Themenschwerpunkt
Sind die Frauen die Verliererinnen der Corona-Krise? Überlegungen aus der Frauen- und Geschlechtergeschichte [1]
Von Martina Steer
Vor einigen Monaten löste die Corona-Pandemie eine veritable Männerkrise aus. Der Abbruch des Spielbetriebs in den großen europäischen Fußballligen führte zu Entsetzen bei den Fans. Die Sorge, wer die Millionenlöhne der Spitzenspieler zahlen sollte, wenn Einnahmen aus Medienrechten wegfielen, trieb so manchem Vereinsmanager Schweißperlen auf die Stirn. Doch dank freundlicher Unterstützung aus der Politik konnte schon nach zwei Monaten in der deutschen Bundesliga und danach in den anderen Ligen die Saison zu Ende gespielt werden. Folgt man Pierre Bourdieu, R. W. Connell und George Mosse, die herausarbeiteten, wie sich in Sport, Politik, Wirtschaft und Militär Männlichkeiten herausbilden und reproduzieren, kann also konstatiert werden, dass zumindest diese durch die Corona-Pandemie ausgelöste Krise der Männlichkeit vorläufig als überwunden gelten kann.
Weniger positiv sind die Aussichten für die Männer im Gesundheitsbereich. Sie sterben deutlich häufiger an Covid-19 als Frauen. Auch verläuft die Krankheit bei ihnen im Durchschnitt wesentlich schwerer als beim „schwachen Geschlecht“. Ob der ungesunde Lebenswandel mancher männlicher Fußballfans dazu beiträgt, sei dahingestellt. Inzwischen ist jedoch klar geworden, dass die Corona-Pandemie nicht nur eine globale Gesundheitskrise ist, sondern darüber hinaus in eine globale Rezession oder sogar Depression übergegangen ist. Man braucht keinerlei hellseherischen Fähigkeiten, ein Blick in die Vergangenheit genügt, um zu erkennen, dass diese Wirtschaftskrise, so wie alle anderen davor, Frauen stärker als Männer treffen und langfristige Auswirkungen auf die Geschlechtergerechtigkeit haben wird.[2]
Geschlechtergerechtigkeit – heute verstehen wir darunter die Gleichstellung von Frauen, Männern und gender-diversen Menschen – war und ist eine der zentralen Agenden der Europäischen Union, wenn auch eine wenig beachtete. Aus der Perspektive der historischen Europaforschung stellt sich daher die Frage, welche Herausforderungen die Corona-Pandemie für die Gleichstellungspolitik der Europäischen Union mit sich bringt. Der folgende Forumsbeitrag skizziert die Geschichte der Gleichstellungspolitik der EU und zuvor der Europäischen Gemeinschaft (EG), sieht sich an, wie die in Brüssel entworfenen Prinzipien zur Geschlechtergerechtigkeit in der Wirtschaftskrise von 2008 zur Anwendung kamen, und beleuchtet damit ein von der Europageschichtsschreibung und vor allem der Geschichte der europäischen Integration vernachlässigtes Feld.
Doch bleiben wir zunächst noch in der Gegenwart, um uns die geschlechterspezifischen Auswirkungen der derzeitigen Wirtschaftskrise vor Augen zu führen. Anders als in den „konventionellen“ Wirtschaftskrisen des 20. und frühen 21. Jahrhunderts, in denen zunächst Männer stärker vom Abschwung und Verlust des Arbeitsplatzes betroffen waren als Frauen, da sie in unmittelbar konjunkturabhängigen Sektoren wie Baugewerbe und Industrie arbeiteten, haben im Gegensatz dazu die Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie wie lockdown, social distancing und das Schließen nationaler Grenzen sofort einschneidende Konsequenzen für die Situation vieler Frauen in Europa. Dieses Mal sind es genau die Sektoren mit hohem weiblichem Beschäftigungsanteil – Pflege, Gastgewerbe und andere Dienstleistungen –, die erst die Restriktionen und jetzt die Rezession unmittelbar und besonders stark zu spüren bekommen. Dabei trifft die Abschaffung der Freizügigkeit in Europa und damit die Unterbrechung der europäischen Betreuungskette hunderttausende Frauen in Osteuropa wirtschaftlich besonders hart. Ohnehin meist nur schlecht im Westen und Norden Europas bezahlt oder sogar schwarz beschäftigt, fuhren sie zu Beginn des lockdowns in ihre Herkunftsländer, die Slowakei, Rumänien, Polen, Bulgarien, Ukraine oder Moldawien, zurück. Ohne Aussicht auf Hilfsleistungen durch nationale Notprogramme ihrer Beschäftigungsländer waren sie wochenlang komplett von ihren Verdienstmöglichkeiten abgeschnitten. Nur langsam können sie jetzt wieder an ihre Arbeitsplätze zurückkehren. Auf die Volkswirtschaften in Osteuropa wirkt sich der Ausfall der von Frauen erwirtschafteten Transferleistungen ebenfalls massiv aus.
