Globales Christentum im Herzen Europas. Der Internationale Kongress für Weltevangelisation 1974 in Lausanne

Am 16. Juli 1974 stand der amerikanische Baptisten-Pastor und Evangelist Billy Graham (1918–2018) vor knapp zweieinhalbtausend Delegierten und über tausend weiteren Zuhörerinnen und Zuhörern aus 150 Ländern und hielt die am aufwändigsten vorbereitete Rede seines Lebens. Es handelte sich um den Eröffnungsvortrag des Internationalen Kongresses für Weltevangelisation im schweizerischen Lausanne. „Why Lausanne?“ hieß Grahams Vortrag.

Globales Christentum im Herzen Europas. Der Internationale Kongress für Weltevangelisation 1974 in Lausanne[1]

Jan Carsten Schnurr

Am 16. Juli 1974 stand der amerikanische Baptisten-Pastor und Evangelist Billy Graham (1918–2018) vor knapp zweieinhalbtausend Delegierten und über tausend weiteren Zuhörerinnen und Zuhörern aus 150 Ländern und hielt die am aufwändigsten vorbereitete Rede seines Lebens.[2] Es handelte sich um den Eröffnungsvortrag des Internationalen Kongresses für Weltevangelisation im schweizerischen Lausanne. „Why Lausanne?“ hieß Grahams Vortrag,[3] in dem er theologische Grundlinien und inhaltliche Ziele für den zehntägigen Kongress formulierte. Graham schaute aber in seinem Plenumsvortrag, dem mit 65 Minuten längsten des Kongresses, auch zurück, reflektierte den zeithistorischen Kontext des Großtreffens und stellte es in die Tradition der historischen Weltmissionskonferenz von 1910 in Edinburgh.

Edinburgh 1910 war von dem Wunsch nach einer raschen Verbreitung des Evangeliums geprägt gewesen, was der Slogan „The Evangelization of the World in this Generation“, das Motto des Student Volunteer Movement for Foreign Missions, einer Missionsbewegung unter amerikanischen und britischen Studenten, auf den Punkt gebracht hatte. Zugleich war das Treffen zum Ausgangspunkt der ökumenischen Bewegung des 20. Jahrhunderts geworden. Die ökumenische Bewegung aber hatte im Laufe der Jahrzehnte und insbesondere in den dem Lausanner Kongress unmittelbar vorausgehenden Jahren, 1968 auf der vierten Vollversammlung des Weltkirchenrates in Uppsala und 1972/73 auf der siebten Weltmissionskonferenz in Bangkok, ihr Verständnis der christlichen Botschaft grundsätzlich neu justiert. Sie hatte insbesondere deren diesseitigen, politischen Aspekt in den Vordergrund gerückt und dabei teilweise postkoloniale, neomarxistische und religionspluralistische Ansätze aufgenommen. Auch ein „Moratorium“, ein Aussetzen westlicher Missionsarbeit in der „Dritten Welt“, wurde diskutiert.

Auf diese missionstheologischen Entwicklungen im Genfer Weltkirchenrat, die zu heftigen Kontroversen geführt hatten, aber auch auf andere drängende Fragen der Christenheit in den 1970er-Jahren, erhoffte sich Graham, wie er betonte, von dem Kongress eine biblisch begründete theologische Antwort. Und: Er wies auf die grundlegend veränderte Weltkarte des Christentums hin. Denn während die „langen sechziger Jahre“ in weiten Teilen Europas und Nordamerikas zu einem Wertewandel und einem Säkularisierungsschub geführt hatten, waren, für viele überraschend, die indigenen Kirchen auf der Südhalbkugel sprunghaft gewachsen. Im postkolonialen Afrika etwa war das Christentum dabei, sich in den Mitgliederzahlen zwischen 1964 und 1984 zu vervierfachen.[4]

Das spiegelte sich in der Zusammensetzung des Kongresses wider. 1910 in Edinburgh hatten nicht einmal zwei Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer einen „nichtwestlichen“ und nichtweißen Hintergrund gehabt; 1974 waren es fast vierzig Prozent.[5] „Never before“, meinte Graham in seinem Vortrag, „have so many representatives of so many evangelical Christian churches in so many nations and from so many tribal and language groups gathered to worship, pray, and plan together for world evangelization.”

Einigung der evangelikalen Kräfte im Zeichen der Mission

In dieser Aussage Grahams wird deutlich, worum es im Lausanner Konferenzzentrum Palais de Beaulieu ging. Es war die weltweite evangelikale Bewegung, der theologisch konservative Teil des Protestantismus, die hier versammelt war. Der britische Historiker David W. Bebbington hat dem Evangelicalism in seiner klassischen (wenn auch nicht ganz unumstrittenen) Definition vier prägende Merkmale attestiert: conversionism, die Auffassung, dass ein Mensch nicht automatisch durch Gruppenzugehörigkeit, sondern nur durch eine freiwillig getroffene, von Gott ermöglichte Lebensentscheidung („Bekehrung“) Christ wird; activism, die Überzeugung, dass Nachfolge Christi positive Auswirkungen im Leben hat und christliches Engagement einschließt; biblicism, die zentrale Stellung der Bibel als Autorität in allen Glaubens- und Lebensfragen; und crucicentrism, die Betonung des Opfertodes Jesu am Kreuz als Grundlage des Heils und der Sündenvergebung.[6] Diese vier Anliegen prägten tatsächlich auch das Geschehen in Lausanne.

Mit dem Begriff der „Weltevangelisation“ war das Ziel gemeint, das Evangelium von Jesus Christus allen Menschen aller Erdteile bekanntzumachen und damit allen die Chance zu geben, es, wenn sie wollten, anzunehmen. Das war freilich ein hochgestecktes Ziel. Es meinte nicht weniger, als den Missionsgedanken, der dem Christentum von Beginn an eigen gewesen war und der im Protestantismus seit dem 18. Jahrhundert Missionsbewegungen inspiriert hatte, für die Epoche nach dem europäischen Kolonialismus neu zu denken und ihn zugleich weltweit auf die christliche Tagesordnung zu setzen. Man hatte dementsprechend, wie Graham erläuterte, das Substantiv „evangelization“ statt „evangelism“ gewählt, um die globale Dimension der Aufgabe, „God’s big picture of ‘world need’ and the ‘global responsibility’“, in den Blick zu bekommen.

