Brexit-Krise. Gründe und Folgen

Die derzeit weite Teile der Welt beherrschende Corona-Krise, die auch die Europäische Union (EU) und ihre Mitgliedstaaten intensiv beschäftigt, hat eine andere, seit einigen Jahren schwelende Krise der EU etwas in den Hintergrund gedrängt: die sogenannte Brexit-Krise, ausgelöst durch das britische Referendum vom 23. Juni 2016. Kannte die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaften (EG) bzw. der späteren Europäischen Union bis dahin nur eine Richtung, nämlich die stetige Erweiterung ihrer Mitgliederzahl, die von ursprünglich sechs zu Beginn der 1950er-Jahre auf 28 im Jahre 2013 anstieg, so markiert die britische Entscheidung, die EU zu verlassen, diesbezüglich erstmals einen Wendepunkt. Die bange Frage kam auf, ob weitere Mitglieder dem britischen Beispiel folgen könnten und die EU schließlich auseinanderbrechen würde.

Themenschwerpunkt

Brexit-Krise. Gründe und Folgen [1]

Von Gabriel Clemens

Die derzeit weite Teile der Welt beherrschende Corona-Krise, die auch die Europäische Union (EU) und ihre Mitgliedstaaten intensiv beschäftigt, hat eine andere, seit einigen Jahren schwelende Krise der EU etwas in den Hintergrund gedrängt: die sogenannte Brexit-Krise, ausgelöst durch das britische Referendum vom 23. Juni 2016. Kannte die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaften (EG) bzw. der späteren Europäischen Union bis dahin nur eine Richtung, nämlich die stetige Erweiterung ihrer Mitgliederzahl, die von ursprünglich sechs zu Beginn der 1950er-Jahre auf 28 im Jahre 2013 anstieg, so markiert die britische Entscheidung, die EU zu verlassen, diesbezüglich erstmals einen Wendepunkt. Die bange Frage kam auf, ob weitere Mitglieder dem britischen Beispiel folgen könnten und die EU schließlich auseinanderbrechen würde. Zudem stellte sich auch die Frage nach den Gründen für die britische Entscheidung: War sie bedingt durch die politische Entwicklung der Europäischen Union in den zurückliegenden Jahren, d.h. das Streben einiger Mitgliedstaaten nach einem immer engeren Zusammenschluss Europas sowie die Reaktionen der EU auf Finanz- und vor allem Flüchtlingskrise, oder lagen die Ursachen tiefer? Waren sie in der grundsätzlichen britischen Haltung zu Europa bzw. zur europäischen Integration zu suchen? Manch einer mag sich in diesem Zusammenhang an die Worte des französischen Generals Charles de Gaulle erinnern, der in den 1960er-Jahren den britischen Wunsch nach Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften zweimal mit der Begründung abgelehnt hatte, dass die Briten nicht europäisch genug seien. Hatte er Recht mit seiner Behauptung, dass Großbritannien aufgrund seiner Lebensart, seiner Stellung in der Welt, seiner Beziehungen zum Commonwealth und zu den USA völlig anders geartet sei als die sechs EWG-Staaten? Großbritannien, so hatte de Gaulle gefordert, müsse erst europäisch werden, bevor es der Gemeinschaft beitreten könne, ansonsten bestünde die Gefahr einer grundlegenden Veränderung oder gar Zerstörung der Gemeinschaft selbst.[2] Was aber hieß und heißt ‚europäisch sein‘? Hierüber differierten die Auffassungen zwischen den Briten und den sechs EG-Gründungsmitgliedern und differieren sie im Grunde bis heute. An den unterschiedlichen Europakonzepten entzündeten sich im Verlaufe des Integrationsprozesses verschiedene Konflikte und auch Krisen – letztere verstanden als konfliktreiche Situationen, die die Gemeinschaften/die EU in ihren Grundfesten erschüttern und dadurch den Fortbestand oder das Voranschreiten der europäischen Integration in Frage stellen. Nicht nur die sogenannten Erweiterungskrisen der 1960er-Jahre belasteten die Gemeinschaft; auch nach dem schließlich erfolgten britischen EG-Beitritt im Jahre 1973 blieb aus Sicht der Sechs Großbritannien stets der „awkward partner“.[3]

