Ahmet Gündüz. Migration, Männlichkeit und die diasporischen Ursprünge von HipHop in Deutschland und Europa

Die ersten Zeilen des Songs Ahmet Gündüz markieren die Geburtsstunde des deutschsprachigen Rap. Vorgetragen in gebrochenem Gastarbeiterdeutsch und untermalt von einer türkischen Saz-Melodie, erzählt der Arbeiter Ahmet die Geschichte seiner Auswanderung in die Bundesrepublik. Gerappt wurden die Zeilen von Tahir Cevik alias Tachi, einem von drei MCs der Gruppe Fresh Familee. 1989 gegründet, spielte die Crew 1991 die Hauptrolle in der ersten deutschen HipHop-Dokumentation Fresh Familee – Comin’ from Ratinga. Den Gewinn eines städtischen Nachwuchspreises nutzte die Band im selben Jahr zur Finanzierung ihres gleichnamigen Debütalbums Coming from Ratinga, das sie kurz darauf im Eigenvertrieb veröffentlichte. Der Song Ahmet Gündüz war sowohl auf dieser Platte als auch auf dem 1993 von Phonogramm veröffentlichten Album Falsche Politik enthalten und gilt damit vielen als erste deutschsprachige Rapveröffentlichung. [...]

Ahmet Gündüz. Migration, Männlichkeit und die diasporischen Ursprünge von HipHop in Deutschland und Europa

Von Pablo Dominguez Andersen


„Mein Name ist Ahmet Gündüz,

lass mich erzählen euch.

Du musst die schon gut zuhören,

ich kann nix sehr viel Deutsch.

Ich komm von die Türkei, zwei Jahre her.

Und ich viel gefreut, doch Leben hier ist schwer.“[1]

Die ersten Zeilen des Songs Ahmet Gündüz markieren die Geburtsstunde des deutschsprachigen Rap. Vorgetragen in gebrochenem Gastarbeiterdeutsch und untermalt von einer türkischen Saz-Melodie, erzählt der Arbeiter Ahmet die Geschichte seiner Auswanderung in die Bundesrepublik. Gerappt wurden die Zeilen von Tahir Cevik alias Tachi, einem von drei MCs der Gruppe Fresh Familee. 1989 gegründet, spielte die Crew 1991 die Hauptrolle in der ersten deutschen HipHop-Dokumentation Fresh Familee – Comin’ from Ratinga. Den Gewinn eines städtischen Nachwuchspreises nutzte die Band im selben Jahr zur Finanzierung ihres gleichnamigen Debütalbums Coming from Ratinga, das sie kurz darauf im Eigenvertrieb veröffentlichte. Der Song Ahmet Gündüz war sowohl auf dieser Platte als auch auf dem 1993 von Phonogramm veröffentlichten Album Falsche Politik enthalten und gilt damit vielen als erste deutschsprachige Rapveröffentlichung. Angeführt von den drei MCs Tachi mit türkischen, Suli mit mazedonischen und Higgi mit marokkanischen Wurzeln, entstammte die Band der migrantischen Jugendkultur der postindustriellen Trabantensiedlung Ratingen West, welche den damaligen Medien vor allem aufgrund des hohen Anteils „ausländischer“ Bewohner als Problembezirk und sozialer Brennpunkt galt.[2]

Während der Hit Die Da?! der aus dem bürgerlichen Stuttgart stammenden Die Fantastischen Vier den deutschsprachigen HipHop 1992 in den medialen und musikalischen Mainstream katapultierte, waren Die Fantastischen Vier keineswegs wie oft behauptet die Erfinder des deutschen Rap.[3] Diese verbreitete Entstehungsgeschichte des Genres entspringt einer nationalen Erfolgs- und Reinheitsphantasie, welche den engen Zusammenhang zwischen HipHop und migrantischer Jugendkultur unsichtbar macht. So fasste ein typischer Artikel in DieZeit im Jahr 2000 zusammen: „Seit Smudo alias Michael Schmidt und die Fantastischen Vier den HipHop der amerikanischen, schwarzen Gettos in die mittelständischen Vororte deutscher Städte transformierten, hat die deutsche Sprache endlich zu ihrer Musik gefunden.“[4] Als erster deutschsprachiger Rap-Song offenbart Ahmet Gündüz dagegen die migrantischen und transnationalen Ursprünge des wenig später in den nationalen Musik-Kanon inkorporierten Genres. Wie Fatima El-Tayeb in ihrem Buch European Others betont, hat der europäische Hip-Hop als zentraler Teil eines politisch-kulturellen Aktivismus europäischer Minderheiten maßgeblich zur Herausbildung einer widerständigen „postethnic European of color identity“ beigetragen. Ahmet Gündüz ist Ausdruck dieser diasporischen und post-nationalen Form des antirassistischen Kampfes in Deutschland und Europa. Gleichzeitig erzählt der Song von der Marginalisierung migrantischer Männlichkeit in der deutschen Einwanderungsgesellschaft und dokumentiert eine kreative Form des Widerstands gegen diese.[5]