Die Gesellschaften und Familien in den wohlhabenderen europäischen Ländern mussten realisieren, wie abhängig sie vom Funktionieren dieser transnationalen Beschäftigungsketten sind.[3] Außerdem zeigte sich, wie wenig sich offensichtlich in den letzten Jahren an der geschlechterspezifischen Verteilung der sogenannten Care-Arbeit geändert hat. Trotz Vätermonaten und anderer Anreize, um die Männer in die Familien zu bringen und die Frauen im Berufsleben zu halten, leisten Frauen in Europa nach wie vor mehr als doppelt so viele Stunden unbezahlte Care-Arbeit (täglich ungefähr vier Stunden) als Männer, so eine Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).[4] Als Kindergärten und Schulen schlossen, waren es vor allem die Mütter, die home schooling und Kinderbetreuung übernahmen. Die ohnehin negativen Konsequenzen des Mütterdaseins für Einkommen, Karrierechancen und Alterssicherung (die Wissenschaft nennt das gender lifetime earnings gap; bereits bei einem Kind müssen Frauen Einbußen von 40 Prozent im Vergleich zu kinderlosen Frauen hinnehmen) verschärft die Corona-Pandemie noch. Dass dies selbst der nicht unbedingt an gender mainstreming interessierten Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine Überschrift wert war, verweist auf die Dringlichkeit des Problems.[5]
Auch der Anstieg der häuslichen Gewalt gegen Frauen – die Vereinten Nationen sprechen von einer „shadow pandemic“ – muss als geschlechterspezifischer Aspekt der Corona-bedingten Wirtschaftskrise berücksichtigt werden. Nicht etwa wegen der in vielen Familien angespannten finanziellen Situation, vielmehr sind neben den erheblichen emotionalen und physischen Schäden für die betroffenen Frauen und Familien, die (volks-)wirtschaftlichen Kosten häuslicher Gewalt zu berücksichtigen. Die sind erschreckend hoch; gemäß der ersten und bisher einzigen europaweiten Studie über die finanzielle Seite häuslicher Gewalt gegen Frauen in Europa, die das European Institute for Gender Equality der EU (EIGE) 2014 anlässlich des Inkrafttretens der sogenannten Istanbul-Konvention veröffentlichte, des „Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“, verursacht intimate partner violence jährliche Kosten von fast 109 Milliarden Euro. In den einzelnen Mitgliedsländern der EU ergab dies beispielsweise für Frankreich 14 Milliarden Euro pro Jahr, für Deutschland 17 Milliarden Euro und für Polen acht Milliarden Euro. Der Großteil der Kosten, 87 Prozent, entfiel auf die Behandlung der durch die Gewalt verursachten körperlichen und seelischen Schäden bei Frauen, Sozialleistungen für die Opfer sowie Polizei- und Gerichtskosten. Fast zwölf Prozent machte die entgangene Produktivität betroffener Frauen aus; ein bescheidenes Prozent verteilte sich auf die Prävention von häuslicher Gewalt und spezieller Schutzeinrichtungen wie Frauenhäuser, Notrufnummern und Beratungsstellen. Seit dem Beginn des lockdowns, so vermeldete das EIGE, sei die Zahl der gemeldeten Fälle von häuslicher Gewalt gegen Frauen stark angestiegen, beispielsweise in Frankreich und Zypern um mehr als 30 Prozent, in Litauen, Deutschland und anderen Staaten der EU um mehr als 20 Prozent.[6] Die Kosten für häusliche Gewalt in Zeiten des lockdowns belaufen sich europaweit auf etwa 10,9 Milliarden Euro – pro Monat.
Angesichts dieser Zahlen, die selbst die Verluste der klagenden Fußballindustrie in den Schatten stellt, täten die Politiker/innen und Entscheidungsträger/innen der EU gut daran, auch auf die Bedürfnisse von Frauen bei den (in den Mitgliedsstaaten) immer noch laufenden Verhandlungen um den Rekordhaushalt und das Notfallprogramm über 750 Milliarden Euro einzugehen. Wer die europäischen Institutionen oder sich selbst dabei ertappt, vor den „Bedürfnissen“ innerlich ein „speziell“ eingefügt zu haben, mag sich vor Augen führen, dass 51 Prozent der Bevölkerung der EU oder anders ausgedrückt 229 Millionen Menschen in Europa Frauen sind.
In der Tat erkennt die EU-Kommission in ihrer Ankündigung des Notfallprogramms an, dass Frauen von der Corona-Pandemie aus den obengenannten Gründen besonders betroffen sind, und verspricht, alles dafür zu tun, den gender pay gap zu schließen und entschlossen gegen häusliche Gewalt vorzugehen.[7] Das klingt erst einmal gut. Doch das ambivalente Urteil der historischen Europaforschung über die EU als eher mittelmäßige Krisenmanagerin macht misstrauisch, selbst wenn mit Ursula von der Leyen heute eine Frau an der Spitze der Kommission steht. Zwar sei die EU bisher aus jeder Krise, egal ob Kalter Krieg, das Ausscheiden des algerischen Departements und Grönlands aus der EU oder Wirtschaftskrisen, gestärkt hervorgegangen, beruhigt uns Kiran Patel in seinem Buch über das „Projekt Europa“.[8] Allerdings seien die Leistungen, welche sich die EU-Kommission selbstbewusst auf ihre Fahnen schreibe, weniger einem erfolgreichen europäischen Krisenmanagement zu verdanken, sondern historischen Konstellationen und anderen internationalen Akteuren. Was also haben die EU und ihre Vorgängerorganisationen tatsächlich bisher in Hinblick auf Geschlechtergerechtigkeit geleistet? Wie sehr haben sie bei der Bewältigung früherer Wirtschaftskrisen auf die geschlechterspezifischen Auswirkungen ihrer Lösungsstrategien geachtet?