Was bedeutete für die Briten ‚europäisch sein‘? Oder anders gefragt: Welche Rolle spielte Europa im britischen Selbstverständnis der Nachkriegszeit? Vergegenwärtigt man sich die Situation Großbritanniens am Ende des Zweiten Weltkrieges, so fallen sofort die Unterschiede zu den Staaten des Kontinents auf. Anders als diese hatte Großbritannien im Krieg den Angriffen Hitlerdeutschlands standgehalten, war als Siegermacht aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen, bestimmte an der Seite der USA und der Sowjetunion die Gestaltung der Nachkriegsordnung mit, war Besatzungsmacht und stand an der Spitze des weltumfassenden Commonwealth. Großbritannien war nach den USA zu dieser Zeit die zweitwichtigste Macht der westlichen Welt.[4] Eine allzu enge Bindung an die besiegten und geschwächten Staaten des Kontinents, deren Zukunft selbst Anfang der 1950er-Jahre noch ungewiss war, schien aus britischer Sicht daher nicht opportun, ja sogar riskant. Bereits in der ‚berühmten‘, vielfach zitierten Zürcher Rede Winston Churchills vom September 1946 wird diese besondere Rolle Großbritanniens von dem ehemaligen britischen Premierminister hervorgehoben. Churchill schlug darin für die Kontinentalstaaten die Bildung ‚einer Art Vereinigter Staaten von Europa‘ vor, deren Führung Frankreich und Deutschland übernehmen sollten, aber Großbritannien bezeichnete er lediglich als ‚Freund‘ und ‚Förderer‘ dieser künftigen Vereinigung, ebenso wie die USA und die Sowjetunion. Zudem betonte Churchill, dass die Briten ja bereits ihr eigenes ‚Commonwealth of Nations‘ hätten. Auch schon zuvor – in den 1930er-Jahren – hatte Churchill erklärt: „We are with Europe, but not of it. We are linked, but not comprised. We are interested and associated, but not absorbed“.[5] Und 1948 beschrieb er die Situation Großbritanniens als die eines Staates, der sich im Schnittpunkt dreier Kreise – USA, Commonwealth, Europa – befindet, somit mit allen dreien verbunden ist, aber keinem ausschließlich angehören kann. Aus diesem Drei-Kreise-Modell ergab sich das britische Europakonzept, das die Labour-Regierungen der Nachkriegszeit ebenso verfolgten wie die Konservativen: Man wollte zwar mit den Staaten des Kontinents auf lockerer Ebene zusammenarbeiten, sich aber nicht unwiderruflich eng an sie binden, gar mit diesen in einer supranationalen Gemeinschaft verschmelzen. Das intergouvernementale Europakonzept, das den Ende der 1940er-Jahre gegründeten Gemeinschaften OEEC, Brüsseler Pakt und Europarat zugrunde lag bzw. sich auf britisches Drängen hin durchgesetzt hatte, entsprach daher völlig den britischen Interessen, ebenso wie das supranationale Konzept, das eine teilweise Verschmelzung nationaler Souveränitäten beinhaltete, mit dem französischen Interesse nach einer engen Einbindung des entstehenden westdeutschen Staates und Sicherheit vor dem Nachbarn im Osten übereinstimmte. Vor allem infolge dieser hier knapp skizzierten Vorstellungen einer Zusammenarbeit mit Kontinentaleuropa lehnten die Briten es Anfang der 1950er-Jahre ab, sich der von Frankreich initiierten supranationalen Kohle- und Stahlgemeinschaft anzuschließen; zudem schien es aber auch aus wirtschaftlichen Gründen für Großbritannien – einem der größten Kohle- und Stahlproduzenten der Welt – nicht sinnvoll, Mitglied der neuen Sechsergemeinschaft zu werden. Es waren auch überwiegend politische Gründe, sprich die Vorbehalte gegenüber supranationalen Gemeinschaften, die enge Anbindung an das Commonwealth und die ‚special relationship‘ zu den USA, die dazu führten, dass Großbritannien zunächst seine Teilnahme an der 1957 gegründeten supranationalen EWG ablehnte. Wie es in einer Denkschrift des britischen Außenministeriums hieß, würde durch eine Teilnahme an der EWG die Symmetrie der drei Kreise gestört, indem man nämlich Großbritanniens europäische Rolle einseitig betone; eine EWG-Mitgliedschaft sei mit der Weltmachtrolle Großbritanniens schlicht unvereinbar.[6] Stattdessen präferierte Großbritannien die Bildung einer umfassenden Freihandelszone aller OEEC-Staaten. Dass die Briten nur wenige Jahre später um Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften ersuchten, hing mit der veränderten politischen und wirtschaftlichen Situation, hier vor allem die Verlagerung der Handelsströme und die eigene wirtschaftliche Wachstumsschwäche, zusammen. Ihre Ziele einer engen Bindung an das Commonwealth, der Aufrechterhaltung der besonderen Beziehungen zu den USA und der Bewahrung einer Position als weltumfassender politischer Akteur schienen ihnen nur noch innerhalb der sich zu einer wichtigen wirtschaftlichen und politischen Kraft entwickelnden Europäischen Gemeinschaft durchsetzbar. Die Supranationalität nahmen sie zwangsläufig in Kauf.

