Fach- und Unterhaltungszeitschriften) in der Vermittlung musikalischer Vorlieben und für die Angleichung musikalischer Rezeptionsweisen kaum überschätzt werden. Infolge der exponentiell zunehmenden Kulturtransfers zeichnet sich eine Konvergenz der musikalischen Praktiken ab, die sich in verschiedenen Bereichen beobachten lässt: in den Repertoires und den Konsumformen, in den Rezeptions- und Hörgewohnheiten. Auch wenn auf der Ebene der musikalischen Genres und der Geschmacksmuster nach der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Pluralisierung nachweisbar ist, deutet das Konsumverhalten der Hörer in eine andere Richtung.

Diejenigen, welche die politischen, sozialen und kulturellen Strukturen in Europa vergleichen, beschreiben selten die Übereinstimmungen und konzentrieren sich meist auf unterschiedliche Entwicklungen. In der Musikrezeption scheint es aber gewinnbringender eine andere Position zu vertreten. Denn die Ähnlichkeiten im Musikleben in Europa übertrafen die Unterschiede bei Weitem. In den drei hier skizzierten Themenfeldern und Orten stechen vor allem die Gemeinsamkeiten in der Organisation musikalischer Spielstätten, die oft identischen musikalischen Repertoires und die einander so ähnlichen kulturellen Präferenzen und Verhaltensmuster der Publika ins Auge. Deutlich wurde, wie das Reden über Musik und das Konsumverhalten des Publikums Varianten einer ähnlichen sozialen Praxis in den Vergleichsstädten waren.

Die kulturelle Konvergenz im Musikleben in Europa insgesamt bestand auf vielen Ebenen. Diese Konvergenz überwölbte die Spezifika in den einzelnen Regionen West-, Mittel- und Osteruropas. Sie galt etwa für die Finanzierung des Spielbetriebs und die Ausgestaltung der Häuser ebenso, wie für das Repertoire, die Inszenierungen und die Auswahl der Künstler. Der Erwerb teurer Eintrittskarten, die Gründung professioneller Sinfonieorchester und der Selbstzwang des Publikums waren Varianten einer ähnlichen sozialen Praxis in den Vergleichsstädten. Charakteristisch für den Musikbetrieb des 19. Jahrhunderts wurde zweierlei. Auf der einen Seite bildete sich ein verbindlicher musikalischer Kanon heraus, zu dem die großen Sinfoniker von Haydn bis Brahms und die Opernkomponisten von Mozart bis Verdi zählten. Auf der anderen Seite entwickelten sich parallel dazu alternative, oder gar rivalisierende Genres und Stilformen. Der Musikbetrieb in einer Stadt setzte im Regelfall keine Standards für andere Orte. Zwar sind immer wieder zeitliche Verzögerungen und Lernprozesse zu erkennen. Londoner Musikfreunde beispielsweise orientierten sich zwischen 1850 und 1880 an dem in Berlin zuvor entwickelten Maßstab des schweigenden Hörverhaltens. In den meisten Fällen aber vollzogen sich trotz aller Wechselwirkungen die Diskurse, Vorlieben und Verhaltensmuster in den Metropolen parallel zu einander. Kennzeichnend dafür waren Konvergenzen und Variationen, seltener aber exakte Kopien anderswo erfolgreicher sozialer Interessen und kultureller Utopien.