Die Geschichtsschreibung zur europäischen Zeitgeschichte und zur europäischen Integration gibt dazu nicht viel her. Wer schon einmal eine Lehrveranstaltung zu diesem Thema gehalten hat, wird dies bestätigen können. Zwar gehört es zum guten Ton der europäischen Großerzählung, mit dem Hinweis, dass Europa eine Frau gewesen sei, aufzumachen, doch nur, um nach dieser Feststellung mit einer exklusiv männlichen politischen, wirtschaftlichen, sozialen oder intellektuellen Geschichte Europas fortzufahren.[9] Es ist das Verdienst von Politologinnen und Wirtschaftswissenschaftlerinnen, geschlechtsspezifische Aspekte der europäischen Integration und der EU-Krisenpolitik untersucht zu haben.[10] Erwartungsgemäß stehen die politischen Akteur/innen der Gleichstellungspolitik und das Interagieren von europäischer und nationaler Gesetzgebung und Verwaltung im Vordergrund ihrer Analysen, mit all den Vor- und Nachteilen der ahistorischen Betrachtungsweise. Die Geschlechtergeschichte schweigt sich zum Thema Geschlecht und Krise in Europa weitgehend aus.[11] Die Diskriminierung und Benachteiligung von Frauen in vielen Bereichen ist jedoch auch mit dem Wandel von der sozialhistorischen Frauen- zur kulturwissenschaftlichen Geschlechtergeschichte noch lange nicht verschwunden, vielmehr ist sie etwas aus dem Blick geraten und sollte daher wieder intensiver erforscht werden.
Doch wenden wir uns von der Geschichtsschreibung zur Geschichte: Die Gleichstellung von Frau und Mann stand in der Anfangsphase der europäischen Integration nach 1945 nicht auf der Agenda der Politiker. Vielmehr schlich sie sich als Gleichbehandlung über die Hintertür der Wirtschaftspolitik auf die Tagesordnung, als die Gründerstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) versuchten, Wettbewerbsgleichheit herzustellen. Damals schrieb nur Frankreich, basierend auf der Präambel der Verfassung von 1946 und einem Regierungserlass vom 30. Juli 1946, die gleiche Entlohnung von Frauen und Männern gesetzlich vor. Daher fürchtete die französische Regierung prompt, diese Regelung könnte ihre Wirtschaft im europaweiten Wettbewerb benachteiligen und forderte erfolgreich, die gleiche Entlohnung von Frauen und Männern auch auf europäischer Ebene festzuschreiben. 1957 verpflichteten sich die unterzeichnenden Staaten in Artikel 119 der Römischen Verträge, dass sie “den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit anwenden und in der Folge beibehalten.”[12] Angesichts des nach wie vor existierenden gender pay gaps mag Artikel 119 als zahnloser Tiger erscheinen. Der Europäische Gerichtshof musste immer wieder seine Einhaltung anmahnen, daran änderte auch die Richtlinie über gleiches Entgelt 75/117/EWG nichts, welche die Mitgliedsstaaten dazu verpflichtete, europäisches in nationales Recht umzusetzen.[13] Dennoch diente Artikel 119 als Initialzündung für nationale Kampagnen zur Lohngerechtigkeit, die etwa in Großbritannien 1985 in die „Equal Value Amendment Regulation“ mündeten – allerdings auch hier erst, nachdem die Europäische Kommission, in der sich seit 1976 das „Büro für Probleme der Frauenbeschäftigung“ mit dieser Thematik beschäftigt, beim Europäischen Gerichtshof gegen das Vereinigte Königreich erfolgreich auf die Umsetzung geklagt hatte.[14]
Neben der Kommission als Exekutive wurde auch das Europäische Parlament kurz nach seiner ersten Direktwahl 1979 unter seiner Präsidentin Simone Veil im Bereich der Geschlechterpolitik aktiv und setzte auf die Anregung weiblicher Abgeordneter hin den „Ad-hoc-Ausschuss für die Rechte der Frau“ ein, einen von 20 Parlamentsausschüssen.[15] Seine Aufgabe war es, in Zusammenarbeit mit der Kommission Vorschläge für die Verbesserung der Situation der Frauen in Europa in allen Lebensbereichen zu erarbeiten. Der erste Expertenbericht, den der Ausschuss in Auftrag gegeben hatte, der „Maij-Wegge-Bericht“, benannt nach seiner Autorin, der niederländischen Europapolitikerin Hanja Maij-Wegge, gab 1981 den Anstoß für die erste Resolution des Europäischen Parlaments, die sich mit Gleichstellung befasste.[16] Diese forderte die Kommission dazu auf, umfassende Maßnahmen zur Verbesserung der Situation der Frauen in der Arbeitswelt zu ergreifen, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sicherzustellen und den Frauenanteil in den Institutionen der EG und in anderen öffentlichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Organen zu erhöhen. Auch die speziellen Bedürfnisse von Migrantinnen und Frauen in Entwicklungsländern sollten die Maßnahmen der Kommission berücksichtigen, so die Resolution. Darüber hinaus betonte sie den Schutz der Gesundheit von Frauen und bestand auf das Recht auf frei gewählte Mutterschaft, sprich der Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs. Gerade letzteres Thema diskutierten die Parlamentarierinnen und Parlamentarier kontrovers. Der Ausschuss hatte diese Vorbehalte gegen Frauenrechte in verschiedenen europäischen Ländern und politischen Milieus antizipiert und daher in der Resolution festgeschrieben, dass es nicht im Sinne der europäischen Frauenpolitik sei, die Maßnahmen der „am höchsten entwickelten und am weitesten fortgeschrittenen Länder“ Gesellschaften mit „unterschiedlichen sozialen“ Traditionen aufzuoktroyieren. Vielmehr sollten die Mitgliedsstaaten dazu ermutigt werden, für die Frauen Wahlmöglichkeiten zu schaffen, wie sie den Männern zur Verfügung stünden. Dennoch stimmten nur 173 Mitglieder des Parlaments mit Ja; 101 mit Nein, 24 enthielten sich.