Der unilaterale Abbruch der im November 1961 begonnenen Beitrittsverhandlungen mit Großbritannien durch Frankreich (de Gaulle) stellte ein Affront gegenüber den EG-Partnern dar, die alle eine Erweiterung um Großbritannien und die weiteren Beitrittskandidaten Dänemark, Irland und Norwegen wünschten. Doch trotz der Verärgerung über Frankreichs Vorgehen und der von einigen Mitgliedstaaten zeitweise erwogenen Maßnahmen, französischen Interessen auf anderen Gebieten zu schaden, kam es in der Folgezeit nicht zu einer Isolation Frankreichs oder einem Bruch in der Gemeinschaft. Ein wesentlicher Grund dafür lag in der Erkenntnis der Fünf, dass die Fortsetzung der Arbeit in der EWG in ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse lag. Als Weg aus dieser ersten Gemeinschaftskrise, der noch weitere folgen sollten, wurden verschiedene Zwischenlösungen vorgeschlagen, so u.a. die engere Zusammenarbeit mit Großbritannien in der 1955 gegründeten Westeuropäischen Union (WEU). So gelang es, die Frage des britischen Beitritts erstmal zu vertagen und die Arbeit in der Gemeinschaft fortzusetzen. Ähnlich verhielten sich die Fünf beim zweiten französischen Veto gegen den britischen EG-Beitritt im Jahre 1967, bei der französischen Weigerung, die Kooperation mit Großbritannien innerhalb der WEU zu intensivieren und auch zuvor bei der sogenannten (Verfassungs-)Krise des „leeren Stuhls“, hervorgerufen durch Frankreichs Absicht, vorgesehene Mehrheitsabstimmungen im Ministerrat zu verhindern. Dies zeigte, dass letztlich in dieser Zeit kein Mitgliedstaat bereit war, ein Auseinanderbrechen der Europäischen Gemeinschaften zu riskieren, waren doch die Interessen der Mitgliedstaaten bereits sehr eng miteinander verwoben. Allerdings befand sich die europäische Integration Ende der 1960er-Jahre, insbesondere wegen des Scheiterns des zweiten britischen Beitrittsgesuchs, in einer Phase der Stagnation. Die Bereitschaft der Mitgliedstaaten, die Felder ihrer Zusammenarbeit auszudehnen, schwächte sich ab, und auch bereits vereinbarte Arbeiten stockten. Stattdessen nahm die erfolglose Suche nach Zwischenlösungen für Großbritannien die Aufmerksamkeit der Mitglieder in Anspruch, was die Stimmung zwischen ihnen weiter verschlechterte.