Billy Graham hatte den Kongress initiiert. Nur er hatte das tun können. Die evangelikale Christenheit war heterogen und gehörte ganz unterschiedlichen – theologisch gemischten oder auch ausschließlich evangelikalen – protestantischen Kirchen und Konfessionen an. Nur der kleinere Teil der Evangelikalen fühlte sich der Genfer Ökumene verbunden. Die weltweite Körperschaft, die die evangelikale Christenheit am ehesten vertrat, war die Weltweite Evangelische Allianz, aber sie war auf einigen Kontinenten nur schwach vertreten und zudem vor allem auf lokaler Ebene wirksam. So wurde Billy Graham zum Initiator einer neuen, auf das Thema Mission ausgerichteten Struktur. Kein anderer evangelikaler Christ war weltweit so bekannt, so angesehen und so gut vernetzt wie Graham durch seine ab Mitte der 1940er-Jahre zunächst in den USA, bald auch international durchgeführten und von fast allen Kirchen getragenen Evangelisationsveranstaltungen, die auf allen Kontinenten ein Millionenpublikum erreichten. Kaum ein anderer besaß die organisatorische Infrastruktur und die Spendengelder, um einen modernen Großkongress wie Lausanne auf die Beine zu stellen. Und kein anderer verkörperte im selben Maß das Anliegen, für den christlichen Glauben zu werben, und vermochte zu diesem Zweck verschiedene Flügel der Evangelikalen zu einen. Der Graham-kritische Fundamentalism um Carl McIntire (1906–2002) bildete hier eine Ausnahme.

Billy Graham hatte bereits 1948 in Beatenberg in der Schweiz eine internationale Tagung für „Weltevangelisation“ erlebt und vermutlich dort mit einigen Freunden die Idee einer repräsentativen Weltkonferenz zu diesem Thema bekommen. In den folgenden Jahren hatte er sie weiterverfolgt, 1960 in Montreux mit 33 führenden Evangelikalen aus zwölf Ländern konkreter ins Auge gefasst und schließlich 1966 mit dem Weltkongress für Evangelisation(World Congress on Evangelism) in Berlin erstmals verwirklicht. Der Weltkongress 1966 im politischen Brennpunkt Berlin – fünf Jahre nach dem Mauerbau und drei Jahre nach dem Besuch John F. Kennedys – war der eigentliche Vorläufer des Lausanner Kongresses. Mit seinen 1200 ausgewählten Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus etwa hundert Ländern führte er der Weltöffentlichkeit erstmals vor Augen, dass es eine weltweite evangelikale Ökumene gab, die so etwas wie die dritte Kraft der Weltchristenheit darstellte neben der katholischen Kirche, die im Vorjahr ihr Zweites Vatikanisches Konzil (1962–1965) beendet hatte, und dem Ökumenischen Rat der Kirchen, der den liberalen Protestantismus und seit 1961 auch die orthodoxen Kirchen vertrat. Bereits Berlin 1966 vermittelte den Evangelikalen ein neues Selbstbewusstsein und einen Blick für die Internationalität ihrer Bewegung. Die Referate behandelten theologische Grundlagen der Evangelisation, aber man dachte auch über das weltweite Aufbegehren der Jugend nach und hörte Berichte über den Fortgang des Evangeliums in verschiedenen Ländern.

Soziale und sozialpolitische Themen waren in Berlin aber eher wenig angesprochen worden, und auch eine aktive Beteiligung der „Dritten Welt“ gab es nur teilweise. Das wurde in den folgenden Jahren in Regionalkonferenzen in Singapur 1968 (für Asien), Minneapolis 1969 (für Nordamerika), Bogotá 1969 (für Südamerika) und Amsterdam 1971 (für Europa) anders, so dass in Lausanne 1974 ganz unterschiedliche Diskurse und Strömungen zusammenkamen und auch aufeinanderprallten.

In Lausanne wurde deutlich, dass eine neue Generation von Leiterpersönlichkeiten in den jungen Kirchen der „Dritten Welt“ herangewachsen war, die ihre eigene Perspektive einbringen wollte. Viele waren in den weltweit entstandenen christlichen Studentenbewegungen, Campus für Christus, Navigatoren und besonders der International Fellowship of Evangelical Students (in Deutschland: SMD), geprägt worden und hatten von dort auch das Anliegen mitgenommen, ihren Glauben im Horizont der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu reflektieren. Überhaupt spielten überkonfessionelle freie Werke (para-church organizations) für Lausanne wie auch für die evangelikale Bewegung insgesamt eine entscheidende Rolle. World Vision, die Wycliff-Bibelübersetzer, Youth for Christ, Operation Mobilization, die Gideons, zahlreiche theologische Seminare und viele weitere christliche NGOs, die sich auf bestimmte Zielgruppen und Bedürfnisse spezialisierten, waren ein vitalisierendes Element für das konfessionsübergreifende evangelikale Christentum. Sie waren in Lausanne stark vertreten.

Ein Welttreffen im Herzen Europas

Dass die Wahl mit Lausanne erneut auf einen europäischen Veranstaltungsort gefallen war, hatte verschiedene Gründe, allen voran die logistischen Herausforderungen einer Weltkonferenz. Auch andere Städte, die man in Betracht gezogen hatte – Rom, Amsterdam, Brüssel und Stockholm – lagen in Europa. Der alte christliche Kontinent schien also noch einmal, wie acht Jahre zuvor, die natürliche Wahl gewesen zu sein. Die Realität war freilich komplexer: Im Vorfeld hatten europäische Stimmen vor der Gründung einer neuen Weltorganisation gewarnt, die der Evangelischen Allianz Konkurrenz machen könnte, und besonders in Großbritannien und Deutschland war die Resonanz zunächst gespalten. In keinem Erdteil lag der Anteil derer, die die Einladung zum Kongress nicht angenommen hatten, so hoch wie in Europa. Weit schwerer als diese Startschwierigkeiten wog allerdings die Sorge über die religiöse Entwicklung des Kontinents. Ohne in Defätismus verfallen zu wollen, wiesen Graham und weitere Referenten doch deutlich auf die in Europa zunehmend verbreitete Kirchenferne selbst nomineller Mitglieder christlicher Konfessionen hin. Manchen erschien die zeitgenössische europäische Kultur sogar als „post Christian“.[7] Hinzu kam für den östlichen Teil des Kontinents die Bedrängung praktizierender Christinnen und Christen durch die kommunistischen Regime. Eine Abendveranstaltung war der Anteilnahme an ihrem Schicksal gewidmet. Osteuropa war aufgrund der politischen Einschränkungen unter den knapp sechshundert europäischen Delegierten nur schwach vertreten. So sehr die Schweizer Alpen den Kongress begeistern mochten, ausgesprochen optimistisch vermochte er nicht auf Europa zu schauen.

Man unterteilte die Welt jedoch nicht nur nach Kontinenten. Eine wichtige Rolle spielte in den Kongressdebatten auch das Konzept des „Westens“, das sich schon in Grahams Einführungsvortrag findet. „Third World“ war dazu der zentrale Gegenbegriff. Beide Bezeichnungen wurden von Rednern unterschiedlichster Herkunft verwendet. Weit seltener war vom „Osten“ die Rede, womit entweder der kommunistische Ostblock oder der Orient, vor allem Asien, mit seinen nichtchristlichen Religionen gemeint war. Mit dem „Westen“, den an liberaler Demokratie und Marktwirtschaft orientierten Staaten Europas und Nordamerikas, verband man vor allem Macht und materiellen Wohlstand (und deren Schattenseiten), aber auch die jahrhundertelange Vorherrschaft des Christentums, die bisherige protestantische Weltmission und das moderne Angebot eines säkularen Denk- und Lebensstils. Das westlich-liberale politische System als solches stand dagegen nicht im Zentrum der Diskussion.