Migrantische Jugendkultur: HipHop im Deutschland der 1980er-Jahre

Rap war als Teil der Hip-Hop-Kultur in den späten 1970er-Jahren in der New Yorker Bronx entstanden. Bestehend aus den drei Säulen Breakdance, Graffiti und Rap – letzteres zusammengesetzt aus DJing (Plattenauflegen) und MCing (Sprechgesang) – unterlief HipHop als Melange vor allem afroamerikanischer, afrokaribischer und hispanoamerikanischer Elemente schon zum Zeitpunkt seiner Entstehung kulturelle und nationale Grenzen. Das Breakdancing (auch B-Boying genannt) wurde von puerto-ricanischen und afroamerikanischen Jugendlichen entwickelt, welche laut Pionieren wie Richard „Crazy Legs“ Colón sowohl vom Tanzstil James Browns als auch von asiatischen Kampfkunst-Filmen beeinflusst waren. DJing und MCing wiederum hatten ihre Wurzeln sowohl in der jamaikanischen Kultur der Soundsystems und dem dazugehörigen Sprechgesang, dem Toasting, als auch in afroamerikanischen Traditionen wie der religiösen Gesangspraxis des Call and Response, dem Signifyin’ (also dem spielerischen Umgang mit unterschiedlichen Wortbedeutungsebenen) oder dem kompetitiven Wortspiel the Dozens, welches Rapper in der Praxis des Dissens (der gekonnten Beleidigung) und im Genre des Battlerap zu einer eigenen Kunstform verfeinerten. Gleichzeitig sampelten HipHop-DJs Versatzstücke aus Soul, Reggae, Jazz, Rock und Country. „Musically speaking“, fasst Terence Kumpf treffend zusammen, „hip-hop is transcultural by nature.“[6]

Ihren Weg nach Deutschland fand die Hip-Hop-Kultur zunächst über das Kino, durch Dokumentarfilme wie Beat Street (1984) und Wild Style (1983). Vor allem der Breakdance-Film Beat Street hinterließ bei deutschen Jugendlichen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs einen bleibenden Eindruck und führte zur Entstehung erster Breakdance-Crews in Städten wie Frankfurt, Berlin, Düsseldorf, Hamburg, Heidelberg und Dresden. Während der Breakdance-Hype in den folgenden Jahren merklich abebbte, bildete sich in mehreren urbanen Zentren und in der Nähe britischer und amerikanischer Kasernen eine lebhafte HipHop-Subkultur aus B-Boys und B-Girls, Sprayern, DJs und MCs, die abseits des Mainstreams ein informelles Netzwerk aus Jams, Contests, überregionalen Kontakten und seit Ende der 1980er-Jahren auch Plattenaufnahmen schufen. Auf Basis dieser gewachsenen Szene, der auch die Band Fresh Familee entstammte, konnte sich das, was in den 1990er-Jahren als deutscher Rap dann zu einer tragenden Säule einer der größten nationalen Musikindustrien der Welt werden sollte, erst entwickeln.[7]

Die HipHop-Szene der 1980er-Jahre wurde maßgeblich von migrantischen Jugendlichen getragen. Wie Hannes Loh von der Gruppe Anarchist Academy betont, hatte HipHop „von Beginn an eine besondere Anziehungskraft auf die Söhne und Töchter der zweiten Migrantengeneration. Weit über die Hälfte der HipHops waren junge Türken, Kurden, Jugoslawen, Griechen, oder Italiener. […] in Beat Street und Wild Style begegneten ihnen Charaktere, die ein Leben führten, das dem ihren nicht unähnlich war.”[8] Die Songs von US-Rappern der ersten Generation wie Grandmaster Flash und Afrika Bambaataa handelten von einem oft trostlosen Leben in Armut und erzählten Geschichten von rassistischer Ausgrenzung und Diskriminierung. Gleichzeitig formulierten Songs wie The Message,Renegades of Funk oder Fight the Power von Public Enemy ein widerständiges schwarzes Selbstbewusstsein, das sich neben gemeinsamen Diskriminierungserfahrungen auch aus dem Gemeinschaftsgefühl der HipHop-Kultur speiste.