Angesichts dieser Hindernisse, Frauenrechte durchzusetzen, suchte der Ausschuss in den folgenden Jahren den Kontakt mit nationalen Frauenorganisationen, um seinen Anliegen Gehör zu verschaffen und die Umsetzung der europäischen Beschlüsse in den Mitgliedsstaaten zu forcieren. Er erwarb immer mehr Kompetenzen und Macht und konnte eine Reihe von Richtlinien vorantreiben, um die Situation der Frauen im Berufsleben zu verbessern. Parallel dazu initiierte das „Büro für Probleme der Frauenbeschäftigung“ (später: „Referat für Chancengleichheit“) der Kommission seit 1982 vier Aktionsprogramme zur Förderung der Chancengleichheit, über dessen Umsetzung in den Mitgliedsstaaten der Parlamentsausschuss wachte.
Der Beitritt Finnlands und Schwedens 1995 verlieh der Frauenförderpolitik der Europäischen Union neuen Aufschwung. In beiden skandinavischen Ländern war die Gleichberechtigung von Frauen und Männern wesentlich weiter fortgeschritten als im Rest Europas, nicht zu Unrecht fürchteten die nordischen Neumitglieder Rückschritte durch die europäische Integration (das ebenfalls 1995 in die EU aufgenommene Österreichs dagegen nicht, es setzte auch keine frauenpolitischen Initiativen). Umso größer war die Motivation, vor allem die schwedische Gleichstellungspolitik als europäisches Modell zu etablieren. Der Beitritt Finnlands und Schwedens hatte unmittelbare Folgen für die Beteiligung von Frauen an Entscheidungsprozessen innerhalb der EU. Der Frauenanteil im Europäischen Parlament stieg von 19,9 Prozent auf 27,4 Prozent und in der Kommission von sechs auf 25 Prozent. Unter den neuen Kommissarinnen war die ehemalige schwedische Ministerin für Gleichstellung Anita Gradin, die das Ressort für „Einwanderungsfragen, Inneres und Justiz, Beziehungen zum Bürgerbeauftragten, Finanzkontrolle und Betrugsbekämpfung“ übernahm.
Nicht zuletzt diesem Impetus durch die skandinavischen Neumitglieder ist es zu verdanken, dass sich die EU nach der Vierten Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 zum sogenannten gender mainstreming als eine der Rahmenstrategien ihrer Politik verpflichtete und dies in Artikel 2 des Vertrags von Amsterdam 1997 festschrieb.[17] Dies kam einem Paradigmenwechsel gleich. Zum einen, da sich der Fokus der Politik von der Gleichbehandlung von Frauen und Männern hin zur ergebnisorientierten Gleichstellung der Geschlechter verschob. Zum anderen, da Antidiskriminierungspolitik von nun an nicht mehr nur isoliert betrieben wurde. Die klassischen Frauenförderprogramme fielen nicht weg; ihnen wurde das gender mainstreming an die Seite gestellt, welches in die 19 Kompetenzbereiche der EG integriert wurde. Egal ob Wirtschafts-, Sozial-, Agrar-, Forschungs- oder Energiepolitik, in allen Phasen des politischen Entscheidungsprozesses muss seitdem Gleichstellung als Ziel mitgedacht und umgesetzt werden. Das bedeutet, dass die geschlechtsspezifischen Auswirkungen der europäischen Gesetzgebung ebenso analysiert und gegebenenfalls revidiert werden müssen, wie milliardenschwere Strukturfonds und andere Programme.[18] Theoretisch gilt das zumindest; die Diskussion, wieviel die Einführung des gender mainstremings bisher für die Gleichstellung gebracht hat, hat jedoch erst begonnen.[19] Vermutlich mehr, so die vorsichtige Einschätzung, als die im deutschsprachigen Raum besonders eifrig geführte, aber naturgemäß sehr uneuropäische Diskussion um Wortendungen, die auf der Prämisse beruht, dass die Sprache das Bewusstsein verändert. Obwohl die Sinnhaftigkeit einer gendersensiblen Sprache außer Frage steht, legen die vagen Stellungnahmen der EIGE dazu doch Zeugnis über die nationalsprachliche Beschränktheit dieses Themas ab.[20] Die EU packt die Probleme der Gleichstellung vor allem durch legislative Initiativen direkter an.
Die nächste EU-Erweiterungsrunde von 2004 und die anschließenden Beitritte brachten neue Herausforderungen für die europäische Gleichstellungspolitik und zeigen, wie eng Transformation, EU-Erweiterung und Geschlechterverhältnisse miteinander verflochten waren. Die zentral- und osteuropäischen Beitrittsländer hatten sich nach dem Untergang des Kommunismus tiefgreifenden politischen, wirtschaftlichen, sozialen und juristischen Reformen unterzogen, um die 1993 formulierten Aufnahmekriterien der EU, die sogenannten „Kopenhagener Kriterien“, zu erfüllen. Die vermeintlich geschlechtsneutralen neoliberalen Schocktherapien waren in den zentral- und osteuropäischen Ländern bereits voll im Gange, als die EU sich 1997 zum gender mainstreming verpflichtete. Zwar setzte die EU dieses Thema nachträglich auf die Tagesordnung der Beitrittsverhandlungen und stärkte damit die nationalen Frauenrechtsorganisationen.[21] Die Auflagen der EU änderten aber wenig daran, dass die Frauen zu Verliererinnen dieser Transformation wurden. Sie waren stärker von Entlassungen im Zuge der Wirtschaftsreformen betroffen, weil sie in den großen Staatsbetrieben meist in Abteilungen tätig waren, die nicht unmittelbar mit der Produktion beauftragt waren und daher nun verkauft oder geschlossen wurden. Auch war ihr Anteil an der Belegschaft im öffentlichen Dienstleistungssektor hoch, der abgebaut und teilweise privatisiert wurde. Auch staatliche Kinderbetreuung oder der öffentliche Nahverkehr, weltweit ein überwiegend von Frauen genutztes Transportmittel, fielen der Privatisierung zum Opfer und wurden dabei oft drastisch reduziert. Frauen standen plötzlich ohne Kinderbetreuung da oder hatten keine Möglichkeit mehr, zu ihrem Arbeitsplatz zu gelangen. Zwar waren im Staatssozialismus Frauen und Männer auf dem Papier gleichberechtigt gewesen, in der Realität hatten Frauen allerdings wesentlich größere Lasten als Männer geschultert, da sie neben ihrer Erwerbstätigkeit zusätzlich Haushalt und Kinder versorgt hatten. Zudem sahen sich die Frauen mit dem Aufstieg des Nationalismus und der Etablierung männerdominierter, autoritärer Regime in ein traditionelles Rollenverständnis hineingedrängt. Der steigende Einfluss der Kirchen führte dazu, dass in einigen Staaten, unter anderem in Polen, wieder um das Recht auf Abtreibung gerungen wird.