Diese Geschichte des Musiklebens in Europa hat berücksichtigt, dass die Beziehungen zwischen Gesellschaften und Kulturen nicht anhand der vermeintlich getrennten Achsen von Transfer und Kommunikation einerseits und sozialen Machtkämpfen und politischen Antagonismen andererseits erfasst werden können. Konvergenz und Divergenz sollten nur selten als Antipoden in der europäischen Kulturgeschichte verstanden werden. Vielmehr ermöglichten auch Konflikte die musikalische Kommunikation. Deutlich werden sollte vielmehr, dass das Konzept nationaler Abgrenzung und die Praxis europäischer Angleichung sich gegenseitig bedingten. Vieles spricht dafür, dass Aneignung durch Abgrenzung und Abgrenzung wiederum durch Aneignung erfolgte. Soziale Gemeinschaften im Musikleben auch als Produkte wechselseitiger kultureller Kommunikation zu begreifen, ist normativen Ansätzen, welche oft von einem einseitigen Transfer zwischen „fortgeschrittenen“ und „rückständigen“ Geschmäckern und Repertoires ausgehen, konzeptionell überlegen. Tatsächlich wird die Kultur einer Gesellschaft wesentlich durch Anverwandlungen neuer Praktiken, Präferenzen und Fähigkeiten geprägt. Folgt man Peter Burkes Konzept des kulturellen Austausches, dann rücken die Veränderungen des Tauschgutes, hier der Kompositionen und der Praktiken, eben durch den Prozess des Transfers selbst in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Mit der neuen Kontextualisierung geht immer auch Dekontextualisierung einher, mithin eine Veränderung kultureller Objekte als Folge ihrer jeweiligen Rezeption.[33]

Vielleicht gelang es gerade einem Nichteuropäer deutlich zu machen, wie spezifisch, ja fremd der Musikbetrieb in Europa vielen Menschen bleiben musste. Was in Deutschland oder in England Erfolg haben konnte, musste nicht automatisch in den USA Gefallen finden. Das meinte jedenfalls der amerikanische Schriftsteller und Journalist Mark Twain. Er litt unter den Klängen Richard Wagners. Dabei wählte Mark Twain geschickt Häme und Spott, um seine Begegnung mit Wagners Opern in Worte zu fassen.

Auf seiner Europareise 1878 besuchte er das Opernhaus in Mannheim und erlebte eine Aufführung des Lohengrin. Zunächst polemisierte er trefflich gegen die zu Lasten der endlosen Erzählungen fast vollständig fehlende Handlung. Das Wagner-Publikum sei bei diesen Klängen „so beglückt wie Katzen, denen man das Fell streichelt“. Er habe körperlich gelitten – dann aber hörte er den Brautzug im dritten Akt. „Das war Musik für mein ungebildetes Ohr – geradezu göttliche Musik. […] Es schien mir, dass ich die Qualen, die ihnen vorausgegangen waren, fast noch einmal würde erdulden mögen, um abermals so geheilt zu werden.“[34] 1891 wagte Mark Twain einen zweiten Versuch, begab sich in die Höhle des nun verstorbenen Löwen Richard Wagner in Bayreuth und erlebte einen ihn beglückenden Parsifal. Selbstredend verzichtete er nicht auf eine Satire mit dem schönen Titel At the shrine of St. Wagner. Ein Amerikaner wird neugierig auf Wagner. Vielleicht sehen wir hier doch einen erfolgreichen musikalischen Kulturtransfer zwischen den Menschen, Geschmäckern und Kontinenten.



[1] Essay zur Quelle: Twain, Mark: Bummel durch Europa (1878).

[2] Hanslick, Eduard, Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag Zur Revision der Aestethik der Tonkunst, Leipzig 1854, S. 73.

[3] Von Weber, Carl Maria, Reise-Briefe von Carl Maria von Weber an seine Gattin Carolina, hgg. von seinem Enkel, Leipzig 1886, Brief vom 23.3.1826, S. 202.

[4] Vgl. Kramer, Lawrence, Music As Cultural Practice, 1800–1900, Berkeley 1990; Kaschuba, Wolfgang, Deutsche Bürgerlichkeit nach 1800. Kultur als symbolische Praxis, in: Kocka, Jürgen, Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 2, München 1988, S. 92–127; Lepsius, Rainer Maria, Das Bildungsbürgertum als ständische Vergesellschaftung, in: ders. (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 3, Stuttgart 1992, S. 9–18.

[5] Allerdings liegen bislang nur relativ wenige größere empirische Studien über Art und Häufigkeit der musikalischen Kontakte zwischen den großen Städten des 19. Jahrhunderts vor.