Im Vorfeld waren Quoten für die Auswahlkomitees in den einzelnen Weltregionen festgelegt worden, so dass mehr als tausend Delegierte und etliche Referenten aus der nichtwestlichen Welt kamen. Die Hälfte der Delegierten war jünger als 44 Jahre alt; es waren also viele Führungskräfte dabei, die ihre Hauptwirkungszeit noch vor sich hatten.

Ein besonderes Augenmerk wurde, hier ganz im Sinne des demokratischen Geistes der Zeit, auf Partizipation gelegt. Das machte sich nicht nur in den Regionalgruppen und Workshops bemerkbar, sondern auch im Plenumsprogramm. Elf der Hauptvorträge (nicht der von Billy Graham) waren allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern Monate vor dem Kongress mit der dringenden Bitte um schriftliche Kommentierung zugeschickt worden, und die Referenten nahmen in ihren Ansprachen auf die teilweise deutlich über tausend Rückmeldungen Bezug. Man war also schon im Vorfeld mit den Thesen der Hauptredner vertraut, erlebte, wie diese in ihren Vorträgen auf die Rückfragen und Einwände eingingen, teilweise auch auf mündliche Erwiderungen vom Podium aus, und erhielt schließlich noch die Möglichkeit, in Zusatzveranstaltungen mit einigen Referenten zu diskutieren. Dieses Procedere führte zu einer intensiven Auseinandersetzung aller Kongressteilnehmerinnen und -teilnehmer mit den in Lausanne verhandelten Inhalten und trug gemeinsam mit dem bald verfügbaren Dokumentationsband zum nachhaltigen Einfluss des Lausanner Kongresses bei.

Unter den Rednern waren einige der bekanntesten evangelikalen Autorinnen und Autoren ihrer Zeit. Auf besonderes Interesse stießen etwa die anglikanischen Theologen John R.W. Stott (1921–2011) und Michael Green (1930–2019) aus England, der in der Schweiz wirkende amerikanische Kulturkritiker und christliche Apologet Francis Schaeffer (1912–1984) und die holländische KZ-Überlebende Corrie ten Boom (1892–1983). Der zeitgeschichtliche Kontext dürfte die multiplikatorische Wirkung der Referate begünstigt haben: Einerseits hatte die technische Infrastruktur – etwa durch Entwicklung der Boeing 747 für den massenhaften Flugverkehr – ein Level erreicht, das eine wirklich repräsentative globale Konferenz ermöglichte, andererseits hatte das Internet die globalen Informationsflüsse noch nicht massiv beschleunigt und entgrenzt.

Das Kernthema soziale Verantwortung

Das größte Echo und die größte Kontroverse lösten die Vorträge von zwei südamerikanischen Theologen, dem Peruaner Samuel Escobar (* 1934) und dem in Argentinien wirkenden Ecuadorianer C. René Padilla (1932–2021), aus. Die beiden sprachen – auf Spanisch – über die soziale Dimension der Evangelisation und griffen Gedanken auf, die lateinamerikanische Evangelikale in der Auseinandersetzung mit den marxistischen Bewegungen ihrer Länder entwickelt hatten. Escobar und Padilla schlossen sich zwar nicht den theologischen Umbrüchen des Weltkirchenrates an. Sie nahmen aber viel stärker als die meisten westlichen Delegierten sozialkritisches und befreiungstheologisches Gedankengut auf und zeichneten vor diesem Hintergrund ein ambivalentes Bild besonders vom nordamerikanischen Christentum. So kritisierten sie den „American Way of Life“, ein individualistisches Heilsverständnis, den aus ihrer Sicht mangelnden Kampf des US-Evangelikalismus gegen Rassismus und wirtschaftliche Ausbeutung und einen auf numerisches Wachstum ausgerichteten Pragmatismus in der westlichen Weltmission.[8] Auf dem Höhepunkt der Krise Richard Nixons, der drei Wochen später als US-Präsident zurücktreten sollte, verwies Padilla auf „Watergate“, hinter dem er einen ähnlichen Pragmatismus vermutete, und bezeichnete die von ihm verurteilten Haltungen als unbiblisches „Kulturchristentum“.[9]

Vor allem nordamerikanische Delegierte fühlten sich von solchen Aussagen ungerecht beurteilt. Auch sie waren für humanitäres Engagement. Sie fürchteten aber, dass die Auffassung, Diakonie und Politik seien integraler Teil christlicher Mission, zu einem politisierten Evangelium wie in der Genfer Ökumene führen würde. In diesem Sinne hatte auch Billy Graham in seinem Einführungsvortrag vor dem „Social Gospel“ gewarnt; sein ausdrückliches Eintreten für das christliche soziale Gewissen und sein Eingeständnis, Christentum und Amerika bisweilen zu stark miteinander identifiziert zu haben, wiesen ihn allerdings als Brückenbauer und Vertreter einer Mittelposition aus.

Dagegen kam viel Zustimmung für Escobar und Padilla von den Delegierten des Globalen Südens wie auch von einigen jüngeren Leuten aus dem Westen wie Ron Sider (* 1939) oder Jim Wallis (* 1948), die politisch weiter links standen als große Teile ihrer Eltern-Generation. Die biblische Botschaft vom Heil durch den Glauben an Christus könne, so meinten sie, gar nicht ohne ihre sozialpolitische Dimension und den Einsatz für soziale Gerechtigkeit verstanden werden.

Der „Lausanne Covenant“

Im Abschlussdokument des Lausanner Kongresses, der Lausanner Verpflichtung(Lausanne Covenant),[10] an deren Erstellung die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ebenfalls beteiligt wurden, fanden die Anliegen beider Gruppen zusammen: Die erste Aufgabe der Kirche bleibe die Verkündigung des Evangeliums. Allerdings sei das soziale Engagement gegen Armut und Unterdrückung ebenfalls unverzichtbarer Teil des Missionsbefehls. Man habe es, so wurde eingeräumt, nicht immer hinreichend berücksichtigt. Auch auf die Verbindung von Mission und kultureller Expansion nahm das Dokument selbstkritisch Bezug und verpflichtete christliche Missionarinnen und Missionare auf persönliche Integrität und Demut gegenüber den Kulturen, in denen sie arbeiteten: „Christ’s evangelists must humbly seek to empty themselves of all but their personal authenticity in order to become the servants of others.“[11]

Dem Anglikaner John Stott, dem wichtigsten Autor der Lausanner Verpflichtung, gelang es, die Impulse des Kongresses behutsam auszutarieren und Formulierungen zu finden, in denen sich die verschiedenen Flügel wiederfinden konnten. Zum Teil stehen deshalb ursprünglich gegensätzliche Anliegen nebeneinander. Artikel 12 etwa beklagt „Weltlichkeit“ in der eigenen Missionspraxis, weil man empirische Studien zum Gemeindewachstum manchmal vernachlässigt und weil man sie manchmal überbetont oder unlauter eingesetzt habe.[12] Auch andere Artikel zeugen von dem Bemühen, unterschiedliche Anliegen zusammenzuführen und bei dem allen einen demütigen, nicht-triumphalistischen Ton anzuschlagen.