Erst nach de Gaulles Rücktritt und auf der Haager Gipfelkonferenz des Jahres 1969 gelang es, die insbesondere durch die Erweiterungskrisen bedingte Lähmung der Gemeinschaftsarbeit zu überwinden, den Beitritt Großbritanniens zu ermöglichen und neue Politikfelder in Angriff zu nehmen. Doch mit dem erfolgten EG-Beitritt Großbritanniens 1973 waren keineswegs alle Probleme vom Tisch. Vielmehr erwiesen sich die Briten aus Sicht der anderen EG-Mitglieder in der Folgezeit als schwierige Partner, was insbesondere mit dem britischen Selbstverständnis und der daraus resultierenden Europapolitik zusammenhing. Hatten die Briten zwar zwangsläufig mit ihrem Beitritt den gesamten sogenannten ‚acquis communautaire‘ der Gemeinschaft akzeptiert, was ihnen erhebliche Zugeständnisse in Bezug auf ihre Agrarpolitik und die Höhe ihrer Beitragszahlungen an die Gemeinschaft abverlangte, so stellten sie schon wenige Jahre später unter der Labour-Regierung Wilsons die Zugehörigkeit zu den Europäischen Gemeinschaften wieder in Frage. Das von Harold Wilson nach vorangegangenen Verhandlungen mit den EG-Partnern und dem Erreichen einiger eher unbedeutender Zugeständnisse von EG-Seite anberaumte Referendum des Jahres 1975 ging zwar zugunsten des Verbleibs in der Gemeinschaft aus (67,2 Prozent sprachen sich dafür aus), aber die Haltung der britischen Bevölkerung gegenüber den Europäischen Gemeinschaften blieb kritisch. In einer Umfrage vom September 1976 beispielsweise gaben 74 Prozent der Befragten an, die EG sei größtenteils schuld an den steigenden Lebensmittelpreisen, den 12,6 Prozent Inflation und den 1,3 Millionen Arbeitslosen.[7] Diese skeptische Haltung der Bevölkerung gegenüber den EG war in nicht unerheblichem Maße auf die britischen Politiker und Meinungsführer zurückzuführen, welche selten ein positives Bekenntnis zu den Europäischen Gemeinschaften ablegten oder gar Begeisterung für diese äußerten, sondern eher auf die – meist ökonomische – Notwendigkeit eines EG-Beitritts verwiesen und ‚Brüssel‘ stets als etwas Fremdes betrachteten, dem gegenüber man die nationalen Interessen behaupten müsse. So stellte sich beispielsweise Wilson nach den Neuverhandlungen mit den EG-Partnern in den heimischen Medien als konsequenter, die britischen Interessen hart und unnachgiebig vertretender Verhandler dar, der aus den ‚Kämpfen‘ mit der Gemeinschaft siegreich hervorgegangen sei.[8] Und selbst der sich vehement für einen EG-Beitritt einsetzende britische Minister für die Commonwealth-Beziehungen der Regierung Macmillans und Gründer der britischen Europabewegung, Duncan Sandys, hatte seinerzeit bei den Briten für den Beitrittsantrag geworben mit der Aussage, dass wenn er die Wahl zwischen Europa und dem Commonwealth treffen müsse, er sich selbstverständlich für das Commonwealth entscheiden würde. Aber diese Entscheidung müsse man nicht treffen, da ein Beitritt zu den EG auch im Interesse der Commonwealth-Staaten liege und letztlich das Commonwealth stärken würde.[9] Wie die britische Historikerin Anne Deighton schrieb, hätten die britischen Politiker nie versucht, Europa auch in den Köpfen und Herzen der Bevölkerung zu verankern.[10] Das Ergebnis des Referendums von 2016 kam daher nicht ganz überraschend.