[6] Applegate, Celia, Bach in Berlin. Nation and Culture in Mendelssohn’s Revival of the St. Matthew Passion, Ithaca 2005; Weber, William, Music and the Middle Class. The Social Structure of Concert Life in London, Paris and Vienna between 1830 and 1848, Aldershot ²2004; Müller, Sven Oliver, Das Publikum macht die Musik. Das Musikleben in Berlin, London und Wien im 19. Jahrhundert, Göttingen 2014; Ther, Philipp, In der Mitte der Gesellschaft. Operntheater in Zentraleuropa 1815–1914, Wien 2006. Vgl. Becker, Tobias, Inszenierte Moderne. Populäres Theater in Berlin und London, 1880–1930, München 2014; insges. Ross, Peter, Grundlagen einer musikalischen Rezeptionsforschung, in: Rösing, Helmut (Hg.), Rezeptionsforschung in der Musikwissenschaft, Darmstadt 1983, S. 377–481, und bereits Adorno, Theodor W., Typen musikalischen Verhaltens, in: ders., Einleitung in die Musiksoziologie, Frankfurt am Main 71989 (¹1962), S. 14–34.

[7] Johnson, James H., Listening in Paris. A Cultural History, Berkeley 1995. Vgl. zur Untersuchung des Publikumsverhaltens zudem Müller, Das Publikum und die Überlegungen von Hall-Witt, Jennifer L., Representing the Audiences in the Age of Reform. Critics and the Elite at the Italian Opera in London, in: Bashford, Christina; Langley, Leanne (Hgg.), Music and British Culture, 1785–1914. Essays in Honour of Cyril Ehrlich, Oxford 2000, S. 121–144; Huebner, Steven, Opera Audiences in Paris 1830–1870, in: Music and Letters 70 (1989), S. 206–225.

[8] Vgl. Olsen, Donald J., Die Stadt als Kunstwerk: London, Paris, Wien, Frankfurt am Main 1988; Matzerath, Horst, Urbanisierung in Preußen 1815–1914, 2 Bde., Stuttgart 1985; Mommsen, Wolfgang J., Stadt und Kultur im Deutschen Kaiserreich, in: ders., Bürgerliche Kultur und politische Ordnung. Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle in der deutschen Geschichte 1830–1933, Frankfurt am Main 2000, S. 11–45; Zerback, Ralf, Die Verbürgerlichung des städtischen Raumes. Zur baulichen Entwicklung der Haupt- und Residenzstadt im 19. Jahrhundert, in: Hein, Dieter (Hg.), Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt, München 1996, S. 215–233.

[9] Vgl. Sennett, Richard, The Fall of the Public Man, London 1977; ders., The Conscience of the Eye. The Design and Social Life of Cities, London 1993.

[10] Grundlegend hierzu immer noch Habermas, Jürgen, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt am Main 41990, bes. S. 86–107. Vgl. Sennett, Richard, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens: die Tyrannei der Intimität, Berlin 2008, S. 71–91.

[11] Zweig, Stefan, Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt am Main 1995 (¹1944), S. 30.

[12] Sorba, Carlotta, Teatri. L´Italia del Melodramma Nell’ Etá del Risorgimento, Bologna 2001, S. 17–33; Forsyth, Michael, Bauwerke für Musik. Konzertsäle und Opernhäuser, Musik und Zuhörer vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1992.

[13] Spohr, Louis, Lebenserinnerungen, hg. von Göthel, Folker, Bd. 1, Kassel 1860/61, S. 155.

[14] Hanson, Alice M., Die zensurierte Muse. Musikleben im Wiener Biedermeier, Wien 1987; Botstein, Leon, Music and its Public. Habits of Listening and the Crisis of Musical Modernism in Vienna 1870–1914, Harvard 1985; Leppert, Richard, Music and Image: Domesticity, Ideology and Socio-Cultural Formation in Eighteenth-Century-England, Cambridge 1988; DeNora, Tia, Beethoven and the Construction of Genius. Musical Politics in Vienna, 1792–1803, Berkeley 1997; Hadamowsky, Franz, Wien – Theatergeschichte. Von den Anfängen bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, Wien 1988; insges. Die Beiträge in Erickson, Raymond (Hg.), Schubert’s Vienna, New Haven 1997.