Aus der Perspektive der Gleichstellung führte die Integration der zentral- und osteuropäischen Staaten in die EU zu widersprüchlichen Ergebnissen. Einerseits benachteiligte die nur vordergründig geschlechtsneutrale wirtschaftliche Transformation Frauen signifikant; andererseits war die spätere Erweiterungspolitik der EU mit ihrer Verpflichtung zum gender mainstreming ein wichtiges Instrument für nationale politische und zivilgesellschaftliche Institutionen, um Frauenrechte durchzusetzen und die Gleichstellung voranzubringen.
Gleichbehandlungs- und später Gleichstellungspolitik waren von Beginn an ein integraler Bestandteil der europäischen Integration. Waren es zunächst wettbewerbspolitische Gründe, welche dafür sorgten, dass Lohngerechtigkeit zwischen Frauen und Männern im europäischen Vertragswerk festgelegt wurden, brachten später feministisch motivierte Frauen und einige Männer die Geschlechterpolitik der EU voran. Dabei fungierten Kommission, Gerichtshof und Parlament als Antriebsmotor für mehr Geschlechtergerechtigkeit in Europa und die Umsetzung von EU-Recht – oft auch gegen den Willen der einzelnen Mitgliedsstaaten. Diese waren und sind jedoch frei, wie sie gender mainstreming umsetzten und wie sie die dafür von der EU bereitgestellten Mittel verwendeten. Manchen Ländern, den skandinavischen vor allem, gingen die von der EU beschlossenen Gleichstellungsmaßnahmen nicht weit genug, anderen, wie Ungarn, Polen oder Irland, waren sie zu progressiv. Die europäische Gleichstellungspolitik setzte auf der strukturellen und partizipatorischen Ebene sowie im Bereich der Körperpolitik an. Sie wirkte sich daher nicht nur sehr unterschiedlich in den einzelnen Mitgliedsstaaten aus, auch bei der Umsetzung der Vorgaben in den Bereichen Wirtschaft, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sexuelle Belästigung und häusliche Gewalt setzten die Mitgliedsstaaten jeweils eigene Prioritäten. Die Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt wurde überall als besonders wichtig angesehen, dagegen wird das Recht der Frauen auf körperliche Selbstbestimmung und Unversehrtheit in einigen europäischen Staaten massiv in Frage gestellt. So plant etwa Polen, wieder aus der Istanbul-Konvention des Europarats auszutreten.
Auf dem Papier sieht die Gleichstellungspolitik der EU dennoch alles in allem nicht schlecht aus. Es wäre aber die Aufgabe der historischen Europaforschung und der Frauen- und Geschlechtergeschichte, detailliert zu untersuchen, was sie in den letzten Jahrzehnten tatsächlich auf nationaler, struktureller und ja, auch auf individueller Ebene, im Leben einzelner Menschen bewirkt hat. Die Geschichte der europäischen Integration würde dann nicht nur eine abstrakte Abfolge von Verhandlungen und der Umsetzung von europäischen Richtlinien und Verordnungen sein, so wie sie die Politikwissenschaft zeichnet, sondern zu einer Geschichte werden, die Frauen, Männer und gender-diverse Menschen erlebten und gestalteten mit allen positiven wie negativen Facetten.
Oft wird Gleichstellung als Luxus abgetan, den man sich leisten können müsse und der deshalb in Krisenzeiten nichts verloren habe. Um einschätzen zu können, ob das Krisenmanagement der EU diese von nicht wenigen Menschen geteilte Ansicht widerspiegelt und wie ernst es ihr tatsächlich ist mit der Gleichstellung in Zeiten der Corona-Krise, lassen sich die Jahre 2008 bis 2012 untersuchen, als sich die EU ähnlich wie heute mit einer tiefen Wirtschaftskrise konfrontiert sah und gender mainstreming als Rahmenstrategie der EU-Politik bereits fest etabliert war.
Als das EU-weite Bruttosozialprodukt 2009 um vier Prozentpunkte schrumpfte, verständigten sich die damaligen Mitgliedsstaaten auf eine koordinierte Gegenmaßnahme, den sogenannten European Economic Recovery Plan (EERP). Dieser umfasste 200 Milliarden Euro und sah finanzielle Hilfen, steuerliche Anreize für Investitionen und Strukturreformen vor. Auf nationaler Ebene wurden Rettungspakete für die Banken geschnürt und Steuererleichterungen beschlossen. All diese Maßnahmen stützten die europäische Wirtschaft in den folgenden zwei Jahren, aber die teure Bankenrettung, die erhöhten Ausgaben für Sozialleistungen und die Steuerausfälle destabilisierten die öffentlichen Haushalte der Mitgliedsstaaten. Deren Regierungen reagierten darauf ab 2010 mit einem rigiden Sparkurs, um Haushaltsdefizite und Schulden zu verringern. Für viele Menschen führte diese Politik der Austerität zu einem zweiten wirtschaftlichen Absturz.