Getragen vom Wettbewerbscharakter der einzelnen HipHop-Elemente entstand auch in Deutschland eine transnationale Jugendkultur, in der zunächst jeder – unabhängig von Herkunft oder sozialer Schicht – die Chance hatte, sich durch sein Können künstlerisch auszudrücken und gegenüber anderen zu behaupten. Wie Tachi von der Fresh Familee betont, habe man sich „gerade als Ausländer in einem sozialen Brennpunkt automatisch mit HipHop identifiziert.“[9] Migrantische HipHop Crews wie Fresh Familee, Advanced Chemistry, Islamic Force, Da Crime Posse, Microphone Mafia oder die Asiatic Warriors rappten nicht nur auf deutsch, sondern auch auf englisch, italienisch, spanisch, arabisch, türkisch, kurdisch, mazedonisch und in vielen weiteren Sprachen mit dem erklärten Ziel, von ihrem Publikum und ihrer Community verstanden zu werden.

Vom Gastarbeiter zum Ausländer: Migration, Rassismus, Jugend und Geschlecht

Als jugendliche Migranten der zweiten Generation waren die Protagonisten der frühen HipHop-Szene in mehrfacher Hinsicht gesellschaftlich marginalisiert. Schon ihre Eltern hatten mit rassistischer Diskriminierung in Form von schlechten Wohnbedingungen, harter körperlicher Arbeit bei besonders niedrigen Löhnen, sozialer Ausgrenzung und fehlender politischer Teilnahme und Repräsentation zu kämpfen gehabt. Viele der jugendlichen Migranten waren zwar in Deutschland geboren und aufgewachsen, hatten aufgrund ihres Aussehens, ihres Namens oder ihrer Staatsangehörigkeit aber genau wie ihre Eltern kaum Aussicht, als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft behandelt und anerkannt zu werden. Während der Anwerbestopp von 1973 einen Versuch darstellte, die Migration nach Deutschland zu beenden, führte der folgende Familiennachzug mittelfristig dazu, dass die Zahl der Migrantinnen und Migranten stattdessen weiter anwuchs. Zu diesem Zeitpunkt löste die Figur des Ausländers die des Gastarbeiters ab und der Begriff der Integration begann seinen Siegeszug als neues Paradigma der staatlichen Kontroll- und Ausgrenzungspolitik. Parallel zu diesen Entwicklungen wurde gerade die Figur des männlichen jugendlichen Migranten gegen Ende der 1970er-Jahre immer häufiger als personifizierte Bedrohung der sozialen und nationalen Ordnung imaginiert. Während alarmierte Soziologen, Pädagogen, Juristen, Psychologen und Kriminologen die angeblich überproportional hohe Kriminalitätsrate unter Gastarbeiterkindern als „tickende soziale Zeitbombe“ analysierten, warnte der Spiegel in einer Titelstory über „Gettos in Deutschland“ reißerisch: „Die Türken kommen – rette sich, wer kann.“[10]

Während schon vor dem Beginn der Anwerbeverträge durchaus auch viele Frauen nach Deutschland eingewandert waren, waren es in erster Linie migrantische Männer, die in den deutschen Medien als symbolische Repräsentanten für das System der Gastarbeit herhalten mussten.[11] Hierbei taten sich die deutschen Medien durch eine beständige Infantilisierung und Exotisierung der männlichen Gastarbeiter hervor. Aller Unterschiede zum Trotz changierten die Stereotype migrantischer Männlichkeit in der deutschen Öffentlichkeit im Kern zwischen zwei Polen. Auf der einen Seite stand die Figur des grundanständigen, wohlangepassten und fleißigen – wenn auch etwas nachlässigen – Gastarbeiters. Dieser paternalistischen Phantasie nach waren südeuropäische Immigranten der ersten Generation im Kern brave und freundliche Werktätige, die aufgrund ihrer beinahe kindlichen Naivität als grundlegend harmlos, dabei schlimmstenfalls als ein wenig einfältig galten. Komplementär hierzu etablierte sich schon früh ein anderes Bild, welches den männlichen Gastarbeiter als Gefährdung der sozialen und nationalen Ordnung imaginierte. Nach diesem Stereotyp, das im Laufe der 1970er-Jahre immer dominanter wurde und bald in besonderem Maße mit türkischen Männern assoziiert wurde, waren migrantische Männer vor allem aggressiv, kriminell, triebhaft, aufbrausend, chauvinistisch und anpassungsunwillig.[12]

Migrantischen Männern blieb angesichts dieser verbreiteten Stereotype und wegen der herrschenden ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Diskriminierung der Zugang zu den symbolischen und materiellen Ressourcen hegemonialer Männlichkeit weitgehend versperrt. Während Raewyn Connell hegemoniale Männlichkeit als die zu einem bestimmten Zeitpunkt gesellschaftlich dominante Idealvorstellung von Maskulinität bezeichnet, müssen migrantische Männer in Deutschland nach 1945 insofern als Beispiel einer marginalisierten Form von Männlichkeit gelten. Einen besonders gewichtigen Aspekt dieser Marginalisierung stellte dabei die fehlende Möglichkeit zur medialen und kulturellen Selbstrepräsentation dar – die deutsche Öffentlichkeit sprach viel über migrantische Männer, selten aber mit ihnen.[13]