[15] Vgl. Hall-Witt, Jennifer L., Fashionable Acts. Opera and Elite Culture in London, 1780–1880, Durham 2007; dies., Reforming the Aristocracy: Opera and Elite Culture, 1780–1860, in: Burns, Arthur; Innes, Joanna (Hgg.), Rethinking the Age of Reform: Britain 1780–1850, Cambridge 2003, S. 220–237; Weber, William, Redefining the Status of Opera. London and Leipzig, 1800–1848, in: Journal of Interdisciplinary History 36 (2006), H. 3, S. 507–532; Fenner, Theodore, Opera in London. Views of the Press 1785–1830, Carbondale 1994; Gunn, Simon, The Public Culture of the Victorian Middle Class. Ritual and Authority in the English Industrial City 1840–1914, Manchester 2000; McVeigh, Simon, Concert Life in London from Mozart to Haydn, Cambridge 1993; Hughes, Meirion, The English Musical Renaissance and the Press 1850–1914: Watchmen of Music, Aldershot 2002; Becker, Inszenierte Moderne.

[16] Hanslick, Eduard, Musikalisches Skizzenbuch. Der „Modernen Oper“ IV. Theil. Neue Kritiken und Schilderungen, Berlin 1888, S. 269, S. 278. Hanslicks Begeisterung erhöhte die tatsächliche Anzahl der Besucher (8.000) auf 12.000.

[17] Rehm, Jürgen, Zur Musikrezeption im vormärzlichen Berlin. Die Präsentation bürgerlichen Selbstverständnisses und biedermeierlicher Kunstanschauung in den Musikkritiken Ludwig Rellstabs, Hildesheim 1983; Mahling, Christoph-Helmut, Zum „Musikbetrieb“ Berlins und seinen Institutionen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Dahlhaus, Carl (Hg.), Studien zur Musikgeschichte Berlins im frühen 19. Jahrhundert, Regensburg 1980, S. 27–284; Müller, Sven Müller, Die musikalische Weltmacht. Zum Stellenwert der Musikrezeption im Deutschen Kaiserreich, in: ders.; Torp, Cornelius, (Hgg.), Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009, S. 246–261; Gramit, David, Cultivating Music. The Aspirations, Interests, and Limits of German Musical Culture, 1770–1848, Berkeley u.a. 2002; Jefferies, Matthew, Imperial Culture in Germany, 1871–1918, Houndmills 2003.

[18] Vgl. McVeigh, Simon, The Musician as Concert-Promoter in London, in: Bödeker, Hans-Erich (Hg.), Le concert et son public. Mutations de la vie musicale en Europa de 1780 à 1914 (France, Allemagne, Angleterre), Paris 2002, S. 71–89; Bitter-Hübscher, Marieluise, Theater unter dem Grafen Brühl (1815–1828), in: Dahlhaus, Studien, S. 415–428.

[19] Veblen, Thorstein, Theorie der feinen Leute, München 1971 (¹1899). Der englische Originaltitel („The Theory of the Leisure Class”) charakterisiert den zur Schau gestellten Müßiggang und Reichtum einer von täglicher Lohnarbeit befreiten Elite weit treffender.

[20] So mit Blick auf den Tanz und die Hofgesellschaft Braun, Rudolf; Gugerli, David, Macht des Tanzes – Tanz der Mächtigen. Hoffeste und Herrschaftszeremoniell 1550–1914, München 1993, bes. S. 166–202.

[21] Bourdieu, Pierre, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 91997; ders., Elemente zu einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung, in: ders., Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt am Main 61997, S. 159–201.

[22] Vgl. zur Sängerbewegung und zur kulturellen Nationsbildung Langewiesche, Dieter, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000, S. 82–171; zudem Applegate, Celia, How German Is It? Nationalism and the Idea of Serious Music in the Early Nineteenth Century, in: 19th Century Music 21 (1998), S. 274–296; sowie Pederson, Sanna, A.B. Marx, Berlin Concert Life and German National Identity, in: 19th Century Music 18 (1994), S. 87–107.