Dennoch kam es zu einem gewissen Generationenkonflikt. Mehrere hundert vornehmlich jüngere Teilnehmerinnen und Teilnehmer, denen der Covenant nicht weit genug ging, formierten sich am Rande des Kongresses zur Radical Discipleship Group und formulierten einen eigenen Text, der die Trennung von Wortverkündigung und gesellschaftlichem Einsatz mit besonders scharfen Worten verurteilte. Stott gelang es, auch sie zu gewinnen, indem er einige ihrer Sätze in die Lausanner Verpflichtung integrierte, ihren alternativen Text öffentlich würdigte und ankündigte, ihn selbst auch unterschreiben zu wollen. Manche Beobachter sehen bis heute in der Radical Discipleship Groupden Ursprung der eher linksevangelikalen gesellschaftstransformatorischen Missionstheologie.

Doch auch die Konservativen fanden sich insgesamt in der Lausanner Verpflichtung wieder. Der Tübinger Missionswissenschaftler Peter Beyerhaus (1929–2020) etwa, der einzige deutsche Hauptredner in Lausanne, begrüßte, dass auch Inhalte seiner Frankfurter Erklärung zur Grundlagenkrise der Mission von 1970, die sich gegen eine Ineinssetzung von Mission und Humanisierung wandte, und seiner Ökumene-kritischen Berliner Erklärung von 1974 aufgenommen worden waren, auch wenn er selbst manche Kritik gerne noch deutlicher formuliert hätte.[13]

Der Lausanne Covenant übernahm für beide Gruppen eine auch psychologisch wichtige Integrationsfunktion: Einerseits überwand er die in der jüngeren Generation der evangelikalen Führungsschicht, aber auch generell in der „Dritten Welt“ verbreitete Befürchtung, Teil einer politisch konservativen, westlich-kapitalistischen und auf den gesellschaftlichen Status quo ausgerichteten Bewegung zu sein. Dieser antikonservative Reflex war bei manchen aus intellektuellen wie auch aus emotionalen Gründen so stark, dass er sie aus dem Evangelikalismus hinausgeführt haben dürfte, wenn man ihnen hier nicht Raum für eine theologisch begründete Sozialkritik gegeben hätte. Bis heute lesen sich „Lausanner“ Statements politisch gesehen oft progressiver, als das mediale Bild vom US-Evangelikalismus vermuten lässt.

Auf der anderen Seite beruhigte die Lausanner Verpflichtung die konservativen Ökumene-Kritikerinnen und -Kritiker, die fürchteten, der Evangelikalismus sei dabei, den Genfer Weg des theologischen Liberalismus einzuschlagen. Denn sie betonte die Autorität der Bibel, die Verlorenheit des Menschen, die Einzigartigkeit Jesu, die Notwendigkeit von Bekehrung und Wiedergeburt und die Wiederkunft Christi und erneuerte so eine klassische evangelikale Missionstheologie. Wenn man diese dogmatischen Fragen ausgeklammert hätte, hätte dies die evangelikale Bewegung ebenfalls zerrissen. Der Lausanne Covenant bewies demgegenüber, dass der Kongress – und damit die evangelikale Bewegung – kein bloßes Diskussionsforum war, sondern eine identifizierbare theologische Botschaft besaß.

Angefangen vom Kongress-Vorsitzenden Bischof Jack Dain (1912–2003) aus Sydney und Billy Graham unterschrieben etwa achtzig Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer die 15 Artikel des Lausanne Covenant im Sinne einer persönlichen Selbstverpflichtung. Vor allem wurde das Dokument von zahlreichen christlichen Werken weltweit als mission statement übernommen – bis heute. Die Lausanner Verpflichtung erwies sich zudem als wichtige Gesprächsgrundlage für die bald einsetzenden ökumenischen Kontakte des evangelikalen Protestantismus zur römisch-katholischen Kirche und zum Weltkirchenrat. Sie wird von vielen als das einflussreichste protestantische Missionsdokument angesehen.

Ein neues missionstheologisches Paradigma

Die soziale Verantwortung blieb seitdem auf der Agenda der Evangelikalen. Ein weiteres inhaltliches Ergebnis betraf die Reichweite der Evangelisation. Der Lausanner Kongress bot einigen Missionswissenschaftlern des Fuller Theological Seminary im kalifornischen Pasadena, die seit Jahren empirisch darüber forschten, wie und warum Gemeinden weltweit wachsen (daher das auf sie zurückgehende sogenannte Church Growth Movement), eine Plattform, um ein neues Paradigma ins missionstheologische Denken einzuführen. Wenn man zuvor davon gesprochen hatte, die ganze Welt mit dem Evangelium zu erreichen, dann hatte man meist – geographisch – alle Länder der Erde gemeint. Das hätte bedeutet, dass der Missionsbefehl Jesu im Jahr 1974 beinahe erfüllt war. Donald McGavran (1897–1990) und Ralph D. Winter (1924–2009) von der School of World Mission am Fuller Seminary unterzogen diese Analyse einer grundlegenden Kritik.

Die Fuller-Professoren forderten, sich stattdessen individuellen Volksgruppen als den eigentlich wichtigen Einheiten zuzuwenden und dabei in ethnolinguistischen und kulturellen Kategorien zu denken. Weltweit, argumentierten sie, gebe es Tausende solcher peoples (später oft people groups genannt) mit zusammen über zwei Milliarden Menschen, die entweder in Gebieten ohne christliche Bevölkerung lebten oder aufgrund ihrer (sprachlichen, ethnischen, sozioökonomischen u.a.) Distanz zu den Mitgliedern der Kirchen ihrer Region keine christlichen Kontakte und damit auch keine Chance hätten, je das Evangelium zu hören. Sie seien, da die meisten Missionarinnen und Missionare unter ihresgleichen arbeiteten, vollkommen unerreicht und würden das, wenn nichts geschehe, auch bleiben. Winter bezeichnete es daher als „oberste Priorität“ (highest priority), solche unerreichten Volksgruppen zu identifizieren und die – wegen der kulturellen Distanz und vielfältigen Hindernissen – schwierige und entbehrungsreiche Aufgabe in Angriff zu nehmen, einzelne Mitglieder solcher Volksgruppen mit der christlichen Botschaft bekannt zu machen, die dann ihrerseits – wegen der kulturellen Nähe – viel leichter ihre Volksgruppe erreichen könnten.[14] Auch Billy Graham griff den neuen Ansatz auf und betonte, dass selbst Europa solche unerreichten Gruppen habe, etwa seine türkischen, algerischen und vietnamesischen Minderheiten.