„Arschloch nix verstehen“: Marginalisierung, Ethnic Drag und männlicher Protest

Diese Marginalisierung von Migranten der ersten und der zweiten Generation fand ihren direkten Ausdruck im Gründungsdokument des deutschsprachigen Rap: in Fresh Familees Ahmet Gündüz. In der ersten Strophe des Songs schildert MC Tachi aus der Sicht eines Gastarbeiters der ersten Generation die Diskriminierung und die Zumutungen, mit denen sich Migranten in Deutschland tagtäglich konfrontiert sahen.

"In Arbeit Chef mir sagen: Kanacke hey wie geht’s?

Ich sage Hastirlan, doch Arschloch nix verstehen.

Mein Sohn gehen Schule, kann schreiben jetzt,

doch Lehrer ist ein Schwein, er gibt ihm immer Sechs.

Gestern ich komm von Arbeit, ich sitzen in der Bahn.

Da kommt ein besoffen Mann und setzt sich nebenan.

Der Mann sagt: Öhf, du Knoblauch stinken!

Ich sage: Ach egal, du stinken von Trinken!"

In der zweiten Strophe, zu welcher der Beat einsetzt, wechselt Tachi dann in ein akzentfreies Hochdeutsch, das seinen vorherigen Rap zunächst als ein ironisches Spiel mit dem Stereotyp des sprachunfähigen Gastarbeiters erkennbar werden lässt. Gleichzeitig erlaubt dieses Spiel Tachi, der ersten Einwanderergeneration eine widerständige und selbstbewusste Stimme zu verleihen. Ahmet Gündüz benennt die für ihn alltäglichen rassistischen Zumutungen, Ungerechtigkeiten und Beschimpfungen und wehrt sich gegen sie, indem er den ahnungslosen Chef als Arschloch und den Lehrer als Schwein tituliert. Die im Song zur Sprache kommenden Erfahrungen waren vielen jungen migrantischen Hörern des Songs zweifellos bekannt. Hierdurch schuf der Track ein Gemeinschaftsgefühl unter all jenen, die unter rassistischer Diskriminierung litten und vermittelte ein Gefühl der Stärke und des widerständigen Stolzes. Im Rest des Songs forderte Tachi seine Hörerinnen und Hörer auf, Vorurteile abzubauen und Migranten wie ihm (und Ahmet) endlich mit Respekt gegenüberzutreten.

Zur Zeit der deutschen Wiedervereinigung und noch vor der Pogromwelle der 1990er-Jahre dokumentierte Ahmet Gündüz den Alltagsrassismus in der Mitte der westdeutschen Gesellschaft. Nicht von mordenden Skinheads und brennenden Flüchtlingsunterkünften erzählte der Song, sondern von strukturellen Benachteiligungen, Gängelungen und Beleidigungen durch Institutionen, Chefs, Lehrer und Passanten. Schon in den 1980er-Jahren hatte sich die Rhetorik gegen sogenannte Ausländer deutlich verschärft. Die Wiedervereinigung war für viele Migrantinnen und Migranten deshalb kein Anlass zum Feiern, sondern eher ein Grund zur Sorge. Sie befürchteten, dass der Fall der Mauer den grassierenden Nationalismus weiter befeuern würde. Tatsächlich wurde die Neuverhandlung deutscher Identität auf dem Rücken von Migrantinnen und Migranten ausgetragen, die nun noch stärker als zuvor aus dem nationalen Kollektiv ausgeschlossen wurden.[14] Vor diesem Hintergrund ist Ahmet Gündüz auch als migrantischer Kommentar zum wachsenden Nationalismus und Rassismus des widervereinigten Deutschlands zu sehen.