Wie sich Krisen geschlechterspezifisch auf die Beschäftigung von Frauen und Männern europaweit auswirkten, muss differenziert betrachtet werden. Relevante Faktoren sind dabei neben dem nationalen Kontext auch die Frage, wie stark sich die Berufsstrukturen von Frauen und Männern unterschieden, sowie sozio-ökonomische Zusammenhänge, also Geschlechterverhältnisse, Familienmodelle, Wohlfahrtssysteme, Politik und Arbeitgeber-Arbeitnehmerbeziehungen.[22] Sie sind historisch miteinander gewachsen und dialektisch eng verflochten. Für Europa kann man grob zusammenfassen, dass während der Krise von 2008/09 zunächst die Arbeitslosenquote von Männern schneller und höher stieg als die der Frauen. Als nationale Rettungsmaßnahmen und der EERP 2009 wirksam wurden, pendelten sich die Arbeitslosenquoten von Männern und Frauen auf einem ähnlichen Niveau ein, da die Arbeitslosigkeit bei den Frauen noch stärker stieg, während sie bei den Männern stagnierte. Mit dem Austeritätskurs der Mitgliedsstaaten verloren noch mehr Frauen ihre Arbeit. Dagegen flachte die Männerarbeitslosigkeit ab.[23]
Warum die Frauen von dieser Krise stärker wirtschaftlich betroffen waren als in vorhergehenden Rezessionen, hängt nicht nur von ihrer im Vergleich zu früheren Jahren höheren Beschäftigungsquote ab, sondern paradoxerweise auch von den Rettungsmaßnahmen, welche die EU und ihre Mitgliedsstaaten ergriffen, um die Krise zu überwinden. Dabei hatten sich, wir erinnern uns, die EU als Ganze und damit ihre Mitgliedsstaaten im Vertrag von Amsterdam zum gender mainstreming in allen Bereichen verpflichtet und in ihrer Gleichstellungspolitik immer ein besonderes Augenmerk auf das Thema Beschäftigung gelegt. Dennoch entbehrten die Analyse der Krise und die angekündigten Gegenmaßnahmen fast jeglicher geschlechtsspezifischer Differenzierung. Zwar erkannte die Kommission 2009 in ihrer Mitteilung „Ein gemeinsames Engagement für Beschäftigung“, dass Frauen häufiger als Männer in prekären Beschäftigungsverhältnissen stünden und daher die Gleichstellung Ziel bleiben müsse, erwähnte aber mit keinem Wort, dass es zunächst die Männer waren, die sofort und besonders stark unter dem Verlust von Arbeitsplätzen litten.[24]gender mainstreming, das darf nicht vergessen werden, richtet sich gegen die geschlechtsspezifische Benachteiligung von allen, Frauen und Männern sowie, seit einigen Jahren, gender-diversen Menschen.
Dabei waren die europäischen Rettungsmaßnahmen im Bereich der Beschäftigungs-, Ausgaben- und Steuerpolitik und ihre Umsetzung in den Mitgliedsstaaten alles andere als geschlechtsneutral. Öffentliche Zuschüsse und Steuererleichterungen für private Bau- und Renovierungsvorhaben, Ausbau der öffentlichen Infrastruktur, Abwrackprämien oder Zuschüsse und Steuererleichterungen für Industrie-, Bau-, Transport- und Kommunikationsbranche – die Stimulierung der Nachfrage und die steuerlichen Entlastungen konzentrierten sich auf Branchen, die klassischerweise zuerst von der Krise betroffen waren, und diese beschäftigen vor allem Männer. Die positiven Effekte der Hilfen kamen daher ihnen zugute, während Frauen davon kaum profitierten. Ebenso verhielt es sich mit dem Instrument der staatlich unterstützten Arbeitszeitreduzierung, um die Unternehmen zu entlasten: Kurzarbeit meldeten in erster Linie die obengenannten, männerdominierten Branchen an, ausschließlich für Menschen in Vollzeitbeschäftigung. Da Frauen oft teilzeitbeschäftigt sind, kamen sie kaum in den Genuss dieser staatlichen Förderung, sondern verloren ihren Arbeitsplatz.