Um zur praktischen Umsetzung anzuregen, hatte das Missions Advanced Research and Communication Center (MARC) von World Vision International gemeinsam mit Winter und einigen weiteren Fachleuten ein 120-seitiges Verzeichnis von über vierhundert unerreichten Volksgruppen, das „Unreached Peoples Directory“, erarbeitet und davon allen Delegierten ein Exemplar zukommen lassen. Es war eine lückenhafte und in vieler Hinsicht unfertige Datensammlung, die teilweise auf einer Fragebogenaktion beruhte, sensibilisierte aber für die Existenz ethnischer und kultureller Minderheiten, die in der Missionsarbeit bislang übersehen worden waren. Der Einleitungstext war ein Plädoyer, die Vielfalt sozialer Identitäten und Lebenswelten zu berücksichtigen und „people-blindness“ zu überwinden.

Hinter solchen Überlegungen stand eine sprunghaft gestiegene Beschäftigung evangelikaler Theologinnen und Theologen mit Fragen der Kultur, kulturellen Diversität und Kontextualisierung in der Mission. Sie war, wie der Missionswissenschaftler Friedemann Walldorf argumentiert hat, „eine evangelikale Version des Cultural Turn“:[15] Man relativierte zwar nicht in einem postmodernen Sinn den objektiven Maßstab der Heiligen Schrift, erachtete aber keine Kultur mehr für prinzipiell wertvoller als die andere und rechnete auch mit kulturell bedingten Unterschieden in der Aufnahme des Evangeliums. „You see, European cultures and languages are in no sense favorites of God“, meinte Donald McGavran in seinem Vortrag, „He speaks every language fluently. People can become good Christians in every culture.[16] Der Gedanke der unreached peoples und ihrer missionsstrategischen Konsequenzen verbreitete sich durch den Lausanner Kongress weltweit und hat die protestantische Missionstätigkeit nachhaltig verändert.[17]

Solche Missionstätigkeit war jetzt auch polyzentrisch gedacht. In der Lausanner Verpflichtung heißt es, die Epoche der Dominanz westlicher Missionen gehe zu Ende, alle sechs Kontinente seien heute Sender und Empfänger weltmissionarischen Wirkens. Wo bisher stillschweigend das Prinzip „From the West to the rest“ vorgeherrscht hatte, rechnete man nun also auch mit Missionsarbeit der Kirchen der „Dritten Welt“. Schon Billy Graham hatte in seinem Einführungsvortrag nicht nur der Moratoriums-Forderung eine Absage erteilt, sondern auch von Missionaren aus dem Globalen Süden gesprochen und sogar für deren Wirken in den Vereinigten Staaten geworben.

Tatsächlich hat sich in den letzten Jahrzehnten das Phänomen der Reverse Mission entwickelt, die Missionsarbeit der jungen, im Zuge westlicher Mission gegründeten Kirchen der Südhalbkugel in den ehemals christlichen, nun aber säkularisierten Gesellschaften des Westens.[18] Diese Entwicklung war 1974 noch nicht wirklich eingetreten, sie wurde hier aber absehbar und auch formuliert, weit früher als in der allgemeinen westlichen Öffentlichkeit, wo sie – wenn überhaupt – erst ab der Jahrtausendwende ins Bewusstsein getreten ist. Donald McGavran sprach in Lausanne von mindestens 3.400 „Latfricasian missionaries“ (ein Kunstwort für lateinamerikanische, afrikanische und asiatische Missionarinnen und Missionare) und betonte, die Zahl sei wohl noch größer und vor allem stetig am Wachsen[19] – eine Prognose, die sich im Übermaß bestätigt hat. In diesem Sinn lässt sich der Lausanner Kongress als ein Umschlagpunkt von einem auf die Dominanz des „Westens“ ausgerichteten hin zu einem stärker als „verflochten“ verstandenen Missionsverständnis deuten.

Globales und europäisches Bewusstsein

Neben den Vorträgen gab es in Lausanne Erfahrungsberichte und Lebenszeugnisse, interkulturelle Begegnungen in Kleingruppen, Gesang, Gebet und musikalische Beiträge aus verschiedenen Weltregionen. Auch der Besuch einer Billy-Graham-Evangelisation im Lausanner Olympiastadion war Teil der Konferenzerfahrung. Das hybride Veranstaltungsformat des Kongresses zwischen wissenschaftlicher Tagung und Glaubenskonferenz, zwischen Fachmesse und Think Tank, zwischen Missionsfest und Konzil ermöglichte es, ein breites Spektrum an Impulsen zu vermitteln.

Für viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurde der Kongress so zu einem Erlebnis, das ihr Leben und Wirken entscheidend prägen sollte, wie autobiographische Zeugnisse – auch aus Europa – belegen. Ein wichtiger Faktor war dabei, dass der Lausanner Kongress vielen Anwesenden das Bewusstsein vermittelte, Teil einer globalen christlichen Gemeinschaft zu sein. In der allgemeinen Öffentlichkeit wiederum, sofern sie sich für solche Fragen interessierte, verstärkte er die Vorstellung vom globalen Evangelikalismus als einer einheitlichen Größe. Wenn Soziologen heute betonen, dass das Bewusstsein, die Wahrnehmung von Globalisierung ein wichtiger Aspekt der Globalisierung selbst ist,[20] dann ist die Rolle von Lausanne auch für die Globalisierungsgeschichte nicht zu unterschätzen.

Aus europäischer Perspektive lässt sich das Lausanner Großtreffen daneben aber auch in den Prozess der Europäisierung einordnen, denn es verstärkte auch ein gesamteuropäisches Bewusstsein. Schon der vorbereitende einwöchige Europäische Kongress für Evangelisation, der im Spätsommer 1971 in Amsterdam mit über tausend Delegierten stattfand, von denen manche später in Lausanne beteiligt waren, hatte das Augenmerk europäischer Evangelikaler auf die Bedürfnisse und Nöte des eigenen Kontinents gelenkt. 1974 wurden dann wiederholt die verschiedenen Erdteile mit ihren besonderen Chancen und Herausforderungen einander gegenübergestellt. Der Tagungsband enthielt neben den Kurzberichten aus den Treffen der nationalen Delegationen auch einen „Europe Report“. „We as European evangelicals have a great burden for our continent“, heißt es dort, „We are deeply grateful to our brethren from the Third World and we want to thank you for having opened our eyes.“[21] Im Nachgang des Kongresses kamen dann auch europäische Initiativen, vor allem die Gründung der Fellowship of European Evangelical Theologians (FEET) 1976, zustande. Lausanne schloss also mit der globalen auch eine europäische Sensibilisierung, Horizonterweiterung und teilweise auch Zusammenarbeit mit ein.