[23] Vgl. die einschlägigen Arbeiten von Paulmann, Johannes, Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn 2000; Röhl, John C. G., Hof und Hofgesellschaft unter Wilhelm II., in: ders., Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik, München ³1988, S. 78–115; Vernon, James, Politics and the People. A Study in English Political Culture, c. 1815–1868, Cambridge 1993; Plunkett, John, Queen Victoria. First Media Monarch, Oxford 2003.

[24] Vgl. zur Politisierung der Musik u.a. die Beiträge in Müller, Sven Oliver; Toelle, Jutta (Hgg.), Die Politisierung der Oper. Inszenierungen, Bestätigungen und Bedrohungen der gesellschaftlichen Ordnung in Europa im 19. und 20. Jahrhundert, München 2007; Bermbach, Udo, Wo Macht ganz auf Verbrechen ruht. Politik und Gesellschaft in der Oper, Hamburg 1997; Frevel, Bernhard (Hg.), Musik und Politik. Dimensionen einer undefinierten Beziehung, Regensburg 1997; und zum Zusammenhang zwischen Musik und Nationalismus: Danuser, Hermann; Münkler, Herfried (Hgg.), Deutsche Meister – böse Geister? Nationale Selbstfindung in der Musik, Schliengen 2001; die Beiträge in Applegate, Celia (Hg.), Music and German National Identity, Chicago 2002.

[25] Vgl. Müller, Publikum; Braun; Gugerli, Tanz, S. 226–241; insges. Daniel, Ute, Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 1995, S. 126–157.

[26] Vgl. McColl, Sandra, Music Criticism in Vienna 1896–1897. Critically Moving Forms, Oxford 1996; Schmitt-Thomas, Reinhold, Die Entwicklung der deutschen Konzertkritik im Spiegel der Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung (1798–1848), Frankfurt am Main 1969.

[27] Vgl. Hall-Witt, Representing, S. 137–144; Hanson, Muse, S. 87–90; Scott, Derek B., Music and Social Class, in: Samson, Jim (Hg.), The Cambridge History of Nineteenth-Century Music, Cambridge 2002, S. 544–567; Hays, Michael, The Public and Performance. Essays in the History of French and German Theater 1871–1900, Ann Arbor 1981, bes. S. 3–48.

[28] Vgl. Johnson, Listening, S. 268f., und passim; ders., Beethoven and The Birth of Romantic Musical Experience in France, in: 19th Century Music 15 (1991), S. 23–35; Müller, Sven Oliver, Die Politik des Schweigens. Veränderung im Publikumsverhalten in der Mitte des 19. Jahrhundert, in: ders.; Osterhammel, Jürgen (Hgg.), Musikalische Kommunikation. Themenheft Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), S. 48–85.

[29] Vgl. Balet, Leo; Gerhard, E., Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18. Jahrhundert, hgg. und eingeleitet von Gert Mattenklott, Frankfurt am Main 1972, S. 334–394, S. 468–481.

[30] Die Musikdramen Richard Wagners galten in allen Vergleichsstädten als ein Vorbild zur Schaffung einer international anerkannten Musikkultur. Umgekehrt beriefen sich die nationalistischen Aktivisten in der Donaumonarchie und in England auf die Vorrangstellung Wagners um die Notwendigkeit einer eigenen Musiktradition einzufordern. Vgl. Müller, Sven Oliver, Richard Wagner und die Deutschen. Eine Geschichte von Hass und Hingabe, München 2013; die Beiträge in Large, David (Hg.), Wagnerism in European Culture and Politics, Ithaca ²1985; sowie in Dahlhaus, Carl (Hg.), Richard Wagner. Werk und Wirkung, Regensburg 1971.

[31] Vgl. zur europaweiten Rezeption der Grand Opéra: Gerhard, Anselm, Die Verstädterung der Oper. Paris und das Musiktheater des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1992, passim; Maehder, Jürgen, Die italienische Oper des Fin de siécle als Spiegel politischer Strömungen im umbertinischen Italien, in: Bermbach, Udo (Hg.), Der schöne Abglanz. Stationen der Operngeschichte, Hamburg 1992, S. 181–210.