Als im Frühjahr 2010 die Schuldenkrise Griechenlands evident wurde, stürzten in der Folge auch andere Länder der Eurozone, etwa Italien, Irland und Portugal, in eine Krise. Um unter den Euro-Rettungsschirm schlüpfen zu dürfen und in den Genuss der Hilfen des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Zentralbank zu kommen, mussten sie sich Sparauflagen beugen. Anstatt die Wirtschaft weiter zu stimulieren, begannen sie, so wie andere Mitgliedsstaaten der EU auch, ihre Schulden und Haushaltsdefizite zu dezimieren: Sie reduzierten die öffentlichen Ausgaben, erhöhten die Steuern und führten Strukturreformen durch. Die EU entwickelte ein ausgeklügeltes Kontrollverfahren, sinnigerweise „Sixpack“ genannt, das die Einhaltung der Spar- und Stabilisierungsmaßnahmen überwachte und 2011 in Kraft trat.[25]
Der drastische Sparkurs im öffentlichen Sektor wirkte sich direkt negativ auf die wirtschaftliche Situation vieler Frauen aus.[26] Zum einen, da in den meisten Ländern mehr Frauen als Männer im öffentlichen Sektor arbeiten und daher Lohnstopps, Stellenabbau und Pensionskürzungen in diesem Bereich in erster Linie sie trafen. Irland etwa, wo 63 Prozent der öffentlichen Bediensteten Frauen sind, kürzte im Rahmen des „National Recovery Plans“ die Gehälter um zehn Prozent, sparte zehn Prozent der Stellen im öffentlichen Dienst ein und erhöhte das Pensionsalter auf 66 Jahre.[27] Zum anderen sind es überwiegend Frauen, die, um Familie und Arbeit vereinbaren zu können, auf öffentliche und bezahlbare Betreuungsangebote für Kinder und Alte angewiesen sind oder öffentliche Verkehrsmittel für den Arbeitsweg nutzen. Kürzungen und Privatisierungen in diesen Bereichen machten es für viele Frauen schwierig oder kaum leistbar, einer Erwerbstätigkeit nachgehen zu können. Infolgedessen übernahmen sie vermehrt Care-Arbeiten, selbstverständlich unbezahlt und nicht versichert. Implizit geht diese Art der Politik vom altmodischen Rollenmodell aus, dass hinter jeder Frau ein männlicher Brotverdiener steht, der sie im Notfall versorgt. Weibliche Arbeitskraft hat den Stellenwert einer verhandelbaren Reserve. Auch die überproportionale Abhängigkeit der Frauen von staatlichen Transferleistungen machte die vermeintlich geschlechtsneutrale Sparpolitik extrem ungerecht für sie. Frauen sind eher als Männer von Sozialleistungen abhängig, weil sie mehr unbezahlte Care-Arbeit leisten und öfter in schlecht bezahlten (Teilzeit-) Jobs arbeiten. Als die Staaten die Sozialleistungen kürzten, spürten die Frauen dies daher besonders stark.
Neben diesen vermeintlich geschlechtsneutralen Maßnahmen wirkte sich die Sparpolitik auch direkt auf die Politik des gender mainstreming aus. Finanzminister kürzten Zuschüsse für Einrichtungen, welche auf nationaler Ebene Gleichstellung vorantreiben sollten, und forcierten die Zusammenlegung oder die Eingliederung in andere Institutionen mit dem Resultat, dass Gleichstellungspolitik weniger sichtbar wurde und weniger Ressourcen zur Verfügung hatte. Lettland etwa strich fast alle im „Programm für die Implementierung der Geschlechtergleichheit 2007–2010“ geplanten Aktivitäten. Tschechien schaffte den Posten des Regierungsbeauftragten für Menschenrechte, der auch für Gleichstellungsfragen zuständig war, 2010 gleich ganz ab. Dies traf nicht nur die Frauen hart, sondern bedeutete auch für die Durchsetzung von Rechten für gender-diverse Menschen einen Rückschlag.[28] In beiden Fällen geschah dies, ohne dass es Gegenmaßnahmen der EU nach sich gezogen hätte.
Der kursorische Überblick der geschlechtsspezifischen Implikationen der EU-Politik während der Krise seit 2008 zeigt, wie schnell Gleichstellung von der Prioritätenliste der EU und ihrer Mitgliedsstaaten verschwand, als es vermeintlich Wichtigeres zu bewältigen gab – mit entsprechenden Folgen vor allem für die Frauen. Ob die EU und ihre Mitgliedsstaaten mit ihrem gerade aktuellen Rettungsprogramm tatsächlich stärker auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der verschiedenen Geschlechter eingehen wird, können Historiker/innen kaum beurteilen. Dass dies grundsätzlich nicht ihre Kernkompetenz berührt, aus der Perspektive der Vergangenheit in die Zukunft zu blicken, zeigen ihre unterschiedlichen Einschätzungen zu den Folgen der Corona-Pandemie. Sie reichen von optimistischen Ausblicken, dass Menschen immer aus Krisen gelernt hätten und dies daher auch mit der Corona-Pandemie so sein werde, bis zu pessimistischeren Einschätzungen, dass man wenig aus früheren Krisenbewältigungsstrategien lernen könne.
Die Corona-Pandemie ist aus verschiedenen Gründen eine ganz spezielle Krise und kann daher nur bedingt mit früheren Krisen verglichen werden. Dennoch lässt sie, wie alle anderen Krisen zuvor, vorangegangene, längerfristige (Fehl-)Entwicklungen deutlich hervortreten. Häusliche Gewalt gegen Frauen, der gender lifetime earning gap und die Ambivalenzen der europäischen Betreuungskette sind keine Probleme, die erst seit März 2020 mit der Corona-Pandemie auftraten. Die EU widmet sich ihnen seit Jahrzehnten, erreichte jedoch nur schrittweise Verbesserungen. Die Frage, warum dies so ist, ergibt ein weites, bislang brachliegendes Feld für die historische Europaforschung und die europäische Frauen- und Geschlechtergeschichte. Ihre Forschungsergebnisse könnten verstehen helfen, warum diese Probleme gerade mit der Corona-Pandemie so evident geworden sind. Gleichzeitig können sie als Basis dienen, von der ausgehend Zukunftsvisionen zur Überwindung der Krise entwickelt werden, die auch die unterschiedlichen Belange von Frauen, Männern und gender-diversen Menschen berücksichtigen. Die Erfahrungen der vergangenen 60 Jahre zeigen, dass Europäische Integration gender-spezifisch gedacht und umgesetzt werden muss – besonders in Krisenzeiten.
[1] Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in: H-Soz-Kult, 01.09.2020, www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-5049.
[2] Zuerst beschäftigte sich damit Jill Rubery (Hrsg.), Women and Recession, London 1988.
[3] Philipp Ther, Europe since 1989. A History Princeton 2016, S. 138.