Großbritanniens Haltung als Gemeinschaftsmitglied lediglich als die eines „awkward partners“ zu beschreiben, wäre falsch bzw. würde bedeuten, einseitig den Standpunkt der sechs EG-Gründungsmitglieder zu übernehmen. Aus deren Sicht war Großbritannien sicherlich der widerspenstige Partner, denn ihre – allerdings auch oftmals divergierenden – Europavorstellungen waren zum Teil andere als die der britischen Regierungen. Während die Gründungsmitglieder überwiegend eine Weiterentwicklung der Gemeinschaften zu einer politischen Union anstrebten, lag Großbritanniens Interesse vor allem auf der Weiterentwicklung des Gemeinsamen Marktes. In dieser Hinsicht war Großbritannien als Gemeinschaftsmitglied sehr aktiv, und die Entstehung der Einheitlichen Europäischen Akte im Jahre 1986, die sich die vollständige Verwirklichung des Binnenmarktes bis zum Jahre 1992 zum Ziel gesetzt hatte, war im Wesentlichen auf britisches Engagement unter der Regierung Margaret Thatcher zurückzuführen. Auch strebten die britischen Regierungen der 1970er- und 1980er-Jahre eine engere Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik an, was weitgehend von Frankreich blockiert wurde – hier war eher Frankreich der „awkward partner“. Gerade der Regierung Thatcher ist wiederholt vorgeworfen worden, dass sie nur egoistische nationale Interessen vertreten habe. Allerdings hatten auch die anderen mit der Bildung der Europäischen Gemeinschaften stets ihre nationalen Interessen verfolgt. Sie hatten die Gemeinschaften nach ihren Interessen geformt (beispielsweise Agrarpolitik, Finanzpolitik), so dass ihre nationalen Interessen mit den Zielen der Gemeinschaften weitgehend übereinstimmten. Dies lag im Fall Großbritanniens etwas anders.