Die Lausanner Bewegung – weltweit und in Europa

Anders als von Graham beabsichtigt, initiierte der Lausanner Kongress eine Bewegung. Die große Mehrzahl der Delegierten äußerte den Wunsch einer Fortführung. So wurde 1975 das Internationale Lausanner Komitee ins Leben gerufen und wurden weltweite Arbeitskreise geschaffen. Seitdem haben zahlreiche Tagungen, Fachtreffen und Kongresse auf nationaler, kontinentaler und Weltebene stattgefunden. „Lausanne“ wurde ein Dach, unter dem sich evangelikale Fachleute und Verantwortliche trafen, um über theologische, ethische, kulturelle, humanitäre und gesellschaftliche Fragen christlicher Mission nachzudenken, wobei der Begriff „Mission“ weit gefasst war. Oft wurden dabei Ergebnistexte formuliert, Statements verabschiedet und Papers publiziert.[22]

Die größten Lausanner Konferenzen, darunter eine „Consultation on World Evangelization“ (1980) und ein „Forum for World Evangelization“ (2004) im thailändischen Pattaya, vor allem aber „Lausanne II“ (1989) in Manila und „Lausanne III“ (2010) in Kapstadt mit jeweils etwa 4000 Delegierten, fanden seither außerhalb Europas statt. Das hatte insofern symbolische Bedeutung, als der Globale Süden auch in der Zusammensetzung der Großtreffen weiter an Bedeutung gewann: 2010 in Kapstadt stammten nach Veranstalterangaben nur noch 32 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der westlichen Welt. Damit verkörpert die Lausanner Bewegung die Schwerpunktverlagerung der Weltchristenheit von der Nord- in die Südhalbkugel, wie sie etwa die Historiker Andrew F. Walls, Philip Jenkins und Lamin Sanneh beschrieben haben.[23] In dieser wie auch in inhaltlicher Hinsicht bildeten die Lausanner Treffen die Entwicklung des weltweiten Evangelikalismus ab, der heute etwa ein Viertel der Weltchristenheit und vielleicht 600 Millionen Menschen ausmacht; die Zahlen schwanken stark und hängen auch davon ab, in welchem Umfang man die Pfingstbewegung, die in Lausanne immer präsent, aber nie federführend war, dazurechnet. Lausanne wurde eine Metastruktur, ein Netzwerk christlicher Netzwerke und zugleich eine Impulsgeberin in einer sich globalisierenden Welt.

Europäische Evangelikale blieben gleichwohl ein wichtiger Bestandteil dieses Netzwerkes. Das zeigte sich auf verschiedenen Ebenen. So bildete sich ein europäischer Zweig des Lausanner Komitees, der 1988 unter Leitung des württembergischen Pfarrers und pietistischen Kirchenpolitikers Rolf Scheffbuch (1931–2012) im Raum Stuttgart eine Konferenz zur „Neu-Evangelisierung Europas“ abhielt. Als ein Jahr später – dank Glasnost und Perestroika – die etwa hundertköpfige sowjetische Delegation zum Zweiten Lausanner Kongress in Manila anreisen durfte, erlebten viele europäische Delegierte den Kontakt mit Glaubensgeschwistern aus dem vormals weitgehend verschlossenen Ostblock als eine nachhaltige Erweiterung ihrer Europa-Perspektive. Nun wurde auch Osteuropa stärker in das weltweite evangelikale Netzwerk einbezogen. Europäische Verbindungen konnten auch in anderer Form mit Lausanner Beteiligung entstehen. Ein Beispiel dafür ist die 1993 mit Billy Graham, ab 1995 mehrmals mit dem Theologen und CVJM-Generalsekretär Ulrich Parzany (*1941) veranstaltete mehrtägige Großevangelisation ProChrist, die jeweils per Satellit von ihrem deutschen Austragungsort aus in etwa tausend Veranstaltungsorte in ganz Europa übertragen (und dort mit einem individuellen Rahmenprogramm versehen) wurde. Sie ging auf eine Initiative des deutschen Zweiges der Lausanner Bewegung zurück.

Die Entwicklung des Lausanner Netzwerkes gelang nicht ohne Konflikte, wie die Abspaltung der International Fellowship of Evangelical Mission Theologians in den frühen achtziger Jahren belegt. Hintergrund war der Eindruck mancher sozial engagierter Kräfte vor allem aus dem Globalen Süden, bei der Lausanner Konsultation 1980 in Pattaya nicht hinreichend mit ihren Anliegen berücksichtigt worden zu sein. Nicht spannungsfrei war auch die Art und Weise, wie die wirtschaftliche, kulturelle und politische Führungsmacht USA, von der auch in der evangelikalen Bewegung die meisten Initiativen ausgingen und die ja auch Lausanne ins Leben gerufen hatte, von den anderen wahrgenommen wurde. Die gelegentlich aufbrechende Furcht vor einer Amerikanisierung machte es für die Lausanner Bewegung zu einer Existenzfrage, immer wieder die Ebenbürtigkeit der Kontinente und ihrer Perspektiven zu betonen.

Lausanne brachte aber auch einen Impetus zu Freundschaft, Versöhnung und konfessions- und kulturübergreifender Zusammenarbeit, den „Spirit of Lausanne“, den Billy Graham 1974 in seinem Einführungsvortrag beschworen hatte und an den später immer wieder erinnert wurde. Der ugandische Bischof Festo Kivengere (1919–1988), Repräsentant der ostafrikanischen Erweckungsbewegung und eine prägende Gestalt des Lausanner Kongresses, brachte ihn für viele unvergesslich in seinem Lebensbericht und seiner Abschlusspredigt über das Kreuz zum Ausdruck – auch wenn er süffisant vom Miteinander der schwarzen und der pinken Menschen sprach: „the black and the pink“.[24] Er erntete aber freundliches Gelächter auf allen Seiten.



[1] Essay zur Quelle: Rede Billy Grahams auf dem Internationalen Kongress für Weltevangelisation (1974), „Why Lausanne?“, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2021, https://www.europa.clio-online.de/quellen/id/q63-60869.

[2] So die Einschätzung mehrerer Mitarbeiter Grahams, vgl. William Martin, A Prophet with Honor: The Billy Graham Story, Grand Rapids 22018, S. 451.

[3] Billy Graham, Why Lausanne?, in: J. D. Douglas (Hg.), Let the Earth Hear His Voice: International Congress on World Evangelization, Lausanne, Switzerland. Official Reference Volume: Papers and Responses, Minneapolis 1975, S. 22–36. Im Folgenden stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders vermerkt, aus den hier abgedruckten Quellenausschnitten.

[4] Vgl. Martin Greschat, Kirchliche Zeitgeschichte. Versuch einer Orientierung, Leipzig 2005, S. 44.