[4] Organisation for Economic Co-operation and Development, Employment: Time spent in paid and unpaid work, by sex, https://stats.oecd.org/index.aspx?queryid=54757# (22.06.2020).
[5] Johannes Pennekamp, Mutter werden kostet Frauen ein Vermögen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.06.2020, https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/studie-mutter-zu-werden-kostet-frauen-ein-vermoegen-16825480.html (22.06.2020).
[6] European Institute for Gender Equality, Gender-based violence, https://eige.europa.eu/covid-19-and-gender-equality/gender-based-violence (20.08.2020).
[7] Europäische Kommission, Die Stunde Europas – Schäden beheben und Perspektiven für die nächste Generation eröffnen, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?qid=1590732521013&uri=COM%3A2020%3A456%3AFIN (23.06.2020).
[8] Kiran Klaus Patel, Projekt Europa. Eine kritische Geschichte, München 2018.
[9] Z. B. Norman Davis, Europe. A History, Oxford 1996. Zu den wenigen Ausnahmen, die sich explizit als europäische Frauen- oder Geschlechtergeschichte verstehen oder teilweise eine geschlechterspezifische Perspektive integrieren, zählen u. a. Bonnie G. Smith, Changing Lives. Women in European History since 1700, Lexington 1989; Karen Offen, European Feminism 1700–1950. A Political History, Stanford 2000; Béla Tomka, A Social History of Twentieth-Century Europe, London 2013; Wolfgang Schmale, Gender and Eurocentrism. A Conceptual Approach to European History, Stuttgart 2016.
[10] Z. B. Catherine Hoskyns, Integrating Gender. Women, Law and Politics in the European Union, London 1996; Johanna Kantola, Gender and the European Union, Basingstoke 2010; Gabriele Abels, Gendering the European Union. New Approaches to Old Democratic Deficits, Basingstoke 2012.
[11] Einer der Versuche, europäischen Zeitgeschichte geschlechterspezifisch zu analysieren, ist Joanna Regulska / Bonnie G. Smith (Hrsg.), Women and Gender in Postwar Europe. From Cold War to European Union, London 2012.
[12] Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, 25.03.1957, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:11957E/TXT&from=en (23.06.2020). Zu den Verhandlungen um Artikel 119 siehe Chrystalla A. Ellina, Promoting Women's Rights. The Politics of Gender in the European Union, New York 2003, S. 17–55.
[13] Z. B. im Urteil des Verfahrens Gabrielle Defrenne gegen Société Anonyme Belge de Navigation Aérienne Sabena. Gleichheit des Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit. Ersuchen um Vorabentscheidung, vorgelegt von der Cour du Travail Brüssel. Rechtssache 43-75, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A61975CJ0043 (23.06.2020).
[14] Urteil des Gerichtshofes vom 6. Juli 1982. Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland. Gleiches Entgelt für Männer und Frauen. Rechtssache 61/81, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?uri=CELEX%3A61981CJ0061 (23.06.2020).
[15] Theresa Wobbe / Ingrid Biermann, Von Rom nach Amsterdam. Die Metamorphosen des Geschlechts in der Europäischen Union, Wiesbaden 2009, S. 118.
[16] Official Journal of the European Community, C 50 (09.03.1981).
[17] Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte, OJ C 340, 10.11.1997, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=celex%3A11997D%2FTXT (23.06.2020).
[18] Europäische Kommission, Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Wirtschafts- und Sozialausschuß und den Ausschuß der Regionen - Für eine Rahmenstrategie der Gemeinschaft zur die Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern (2001–2005), KOM/2000/0335 endg., https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:52000DC0335:DE:HTML (24.06.2020).
[19] Ein skeptisches Urteil fällt u. a. Jane Lewis, Work/Family Reconciliations, Equal Opportunities, and Social Policies. The Interpretation of Policy Trajectories at the EU level and the Meaning of Gender Equality, in: European Journal of Public Policy 13 (2006), S. 420–437.
[20] European Institute for Gender Equality, Gender-sensitive Communication Print, https://eige.europa.eu/publications/gender-sensitive-communication/overview (23.06.2020).
[21] Siehe dazu u. a. Alena Křížková / Hana Hašková, The Impact of EU Accession on the Promotion of Women and Gender Equality in the Czech Republic, in: Silke Roth (Hrsg.), Gender Politics in the Expanding European Union. Mobilization, Inclusion, Exclusion, New York 2008, S. 157.
[22] Maria Karamessini / Jill Rubery (Hrsg.), Women and Austerity. The Economic Crisis and the Future of Gender Equality, New York 2013.
[23] Mark Smith / Paola Villa, The Long Tail of the Great Recession. Foregone Employment and Foregone Policies, in: Revue de l’OFCE 13 (2014), S. 92.
[24] Kommissionen For De Europaeiske Faelllesskaber, KOM(2009) 257 endelig, 03.06.2009, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DA/TXT/PDF/?uri=CELEX:52009DC0257&from=EN (23.06.2020).
[25] Europäische Kommission, EU-„Six-Pack“ zur wirtschaftspolitischen Steuerung tritt in Kraft, 12.12.2011, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/MEMO_11_898 (23.06.2020).
[26] Mark Smith / Paola Villa, National Reform Programmes 2011. A Gender Perspective. The coordinator’s synthesis report prepared for the Equality Unit, European commission, EGGE – European Network of Experts on Emplyment and Gender Equality, Rom 2012.
[27] Muiris MacCarthaigh, Public Sector Reform in Ireland. Countering Crisis, London 2017, S. 53.
[28] European Women’s Lobby, The Price of Austerity. The Impact on Women’s Rights and Gender Equality in Europe, Brüssel 2012, S. 13.