Die Art und Weise, wie der Song mit verbreiteten Klischees vom türkischen Gastarbeiter spielte, ist auch deshalb bedeutsam, weil ein solches performatives Spiel mit ethnischen Identitäten in der deutschen Kulturlandschaft und Öffentlichkeit bis dato nahezu ausschließlich weißen deutschen Männern vorbehalten war. Wie Kathrin Sieg anhand von Reportagen wie Gerhard Kromschröders Als ich ein Türke war oder Günter Wallraffs Ganz Unten gezeigt hat, war das sogenannte ethnic drag nach 1945 gerade für deutsche Linke ein willkommenes Mittel, sich im Rahmen der „Vergangenheitsbewältigung“ mit einer marginalisierten ethnischen Minderheit zu identifizieren, ohne sich mit dem gegenwärtigen Rassismus und den davon Betroffenen tatsächlich auseinander setzen zu müssen. Anstatt mit Türken zu sprechen, so fasst Sieg treffend zusammen, verkleideten sich Deutsche lieber als Türken – mit dem Effekt, dass die subalternen Migrantinnen und Migranten weiterhin ihrer Stimme beraubt blieben. Mit MC Tachi war es in Ahmet Gündüz dagegen eine von Rassismus unmittelbar betroffene Person, welche in einem widerständigen Akt die Stimme eines Gastarbeiters der ersten Generation annahm und diesen so zum Sprechen brachte. Gleichzeitig ließ Tachi durch seinen abrupten und überraschenden Wechsel ins Hochdeutsche seine vorherige Performance als ein ironisches Zitat eines rassistischen Klischees hörbar werden, ein Klischee, welches in diesem Moment seine naturalisierende Wirkung einbüßte, weil es als Konstrukt sichtbar wurde.[15]

Auch über den Song Ahmet Gündüz hinaus zeichnete sich die migrantische HipHop-Kultur der 1980er- und frühen 1990er-Jahre durch einen spielerischen und transgressiven Umgang mit Identitäten aus. Tatsächlich gehörte die kreative Neukombination von Namen, Begriffen und Bezeichnungen aus unterschiedlichen Sprachen zu den wichtigsten Pfeilern der HipHop-Kultur insgesamt. Als Crews, Breaker, Writer, MCs oder DJs gaben sich Hip-Hopper neue, selbstgewählte Künstlernamen, die immer auch einen Bruch mit oder eine Neuerfindung ihrer vorherigen Identität bedeuteten. Während viele migrantische Jugendliche gerade durch ihre in den Ohren der Mehrheitsgesellschaft fremd klingenden Namen automatisch aus dieser Gesellschaft ausgeschlossen blieben, wurden sie durch die Annahme einer neuen Identität Teil einer transkulturellen und inklusiven Gemeinschaft. Die oft englisch klingenden Künstlernamen konnten einerseits die häufig als stigmatisierend empfundene ethnische Markiertheit des ursprünglichen Namens verwischen oder ganz unsichtbar machen. So wurde aus Tahir Cevik von Fresh Familee Tachi bzw. Tachiles, Toni Landomini von Advanced Chemistry verwandelte sich in Toni L (ebenfalls bekannt unter den Pseudonymen „Toni der Koch“ und „Funkjoker“), und aus Kofi Yakpo (ebenfalls Advanced Chemistry) wurde Linguist. Ebenso konnte, wie bei den Crews Asiatic Warriors, Islamic Force oder Sons of Gastarbeita eine in der deutschen Mehrheitsgesellschaft abwertend gebrauchte Bezeichnung innerhalb der HipHop-Kultur zu einer Quelle des Selbstbewusstseins und Stolzes umgedeutet werden.

Aller grundsätzlichen Inklusivität und Offenheit zum Trotz war HipHop in Deutschland eine männlich dominierte Subkultur. Auch die Fresh Familee war eine rein männliche Crew, welche in ihren Texten und ihrem Auftreten eine teilweise aggressive und stellenweise auch deutlich frauenfeindliche Form von Männlichkeit inszenierte. Im Track Ratingen West auf dem Album Falsche Politik etwa, der als eine der frühesten Vertreter des Gangster Rap gelten kann, stellte die Fresh Familee ihre Härte, Gewaltbereitschaft („Ich bin der Härteste im Hochhaus, klatsch jeden an die Wand“) und hyperaktive Sexualität zur Schau:

„Die Weiber […] machen dann gleich für mich die Beine breit, der Rest ist dann für mich ne Kleinigkeit. Direkt danach muss sie wieder gehen. Da hilft kein Flehen, auf wiedersehen.“