[5] Vgl. S. Douglas Birdsall, Conflict and Collaboration: A Narrative History and Analysis of the Interface between the Lausanne Committee for World Evangelization and the World Evangelical Fellowship, the International Fellowship of Evangelical Mission Theologians, and the AD 2000 Movement, Middlesex University (Oxford Centre for Mission Studies), Ph.D., 2012, S. 3.

[6] David Bebbington, Evangelicalism in Modern Britain: A History from the 1730s to the 1980s, Grand Rapids 1989, S. 1–19.

[7] Waldron Scott, The Task before Us, in: J. D. Douglas (Hg.), Earth, S. 18–21, hier S. 19.

[8] René Padilla, Evangelism and the World, in: J. D. Douglas (Hg.), Earth, S. 116–146; Samuel Escobar, Evangelism and Man’s Search for Freedom, Justice and Fulfillment, in: ebd., S. 303–326.

[9] Ebd., S. 125f., 136f., 140.

[10] The Lausanne Covenant, in: J. D. Douglas (Hg.), Earth, S. 3–9.

[11] Ebd., S. 7.

[12] Ebd.

[13] Peter Beyerhaus, Lausanne zwischen Berlin und Genf, in: ders.; Walter Künneth (Hg.), Reich Gottes oder Weltgemeinschaft? Die Berliner Ökumene-Erklärung zur utopischen Vision des Weltkirchenrates, Bad Liebenzell 1975, S. 294–313, hier S. 296 f., 300 f.

[14] Ralph D. Winter, The Highest Priority: Cross-Cultural Evangelism, in: J. D. Douglas (Hg.), Earth, S. 213–241.

[15] Friedemann Walldorf, Der Cultural Turn und der Aufbruch der evangelikalen Missionswissenschaft in den USA in den 1960er bis 1980er Jahren: historische und theologische Perspektiven, in: European Journal of Theology 25 (2016), S. 18–32, hier S. 24.

[16] Donald McGavran, The Dimensions of World Evangelization, in: J. D. Douglas (Hg.), Earth, S. 94–115, hier S. 110.

[17] David M. Howard, What I Saw God Do: Reflection on a Lifetime in Missions, s.l. 2014, S. 145–148 z. B. spricht als international einflussreicher Missionsleiter in den 1950er- bis 1990er-Jahren rückblickend von einem „sudden shift of focus“ und einem „paradigm shift of monumental importance“.

[18] Vgl. Kevin Ward, North and South: Reflections on World Christian Relations 1910 to 2010, Particularly between Africa and Europe, in: Katharina Kunter; Jens Holger Schjørring (Hg.), Europäisches und Globales Christentum / European and Global Christianity. Herausforderungen und Transformationen im 20. Jahrhundert / Challenges and Transformations in the 20th Century (Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte; Bd. 54), Göttingen; Oakville 2011, S. 294–310, hier S. 306 f.

[19] D. McGavran, Dimensions, S. 97, 110.

[20] Vgl. Boike Rehbein; Hermann Schwengel, Theorien der Globalisierung, Konstanz 22012, S. 11, 132.

[21] [Werner Bürklin,] Europe Report, in: J. D. Douglas (Hg.), Earth, S. 1330–1331.

[22] Manche davon finden sich in den über sechzig online verfügbaren „Lausanne Occasional Papers“ (LOPs); in: Lausanne Movement, URL: https://www.lausanne.org/category/content/lop (13.04.2021). Besonders bedeutsam waren das „Manila Manifesto“ (1989) und das „Cape Town Commitment“ (2011).

[23] Vgl. z. B. Andrew F. Walls, The Missionary Movement in Christian History: Studies in the Transmission of Faith, New York 1996; Philip Jenkins, The Next Christendom: The Coming of Global Christianity, Oxford 32011; Lamin Sanneh, Disciples of All Nations: Pillars of World Christianity, Oxford 2008.

[24] Festo Kivengere, The Work of the Holy Spirit in Evangelization, Individually and through the Church, in: J. D. Douglas (Hg.), Earth, S. 277–278, hier S. 277.



Literaturhinweise:

  • S. Douglas Birdsall, Conflict and Collaboration: A Narrative History and Analysis of the Interface between the Lausanne Committee for World Evangelization and the World Evangelical Fellowship, the International Fellowship of Evangelical Mission Theologians, and the AD 2000 Movement, Middlesex University (Oxford Centre for Mission Studies), Ph.D., 2012.
  • Margunn Serigstad Dahle; Lars Dahle; Knut Jørgensen (Hg.), The Lausanne Movement: A Range of Perspectives (Regnum Edinburgh Centenary Series; 22), Oxford 2014.
  • Klas Ingvar Lundström, Gospel and Culture in the World Council of Churches and the Lausanne Movement with Particular Focus on the Period 1973–1996, Uppsala 2006.
  • Melani McAlister, The Kingdom of God Has No Borders: A Global History of American Evangelicals, New York 2018.
  • Brian Stanley, The Global Diffusion of Evangelicalism: The Age of Billy Graham and John Stott (History of Evangelicalism Series; 5), Nottingham 2013.
  • David R. Swartz, Facing West: American Evangelicals in an Age of World Christianity, New York 2020.

Rede Billy Grahams auf dem Internationalen Kongress für Weltevangelisation (1974), „Why Lausanne?“[1]

The Planning Committee has invited participants from every possible nation and nearly every evangelical denomination and para-church organization in the world. Never before have so many representatives of so many evangelical Christian churches in so many nations and from so many tribal and language groups gathered to worship, pray, and plan together for world evangelization.

Assembled here tonight are more responsible leaders, from more growing national churches of Asia, Africa, and Latin America, than have ever met before. Here in Lausanne tonight are participants from areas where the Gospel had not been preached until recent decades.

This Lausanne Congress is also significant because representatives are here from older churches that have witnessed and evangelized for centuries, and younger churches in Africa, Asia, and Latin America who have taken up the torch and are sending missionaries to other nations as well. In recent years, teams of Christians from Indonesia have gone to Pakistan. Koreans are sending evangelists to Thailand. Japanese are going to Indonesia, Taiwanese are going to Africa, and Africans are going to the United States! And [I can tell you that] we [in America] need [some African missionaries] – and [we] welcome them! It is a new day for world evangelization […] Therefore, I have come to Lausanne with great hope, even as you have.