[32] Vgl. Toelle, Jutta, „Verkündiger jener neuen musikalischen Welt“. Angelo Neumanns reisendes Richard-Wagner-Theater in Italien 1883, in: Stachel, Peter; Ther, Philipp (Hgg), Wie Europäisch ist die Oper? Wien u.a. 2009, S. 187–196; Jacobs, Arthur, Arthur Sullivan. A Victorian Musician, Ashgate 1992; insges. Jacobshagen, Arnold; Reininghaus, Frieder (Hgg.), Musik und Kulturbetrieb, Medien Märkte und Institutionen, Laaber 2006.

[33] Burke, Peter, Kultureller Austausch, in: ders.: Kultureller Austausch, Frankfurt am Main 2000, S. 9–40; vgl. Dmitrieva, Katia; Espagne, Michel (Hgg.), Transferts culturels triangulaires France-Allemagne-Russie, Besançon 1996; François, Étienne, „Europäische lieux de mémoire”, in: Budde, Gunilla (Hg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, S. 290–303; die Beiträge in Müller, Sven Oliver et al. (Hgg.), Die Oper im Wandel der Gesellschaft. Kulturtransfers und Netzwerke des Musiktheaters im modernen Europa, Wien u.a. 2010.

[34] Vgl. die zu diesem Essay mit veröffentlichte Quelle Twain, Mark, Bummel durch Europa, Frankfurt am Main 1985, S. 67.



Literaturhinweise

  • Bermbach, Udo, Wo Macht ganz auf Verbrechen ruht. Politik und Gesellschaft in der Oper, Hamburg 1997.
  • Hanson, Alice M., Die zensurierte Muse. Musikleben im Wiener Biedermeier, Wien 1987.
  • Johnson, James H., Listening in Paris. A Cultural History, Berkeley 1995.
  • Müller, Sven Oliver, Das Publikum macht die Musik. Das Musikleben in Berlin, London und Wien im 19. Jahrhundert, Göttingen 2014.
  • Weber, William, Music and the Middle Class. The Social Structure of Concert Life in London, Paris and Vienna between 1830 and 1848, Aldershot ²2004.

Twain, Mark: Bummel durch Europa (1878)[1]

[65] […] An einem anderen Tag fuhren wir nach Mannheim und hörten uns eine Katzenmusik, will sagen: eine Oper an, und zwar jene, die „Lohengrin“ heißt. Das Knallen und Krachen und Dröhnen und Schmettern war unglaublich. Die mitleidlose Quälerei hat ihren Platz in meiner Erinnerung gleich neben der Erinnerung an die Zeit, da ich mir meine Zähne in Ordnung bringen ließ. Die Umstände erforderten, daß ich bis zum Ende der vier Stunden blieb, also blieb ich; aber die Erinnerung an diese lange, sich hinschleppende, unbarmherzige Leidenszeit ist unzerstörbar. Der Schmerz verschärfte sich noch dadurch, daß er schweigend und stillsitzend ertragen werden mußte. Ich saß in einem von einem Geländer umgebenen Abteil zusammen mit acht oder zehn Fremden beiderlei Geschlechts, und das erforderte Zurückhaltung; aber zuweilen war der Schmerz [66] so heftig, daß ich kaum die Tränen unterdrücken konnte. Wenn das Heulen und Wehklagen und Kreischen der Sänger und Sängerinnen und das Wüten und Toben des gewaltigen Orchesters höher anschwollen und wilder und wilder und grimmiger und grimmiger wurden, hätte ich aufschreien können, wäre ich allein gewesen. Diese Fremden hätte es nicht überrascht, einen Mann schreien zu sehen, dem Stück für Stück die Haut abgezogen wurde, aber hier wären sie verwundert gewesen und hätten zweifellos ihre Bemerkungen darüber gemacht, obgleich nichts in der gegenwärtigen Lage vorteilhafter als Gehäutetwerden war. Es gab eine Pause von einer halben Stunde nach dem ersten Akt, und ich hätte während der Zeit hinausgehen und mich ausruhen können, aber ich traute mich nicht, denn ich wußte, daß ich desertieren und draußenbleiben würde. Gegen neun Uhr kam noch einmal eine Pause von einer halben Stunde, aber inzwischen hatte ich so viel durchgemacht, daß all meine Lebensgeister hin waren und ich nur noch einen einzigen Wunsch besaß, nämlich in Frieden gelassen zu werden.