Im Vergleich zu den detaillierten Vergewaltigungsphantasien späterer Gangster-Rapper muten solche Zeilen zwar gerade in ihrer Schablonenhaftigkeit und sichtbaren Bemühtheit um maskuline Potenz vergleichsweise harmlos an. Dennoch schränkte die Marginalisierung von Frauen innerhalb der HipHop-Szene das politisch progressive und transgressive Potential der Kultur deutlich ein.[16] Gleichzeitig wird die große Bedeutung von männlicher Härte, Wehrhaftigkeit, Zusammenhalt, Potenz und Durchsetzungskraft auch im frühen Rap nur verständlich, wenn man sie vor dem Hintergrund der entmännlichenden Diskriminierung junger Migranten in der Bundesrepublik als Form männlichen Protestes versteht. „Protest masculinity“ so definiert Raewyn Connell, „is a marginalized masculinity, which picks up themes of hegemonic masculinity in the society at large but reworks them in a context of poverty.“[17] Laut Connell neigen viele Männer, welche aufgrund von sozialem Ausschluss nicht oder kaum an der patriarchalen Dividende teilhaben, zu einer exzessiven Zurschaustellung von als konventionell männlich definierten Verhaltensformen wie Gewalttätigkeit, Misogynie, Homophobie und zwanghafter Heterosexualität. Die reale Erfahrung von Machtlosigkeit kompensieren viele Männer, so Connell, durch die symbolische Inszenierung und manifeste Ausübung von Macht gegenüber schwächeren oder als schwächer titulierten Personen oder Personengruppen. Die Geschlechterdynamik innerhalb der HipHop-Kultur in Deutschland lässt sich also nur kritisch analysieren, wenn Formen rassistischer Diskriminierung und Klassenunterschiede ebenfalls in den Blick genommen werden.[18]

Ausblick: Rap, Minderheiten und diasporische Identitäten im postnationalen Europa

Die 1990er-Jahre brachten zeitgleich zum kommerziellen Durchbruch von Rap in Deutschland auch dessen Nationalisierung. Im Zuge des nationalistischen Trubels während und nach der deutschen Wiedervereinigung entledigte die Schallplattenindustrie im Tandem mit den deutschen Medien HipHop seiner migrantischen Wurzeln, um die Musik als „neuen deutschen Sprechgesang“ zu einer jugendlich-flotten Nationalkultur umzudeuten und kommerziell verwertbar zu machen. Vor dem Hintergrund der rassistischen Pogrome von Solingen, Rostock, Mölln und Hoyerswerda und der Abschaffung des Grundrechts auf Asyl gelangten zwar Bands wie die Fresh Familee und Advanced Chemistry aufgrund ihrer explizit antirassistischen Texte kurzzeitig zu einer gewissen Prominenz. In der Folge setzte sich aber der betont unpolitisch daherkommende Party-HipHop von Bands wie Der Tobi und das Bo, Fettes Brot oder Blumentopf durch. Erst mit dem Aufkommen von Gangster- und Battlerap in den 2000er-Jahren wurden migrantische Stimmen wieder federführend im deutschen Rap. Heute sind Künstler wie Bushido, Kool Savas oder Haftbefehl die kommerziell erfolgreichsten Rapper. Begleitet wird dieser Erfolg von einem alarmierten medialen Diskurs, welcher die gewaltverherrlichenden, frauenfeindlichen und homophoben Texte der migrantischen Rapper beklagt und als Folge ihrer angeblichen kulturellen Andersartigkeit festschreibt.

Entgegen solchen essentialisierenden Vorstellungen beschreibt Fatima El-Tayeb in European Others einen neuen kulturellen und politischen Aktivismus europäischer Minderheiten, die geeint seien durch ihren Ausschluss aus hegemonialen Vorstellungen von europäischer Identität. Migrantinnen und Migranten der zweiten und dritten Generation teilten gerade aufgrund ihrer gemeinsamen Rassismuserfahrungen eine fluide und postethnische „European of color identity,“ welche sich vor allem in widerständigen kulturellen und politischen Praktiken artikuliere. El-Tayeb folgt mit ihrer Analyse dem Aufruf von Autoren wie Paul Gilroy und Etienne Balibar, eine neue, minoritäre und demokratische Geschichte Europas von unten zu schreiben, in deren Zentrum die Auseinandersetzung mit und der Widerstand gegen den europäischen Rassismus stehen müsse. Der frühe HipHop als Ausdruck der bisher weitgehend unerforschten migrantischen Jugendkultur in Deutschland nach 1945 zeigt: Die diasporische Erfahrung europäischer Minderheiten hat nicht nur eine Gegenwart und eine Zukunft, sondern auch eine Geschichte, die noch ihrer Erzählung harrt.[19]



[1] Vgl. Fresh Familee, Ahmet Gündüz (vom Album Falsche Politik, Phonogramm, 1993). Der komplette Songtext ist einsehbar unter der URL <http://www.golyr.de/free-family/songtext-ahmet-guenduez-381812.html> (04.09.2015). Für eine Soundversion des Liedes vgl. Youtube, URL: <https://www.youtube.com/watch?v=E00uKrH1vtY> (04.09.2015).