Since we met in Berlin eight years ago, tremendous developments have been taking place in the religious world. We are all aware of the startling changes in the Roman Catholic world. […] Then there has been the phenomenal development of the Charismatic movement [that has swept much of the world in recent days. Then there has been the Jesus Movement among young people in many countries.] […]

In 1945, Christians in Africa numbered about twenty million. Today they number at least 70 million. Africa, south of the Sahara, could become substantially Christian by the end of the century, in spite of many dangers, obstacles, and even persecutions in some areas. […] In both Eastern and Western Europe there are thousands of dedicated, committed believers. Unfortunately, the overwhelming majority of the people of Europe never darken the doors of a church. A Danish clergyman recently said, ‘Europe is one vast mission field.’ But there are encouraging signs almost everywhere that God is also at work here. […][2]

In the West we are witnessing societies in trauma, shaken by war, scandals, inflation, surfeited and bored with materialism, turned off by lifeless religion. […]

We know the whole world will not be converted to Christ—the whole world is not going to become permanently peaceful, but our Lord did promise, “And this Gospel of the kingdom shall be preached in all the world for a witness unto all nations; and then shall the end come.”[3] […]

This Congress is the most recent link in a long chain of evangelism conferences stretching back into the last century, which Latourette[4] called “The great century of missionary advance.” At that time, sparked by thousands of young people, the Student Volunteer Movement set as its goal, “The evangelization of the world in this generation.” It is one of the tragedies of the missionary movement that today, over 60 years after Edinburgh[5], many Christians not only doubt that the goal is possible but even question whether it is desirable. […]

Even before Edinburgh, theological changes were subtly infiltrating Christian youth movements causing some to weaken their ties to [the] orthodox faith [as expressed in the Nicene Creed or the Apostles’ Creed]. The authority of evangelism began to shift from the Scriptures to the organized church. They focused attention on the materialistic salvation of the community rather than the individual. This became known as the “social Gospel.” Emphasis turned to man “in this world,” rather than “in this and the next world.” It is my hope and prayer that Lausanne 1974 will take us back “theologically,” though not politically or sociologically, to the visions and concepts of those great conferences in the early part of this century [that grew largely out of the ministry of Dwight L. Moody[6]]. […]

Whatever our cultural, racial or linguistic background, we are brothers and sisters in Christ. Certainly we have some doctrinal differences. We have cultural and political differences, but we are one in the Spirit. We shout with one voice, “Jesus alone saves.” […]

Historically, evangelicals have changed society, influencing men everywhere in the battle against slavery and in the quest for social justice. We should be proud of this tradition. […] We must confess, in all honesty, that we have not always been true to our tradition. […]

It seems to me that we are always in danger of falling into at least three or four errors on social action.

The first is: to deny that we have any social responsibility as Christians. […] Scripture calls us time and again to do all in our power to alleviate human suffering and to correct injustice.

The second error is to let social concern become our all consuming mission. Jesus said, “What shall it profit a man if he gain the whole world and lose his own soul?”[7] What if we developed a materialistic Utopia (which sinful man never will) in which every inhabitant of the planet would be fed, clothed, housed and cared for in every way? Man still would not find the “purpose,” the “happiness,” the “peace,” and the “joy” that his heart craves for, apart from God. […]

A third error is to identify the Gospel with any one particular political program or culture. [I confess tonight:] This has been my own danger. When I go [out] to preach the Gospel [now], I go as an ambassador for the Kingdom of God—not America. To tie the Gospel to any political system, secular program, or society is dangerous and will only serve to divert the Gospel. [(applause)] […]

The whole Church must be mobilized to bring the whole Gospel to the whole world. […] In the last quarter of the twentieth century, the unevangelized world consists of two main blocs of people.

First, are the superficially Christian populations. If you ask them their religion, they more than likely reply, “Christian,” but they do not personally know Christ.

Second, the “unevangelized world” consists of large “unreached” populations which can be found in almost every country. For example, the Turks, Algerians, and the Vietnamese in Europe constitute large unreached populations in the heart of Europe itself. […] This Congress will be shocked to learn of the magnitude of the unreached populations on every continent. […] While some people can be evangelized by their neighbors, others and greater multitudes are cut off from their Christian neighbors by deep linguistic, political, and cultural chasms. […]

Churches of every land, therefore must deliberately send out evangelists and missionaries to master other languages, learn other cultures, live in them perhaps for life, and thus evangelize these multitudes. Thus, we should reject the idea of a moratorium on sending missionaries. [(applause)]

At the first meeting of the Executive Planning Committee for the Congress when the name was debated, it was decided to call it “The International Congress on World Evangelization,” not just evangelism. Many sincere Christians around the world are concerned for evangelism. They are diligent at evangelizing in their own communities and even in their own countries. But they do not see God’s big picture of “world need” and the “global responsibility” that he has put upon the church in his Word. The Christians in Nigeria are not just to evangelize Nigeria, nor the Christians in Peru just the people of Peru. God’s heartbeat is for the world. […]

Finally, what do we hope will be accomplished at this Congress? […]

I would like to see the Congress frame a biblical declaration on evangelism. The time has come again for the evangelical world to speak with a strong clear voice as to the biblical definition of evangelism. I would challenge the World Council of Churches Assembly next year planned for Djakarta[8] to study [such a statement] carefully and prayerfully with the idea of adopting more evangelical concepts of evangelism and missions. [(applause)] […]

I hope that a new “koinonia” or fellowship among evangelicals of all persuasions will be developed throughout the world. I hope there will develop here what I like to call “the spirit of Lausanne.” The time has come for evangelicals to move forward, to encourage, challenge and bring hope to the World Church.

Evangelicals are rapidly gaining recognition and momentum! From this Congress can come a new love, a new fellowship, a new slogan, and a new song, but most of all, a new commitment. I believe the Lord is saying to us, “Let’s go forward together in a worldwide fellowship in evangelism, in missions, in Bible translation, in literature distribution, in meeting world social needs, in evangelical theological training, etc.” […]

Why Lausanne?

That the earth may hear his voice!


[1] Graham, Billy, Why Lausanne?, in: J.D. Douglas (Hg.), Let the Earth Hear His Voice: International Congress on World Evangelization, Lausanne, Switzerland. Official Reference Volume: Papers and Responses, Minneapolis 1975, S. 22–36, hier S. 22–26, 28–34, 36. Die schriftliche Fassung weicht geringfügig vom Wortlaut der ursprünglichen Rede ab; Zitate in eckigen Klammern beziehen sich auf die Redeversion (eigene Transkription der Audioaufnahme); Quelle zum Essay: Jan Carsten Schnurr, Globales Christentum im Herzen Europas. Der Internationale Kongress für Weltevangelisation 1974 in Lausanne, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2021, https://www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-29056.

[2] Dieser Absatz findet sich nur in der Druckversion des Vortrags.

[3] Matthäus 24,14.

[4] Kenneth Scott Latourette (1884–1968), amerikanischer Missionshistoriker.

[5] Weltmissionskonferenz 1910 in Edinburgh, Ausgangspunkt der modernen ökumenischen Bewegung.

[6] Dwight Lyman Moody (1837–1899), international bedeutender amerikanischer Erweckungsprediger.

[7] Markus 8,36.

[8] Die fünfte Vollversammlung des Weltkirchenrates fand 1975, anders als ursprünglich geplant, in Nairobi statt.


Für das Themenportal verfasst von

Jan Carsten Schnurr

( 2021 )
Zitation
Jan Carsten Schnurr, Globales Christentum im Herzen Europas. Der Internationale Kongress für Weltevangelisation 1974 in Lausanne, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2021, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-29056>.
Navigation