Da Großbritannien stets Vorbehalte gegenüber der Bildung einer engeren politischen Union oder einer Föderation Europas hatte, verwahrte sich der britische Premierminister John Major auch gegen den Vorschlag, in den Maastrichter Vertrag zur Gründung der Europäische Union die Worte einzufügen, es handele sich hier um die schrittweise Verwirklichung einer ‚Union mit föderaler Berufung‘. Das verabscheute sogenannte ‚f-word‘ wurde durch die vage Formulierung ersetzt, dass die Europäische Union „eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas“[11] darstelle. Zugleich setzte die britische Regierung durch, dass dem Land verschiedene ‚opts-out‘ zugestanden wurden. So musste Großbritannien nicht an der Wirtschafts- und Währungsunion – sprich am Euro – teilnehmen; eine weitere Ausnahmeregelung wurde Großbritannien bezüglich der Sozialpolitik zugestanden. Auch in den folgenden Verträgen zur Vertiefung der EU konnte Großbritannien zahlreiche Ausnahmeregelungen für sich erreichen. Was Major bei den Maastrichter Verhandlungen durchsetzen konnte, war die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips in dem Vertrag, was in der gegenwärtigen Diskussion zur Zukunft Europas wieder eine große Rolle spielt. Typisch für einen britischen Politiker ist, wie Major das Ergebnis der Verhandlungen in der britischen Öffentlichkeit darlegte. Er feierte seinen Verhandlungserfolg von Maastricht als „Spiel, Satz und Sieg für Großbritannien“ und erklärte kurz darauf, er habe die Verhandlungen dazu benutzt, um die Autorität der nationalen Regierungen wieder geltend zu machen. „Es ist jetzt ersichtlich“, so erklärte er, „dass die Europäische Gemeinschaft eine Vereinigung souveräner Nationalstaaten bleiben wird.“[12] Er zeigte wenig Gemeinschaftsbewusstsein, und das war Wasser auf die Mühlen einer europakritischen britischen Öffentlichkeit, die jahrzehntelang von der Agitation der Europagegner, vor allem in der Labour Partei, aber auch bei den Konservativen beeinflusst worden war. Gerade die Labour-Partei hatte gebetsmühlenartig ihren Willen zum Austritt des Landes aus der Gemeinschaft bekundet. Auf diesem Nährboden konnte dann die nach Maastricht gegründete Partei UKIP gedeihen, die vehement den Austritt Großbritanniens aus der EU forderte und auch nicht davor zurückschreckte, mit wahrheitswidrigen Zahlen und Argumenten die Anti-EU-Stimmung zu befeuern. Die enorme Zunahme von EU-Migranten, vor allem aus Polen und Rumänien (500.000 statt der erwarteten 13.000), und auch der anschwellende Flüchtlingsstrom verstärkten zusätzlich die EU-skeptische Haltung der britischen Bevölkerung. Aufgrund des massiven Drucks, auch aus der eigenen Partei, sah sich der britische Premierminister David Cameron, selbst ein Europa-Befürworter, gezwungen, Neuverhandlungen mit der EU anzusetzen und ein Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU anzukündigen. Letzteres war, wie wir heute wissen, ein sehr riskantes Spiel, und das Ganze diente nur dazu, die in der Europapolitik gespaltene Konservative Partei zusammenzuhalten. Der weitere Verlauf der Ereignisse ist bekannt: Obwohl Cameron bei den Neuverhandlungen mit den EU-Partnern im Februar 2016 einen Großteil seiner Forderungen in Bezug auf die britische Teilnahme an einer immer engeren Union, die Begrenzung der Freizügigkeit und Kontrolle der Immigration durchsetzen konnte, entschied sich eine – wenn auch knappe – Mehrheit der Briten in dem Referendum vom Juni 2016 dafür, die EU zu verlassen. Cameron trat zurück, seine Nachfolgerin Theresa May, die die EU-Austrittserklärung einreichte, bemühte sich vergebens, ein von ihr mit den EU-Partnern ausgehandeltes Austrittsabkommen im britischen Unterhaus durchzusetzen, und schließlich übernahm Boris Johnson das Ruder, welcher derzeit fest entschlossen ist, Großbritannien nach Ende der Übergangszeit zum Jahresende endgültig aus der EU zu lösen, mit oder ohne Abkommen über die künftigen Beziehungen mit den alten Partnern. Die Einzelheiten dieser für alle Beteiligten sehr schwierigen, konfliktbeladenen vergangenen Jahre können hier nicht aufgezeigt werden; lediglich auf die Grundsatzrede Theresa Mays vom 17. Januar 2017 ist kurz einzugehen. Was diese Rede Mays, in der sie das künftige Verhältnis Großbritanniens zur EU umriss, so bemerkenswert macht, ist die Parallele zu Äußerungen Churchills in seiner Zürcher Rede vom September 1946. Ähnlich wie Churchill, der Großbritannien als Freund und Förderer einer zu bildenden europäischen Gemeinschaft bezeichnet und auf die weltweiten Verpflichtungen Großbritanniens wie auch die ‚special relationship‘ zu den USA hingewiesen hatte, erklärte auch May: „Britain wants to remain a good friend and neighbour to Europe“ und verwies in ihrer Rede gleich mehrfach auf die globale Verantwortung der Briten, die sie, ebenso wie die politische Tradition Großbritanniens, von den anderen Europäern unterscheide. „I want us to be a truly Global Britain – the best friend and neighbour to our European partners, but a country that reaches beyond the borders of Europe too. A country that goes out into the world to build relationships with old friends and new allies alike. […] We are a European country – and proud of our shared European heritage – but we are also a country that has always looked beyond Europe to the wider world. That is why we are one of the most racially diverse countries in Europe, one of the most multicultural members of the European Union, and why – whether we are talking about India, Pakistan, Bangladesh, America, Australia, Canada, New Zealand, countries in Africa or those that are closer to home in Europe – so many of us have close friends and relatives from across the world.”[13]