[2] Vgl. Pennay, Mark, Rap in Germany: The Birth of a Genre, in: Mitchell, Tony (Hg.), Global Noise: Rap and Hip Hop Outside the USA, Middletown 2002, S. 111–133; Elflein, Dietmar, From Krauts with Attitudes to Turks with Attitudes: Some Aspects of Hip-Hop History in Germany, in: Popular Music 17 (1998), H. 3, S. 255–265; Verlan, Sascha; Loh, Hannes, 25 Jahre HipHop in Deutschland, Höfen 2006, S. 208; von Dirke, Sabine, Hip-Hop Made in Germany: From Old School to the Kanaksta Movement, in: Müller, Agnes C. (Hg.), German Pop Culture: How American is it? Ann Arbor 2012, S. 96–112.

[3] So – trotz gegenteiliger Tendenzen – auch bei Jacob, Günther, HipHop in Deutschland: Krauts With Attitudes, in Agit-Pop: Schwarze Musik und weiße Hörer, Berlin u.a. 1992, S. 206–226, S. 213. Vgl. auch Templeton, Inez H., Was ist so deutsch daran? Kulturelle Identität in der Berliner HipHop-Szene, in: Bock, Karin; Meier, Stefan; Süss, Günter (Hgg.), HipHop meets Academia: globale Spuren eines lokalen Kulturphänomens, Bielefeld 2007, S. 185–198.

[4] Die Zeit 2/2000, zitiert nach Loh, Hannes; Güngör, Murat, Fear of a Kanak Planet: HipHop zwischen Weltkultur und Nazi-Rap, Höfen 2002, S. 124.

[5] El-Tayeb, Fatima, European Others: Queering Ethnicity in Postnational Europe, Minneapolis 2011, S. 7.

[6] Kumpf, Terence, Beyond Multiculturalism: The Transculturating Potential of Hip-Hop in Germany, in: Nitzsche, Sina A.; Grünzweig, Walter (Hgg.), Hip-Hop in Europe: Cultural Identities and Transnational Flows, Wien u.a. 2013, S. 207–226, S. 209. Vgl. auch Strick, Simon, Competent Krauts: Following the Cultural Translations of Hip-Hop to Germany, in: Raussert, Wilfried; Miller Jones, John (Hgg.), Traveling Sounds: Music, Migration, and Identity in the U.S. and Beyond, Berlin 2008, S. 265–288, S. 265. Wald, Elijah, The Dozens: A History of Rap's Mama, Oxford 2012. Zu Breakdance vgl. Banes, Sally, Physical Graffiti: Breaking is Hard to do, in: Village Voice vom 22. April 1981, repr. in: Cepeda, Racquel (Hg.), And It Don’t Stop: The Best American Hip-Hop Journalism of the Last 25 Years, New York 2004, S. 7–11.

[7] Vgl. Verlan; Loh, 25 Jahre HipHop in Deutschland, S. 168–173. Zu HipHop in der DDR vgl. Schmieding, Leonard, „Das ist unsere Party“: HipHop in der DDR, Stuttgart 2014.

[8] Verlan; Loh, 25 Jahre HipHop in Deutschland, S. 162–163.

[9] Güngör; Loh, Fear of a Kanak Planet, S. 92.

[10] Der Spiegel, 30.07.1973. Vgl. Geißler, Rainer und Norbert Marißen, Kriminalität und Kriminalisierung junger Ausländer. Die tickende soziale Zeitbombe: ein Artefakt der Kriminalstatistik, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 42 (1990), S. 663–687; Terkessidis, Mark, Die Banalität des Rassismus: Migranten zweiter Generation entwickeln eine neue Perspektive, Bielefeld 2004; Bojadžijev, Manuela, Die windige Internationale: Rassismus und Kämpfe der Migration, Münster 2007; dies.; Perinelli, Massimo, Die Herausforderung der Migration: Migrantische Lebenswelten in der Bundesrepublik in den 1970er Jahren, in: Siegfried, Detlef; Reichardt, Sven (Hgg.), Das Alternative Milieu: Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983, S. 131–145, Göttingen 2010. Karakayali, Serhat, Gespenster der Migration: Zur Genealogie illegaler Einwanderung in der Bundesrepublik Deutschland, Bielefeld 2008, S. 153.

[11] Mattes, Monika, „Gastarbeiterinnen“ in der Bundesrepublik: Anwerbepolitik, Migration und Geschlecht in den 50er bis 70er Jahren, Frankfurt am Main 2005.

[12] Eine systematische Analyse des Zusammenhangs von Rassismus, Migration und Männlichkeiten in Deutschland nach 1945 steht noch aus. Für erste Anhaltspunkte vgl. Schönwalder, Karen, Einwanderung und ethnische Pluralität: Politische Entscheidungen und öffentliche Debatten in Großbritannien und der Bundesrepublik von den 1950er bis zu den 1970er Jahren, Essen 2001; Bojadžijev, Windige Internationale, S. 229. Sala, Roberto; Janz, Oliver (Hgg.), Dolce Vita? Das Bild der italienischen Migranten in Deutschland, Frankfurt am Main u.a. 2011.