Ich möchte nicht zu verstehen geben, daß es all den anderen Leuten genauso wie mir ergangen sei, denn das war wahrhaftig nicht der Fall. Ob sie diesen Lärm von Natur aus schätzten oder ob sie durch Gewöhnung gelernt hatten, ihn gern zu haben, wußte ich zu der Zeit nicht; aber sie hatten ihn gern – das war mehr als deutlich. Solange er andauerte, saßen sie da und sahen so hingerissen und dankbar aus wie Katzen, wenn man ihnen den Rücken streichelt; und sooft der Vorhang fiel, erhoben sie sich als eine einzige, mächtige, einmütige Menge, und die Luft war dicht verschneit von winkenden Taschentüchern, und Wirbelstürme des Beifalls tosten durch den Raum. Dies war mir unbegreiflich. Selbstverständlich waren viele Leute dort, die sich nicht zum Bleiben gezwungen sahen; dennoch waren die Ränge am Schluß ebenso voll wie zu Beginn. Das bewies, daß die Darbietung ihnen gefiel.

Es war ein merkwürdiges Stück. Kostüme und Bühnenbild waren schön auffällig, aber Handlung gab es nicht viel. Ich will [67] sagen, es wurde nicht eigentlich viel getan, sondern nur darüber geredet; und stets heftig. Es war ein Stück, das man ein Erzählstück nennen könnte. Jeder hatte eine Erzählung und eine Beschwerde vorzutragen und keiner benahm sich vernünftig dabei, sondern alle befanden sich in einem beleidigenden, zügellosen Zustand. Man sah wenig von diesem vertrauten Brauch, wo der Tenor und der Sopran vorne an die Rampe treten und mit gemischten Stimmen trällern und schmettern und immerzu die Arme einander hinstrecken und sie wieder zurückziehen und beide Hände mit einem Beben und einem Drücken erst über die eine Brustseite und dann über die andere breiten – nein, jeder Aufrührer für sich und kein Zusammenklingen, so lautete hier die Losung. Einer nach dem anderen sang, begleitet vom gesamten Orchester, das sechzig Instrumente umfaßte, seine anklagende Geschichte, und wenn dies eine Weile angedauert hatte, und man zu hoffen begann, sie würden zu einer Verständigung kommen und den Lärm einschränken, tobte ein ganz und gar aus Besessenen zusammengefügter Chor los, und während der folgenden zwei und manchmal drei Minuten durchlebte ich von neuem alles, was ich seinerzeit erlitt, als das Waisenhaus abbrannte.

Nur eine einzige kleine Spanne Himmel und himmlischer Verzückung und himmlischen Friedens wurde uns gewährt während dieser ganzen langen emsigen und bitteren Wiedererschaffung jenes anderen Ortes. Dies geschah, als im dritten Akt ein prachtvoller Festzug immerzu im Kreis herummarschierte und den Brautchor sang. Das war Musik für mein ungebildetes Ohr – geradezu göttliche Musik. Während meine versengte Seele in den heilenden Balsam dieser anmutigen Klänge eintauchte, schien es mir, daß ich die Qualen, die ihnen vorausgegangen waren, fast noch einmal würde erdulden mögen, um abermals so geheilt zu werden. Hier enthüllt sich der tiefe Sinn der Oper. […]


[1] Twain, Mark, Bummel durch Europa, Frankfurt am Main 1985, S. 65–67.


Für das Themenportal verfasst von

Sven Oliver Müller

( 2015 )
Zitation
Sven Oliver Müller, Angleichung und Abgrenzung Perspektiven des Musiklebens in Europa im 19. Jahrhundert, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2015, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1655>.
Navigation