Das in Churchills Rede zum Ausdruck kommende britische Selbstverständnis, so kann man aus diesen Worten schlussfolgern, hat die fast 50 Jahre der EG/EU-Mitgliedschaft überdauert; trotz der langen Zugehörigkeit zu den Europäischen Gemeinschaften bzw. zur Europäischen Union sieht man sich weiterhin als eine Nation, deren Charakter und Tradition eine einseitige, enge Einbindung in Europa nicht zulässt. Angesichts dieses Befundes stellt sich die Frage, ob der EU-Austritt und damit die Brexit-Krise hätten verhindert werden können. Hätte beispielsweise Cameron nicht leichtfertig das Referendum angesetzt oder hätten gerade die jungen Wähler zwischen 18 und 24 Jahren, von denen 64 Prozent der Abstimmung ferngeblieben sind, dann am Referendum teilgenommen, wäre die Situation derzeit vermutlich eine andere und Großbritannien noch Mitglied der EU. Allerdings wäre damit das Problem, dass sich die politischen Repräsentanten des Vereinigten Königreichs und auch die zum großen Teil europaskeptische britische Öffentlichkeit nur halbherzig zur europäischen Integration bekannten und ein europäisches Gemeinschaftsgefühl kaum vorhanden war, nicht gelöst gewesen und hätte ein drohender, von einzelnen Parteien immer wieder thematisierter Austritt wohl stets über dem Land geschwebt. Ein anderes Szenario wäre nur denkbar gewesen, wenn in Großbritannien ein Umdenken bezüglich ‚Brüssel‘ bzw. der eigenen EU-Mitgliedschaft stattgefunden hätte oder – als eine andere Möglichkeit – die EU ihren Anspruch, zu einer immer engeren Union zu gelangen, aufgegeben und sich den im Weißbuch der Kommission von 2017 angeführten anderen, weniger ehrgeizigen Möglichkeiten einer künftigen Zusammenarbeit, die eher den britischen Europavorstellungen entsprechen, zugewandt hätte.[14] Allerdings nutzen diese spekulativen Überlegungen in der derzeitigen Situation wenig. Die Entscheidung für den britischen Austritt ist gefallen (der Austritt erfolgte zum 1. Februar 2020), und die Folgen für Großbritannien, aber auch die EU werden wohl gravierend sein. Schließlich hat mit Großbritannien die zweitgrößte Volkswirtschaft und einer der größten Nettozahler die Union verlassen, zudem ein – insbesondere für die Bundesrepublik – wichtiger Verbündeter im Streben nach einer liberalen und weltoffenen Handelspolitik. Ohne Großbritannien, das Ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates, europäisches Nato-Mitglied mit den höchsten Verteidigungsausgaben und Atommacht ist und zudem über ein dichtes Netz an langjährigen weltweiten diplomatischen Verbindungen verfügt, wird es den verbliebenen 27 EU-Staaten wohl schwerer fallen, den wiederholt geäußerten Wunsch, zu einer effektiven gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik zu gelangen, umzusetzen.

Kann die Brexit-Krise die EU voranbringen gemäß der Überzeugung Jean Monnets, „daß Europa in Krisen entstehen wird, und daß es die Summe der Lösungen sein würde, die man für diese Krisen findet“?[15] Es ist wohl noch zu früh, dies abschließend zu beurteilen, denn die Verhandlungen über das Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien nach Ende der Übergangszeit sind noch im Gange; der Ausgang ist offen. Politisch und institutionell hat die EU mit dem jetzt erstmals durchgeführten Austrittsverfahren Neuland betreten; die hier gewonnenen Erfahrungen werden sicherlich Orientierung für solche möglicherweise nochmals auftretenden Fälle bieten, ebenso wie die ersten Beitrittsverhandlungen mit Großbritannien in den 1960er/1970er-Jahren die folgenden Beitrittsverhandlungen mit weiteren Staaten geprägt haben. Positiv zu vermerken ist, dass es der EU der 27 bislang gelungen ist, eine einheitliche Verhandlungsposition einzunehmen, d.h. geschlossen aufzutreten, und dass sich die Entscheidung, die Kommission mit der Verhandlungsführung zu betrauen, bewährt hat.[16] Sollte der Austritt Großbritanniens dazu führen, dass sich die 27 jetzt endlich intensiver mit der Finalität des europäischen Integrationsprozesses befassen, also klären, was mit dem im Maastrichter Vertrag genannten vagen Ziel, zu einer immer engeren Union zu gelangen, gemeint ist und welche Struktur die EU in Zukunft haben soll, könnte auch die Brexit-Krise sich als eine sogenannte ‚produktive Krise‘ erweisen.