[13] Connell, Raewyn, Masculinities, Berkeley 2005; Vgl. Martschukat, Jürgen; Stieglitz, Olaf, Geschichte der Männlichkeiten, Frankfurt am Main 2008.

[14] Cil, Nevim, Topographie des Außenseiters: Türkische Generationen und der deutsch-deutsche Wiedervereinigungsprozess, Berlin 2007; Räthzel, Nora, Zur Bedeutung von Asylpolitik und neuen Rassismen bei der Reorganisation der nationalen Identität im vereinigten Deutschland, in: Butterwege, Christoph; Jäger, Siegfried (Hgg.), Rassismus in Europa, Köln 1992, S. 213–229.

[15] Vgl. Sieg, Kathrin, Ethnic Drag: Performing Race, Nation, Sexuality in West Germany, Ann Arbor 2002, S. 25; Wallraff, Günter, Ganz Unten: Mit einer Dokumentation der Folgen, Köln 1988; Kromschröder, Gerhard, Als ich ein Türke war, Frankfurt am Main 1983; Gutiérrez Rodríguez, Encarnación, Repräsentation, Subalternität und postkoloniale Kritik, in: ders.; Steyerl, Hito (Hgg.), Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik, Münster 2012, S. 17–37; für eine alltägliche Form von ethnischer Performanz durch Migrantinnen und Migranten vgl. Möhring, Maren, Fremdes Essen: Die Geschichte der ausländischen Gastronomie in der Bundesrepublik Deutschland, München 2012, S. 262–270.

[16] Es gab im deutschen Hip-Hop auch viele Frauen, die sich gegen diese Marginalisierung wehrten. Vgl. etwa El-Tayeb, Fatima, Medien, Machos und Mädchenrap: Die Musikgruppe Tic Tac Toe, in: Online-Dossier Afrikanische Diaspora in Deutschland, Bundeszentrale für politische Bildung, URL: <http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/afrikanische-diaspora/59316/tic-tac-toe> (04.09.2015). Zu den USA: Jeffries, Michael P., Thug Life: Race, Gender, and the Meaning of Hip-Hop, Chicago 2011.

[17] Connell, Masculinities, S. 114. Vgl. auch Ege, Moritz, „Ein Proll mit Klasse:“ Mode, Popkultur und soziale Ungleichheiten unter jungen Männern in Berlin, Frankfurt am Main 2013, S. 177, S. 354.

[18] Vgl. Dietrich, Marc; Seeliger, Martin (Hgg.), Deutscher Gangsta-Rap: Sozial- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu einem Pop-Phänomen, Bielefeld 2012; Rose, Tricia, The HipHop Wars: What We Talk About When We Talk About Hiphop and Why it Matters, New York 2008, S. 113–132; White, Miles, From Jim Crow to Jay-Z: Race, Rap, and the Performance of Masculinity, Chicago 2011; Friedrich, Malte, Der Klang des Männlichen: Sexismus und Affirmation im HipHop, in: Gerards, Marion; Loeser, Martin; Losleben, Katrin (Hgg.), Musik und Männlichkeiten in Deutschland seit 1950: Interdisziplinäre Perspektiven, München 2014, S. 161–180.

[19] El-Tayeb, European Others; Balibar, Etienne, We, the People of Europe? Reflections on Transnational Citizenship, Princeton 2004; Gilroy, Paul, Migrancy, Culture, and a New Map of Europe, in: Raphael-Hernandez, Heike (Hg.), Blackening Europe: The African American Presence, New York u.a. 2004, S. XI–XXII. Hall, Stuart, Europe’s Other Self, in: Frangenberg, Frank (Red.), Projekt Migration, Köln 2005, S. 182–187.



Literaturhinweise

  • Bojadžijev, Manuela, Die windige Internationale: Rassismus und Kämpfe der Migration, Münster 2007.
  • Connell, Raewyn, Masculinities, Berkeley 2005.
  • El-Tayeb, Fatima, European Others: Queering Ethnicity in Postnational Europe, Minneapolis 2011.
  • Loh, Hannes; Güngör, Murat, Fear of a Kanak Planet: HipHop zwischen Weltkultur und Nazi-Rap, Höfen 2002.
  • Rose, Tricia, The HipHop Wars: What We Talk About When We Talk About HipHop and Why it Matters, New York 2008.

Für das Themenportal verfasst von

Pablo Dominguez Andersen

( 2015 )
Zitation
Pablo Dominguez Andersen, Ahmet Gündüz. Migration, Männlichkeit und die diasporischen Ursprünge von HipHop in Deutschland und Europa, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2015, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1660>.
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