[1] Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in: H-Soz-Kult, 23.07.2020, www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-5035

[2] Pressekonferenz Charles de Gaulles am 16. Mai 1967, abgedruckt in: Archiv der Gegenwart vom 16. Mai 1967, S. 13166–13168, S. 13167 f.; 10. Deutsch-französisches Konsultationsgespräch, abgedruckt in: ebd. vom 14. Juli 1967, S. 13299 f.

[3] Siehe Stephen George, An Awkward Partner. Britain in the European Community, 3rd edition, Oxford 1998; siehe auch Angelika Volle, Großbritannien in der Europäischen Gemeinschaft. Vom zögernden Außenseiter zum widerspenstigen Partner, in: Gustav Schmidt (Hrsg.), Großbritannien und Europa – Großbritannien in Europa. Sicherheitsbelange und Wirtschaftsfragen in der britischen Europapolitik nach dem Zweiten Weltkrieg, Bochum 1989, S. 315–346.

[4] Siehe auch Sean Greenwood, Britain and European Cooperation since 1945, Oxford 1992, S. 59.

[5] The Saturday Evening Post, 15.02.1930.

[6] Wolfram Kaiser, Großbritannien und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1955-1961. Von Messina nach Canossa, Berlin 1996, S. 44.

[7] Siehe Volle, Großbritannien, S. 320.

[8] George, Awkward, S. 86.

[9] Gabriele Clemens, Duncan Sandys. Pläne und Aktivitäten für die Politische Union Europas, in: Sylvain Schirmann (Hrsg.), Quelles architectures pour quelle Europe? Des projets d’une Europe unie à l’Union européenne (1945-1992), Brüssel 2011, S. 129–143, hier S. 137.

[10] Siehe Anne Deighton, The Labour-Party, Public Opinion and “the Second Try” in 1967, in: Oliver J. Daddow (Hrsg.), Harold Wilson and European Integration. Britain’s Second Application to Join the EEC, London/Portland 2003, S. 39–55, hier S. 40.

[11] Vertrag über die Europäische Union vom 7. Februar 1992, Titel I, Art. A.

[12] Zit. nach Reinhard Meier-Walser, Großbritannien auf der Suche nach einem Platz im „Herzen Europas“, in: Außenpolitik 1 (1994), S. 10–19, S. 14.

[13]https://www.gov.uk/government/speeches/the-governments-negotiating-objectives-for-exiting-the-eu-pm.speech.de (10.07.2020).

[14] Das Weißbuch der Europäischen Kommission zur Zukunft Europas (1.3.2017) führt fünf verschiedene mögliche Szenarien einer künftigen Zusammenarbeit als Diskussionsgrundlage auf

[15] Jean Monnet, Erinnerungen eines Europäers, Baden-Baden 1988, S. 528.

[16] Zur Verhandlungsstrategie der EU siehe Nicolai von Ondarza, Die „Methode Barnier“ – Lehren aus der Verhandlungsführung der EU beim Brexit, in: integration 43,2 (2020), S. 85–100.


Für das Themenportal verfasst von

Gabriele Clemens

( 2021 )
Zitation
Gabriele Clemens, Brexit-Krise. Gründe und Folgen, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2021, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-94897>.
Navigation