Essays/

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  • von Erik Liebscher

    Forschungsreisen bildeten einen wichtigen Bezugspunkt für die Konstruktion einer deutschen Nation im 19. Jahrhundert. Dies lässt sich insbesondere an den ‚deutschen‘ Polarexpeditionen der 1860er- und 70er-Jahre beobachten. Anhand eines Briefes, den der in Mexiko lebende, unbekannte deutsche Musiker und Botaniker Luis Hahn (†1873) an den Initiator dieser ‚Nordfahrten‘, den Kartografen August Petermann (1822–1878), sandte, lässt sich rekonstruieren, wie diese Expeditionen ausgedeutet und angeeignet wurden. Hahn, der die Polarreisen lediglich in Zeitschriften verfolgte, entwarf seine eigene chauvinistische Vision einer Eroberung des Nordpols, plante zu deren Finanzierung eine musikalische Werbekampagne und imaginierte sich so selbst als Teil eines nationalen und kolonialen Projektes. Dieses exaltierte Engagement zeigt einerseits die Wirkmacht imperialer Phantasien und verdeutlicht andererseits das komplexe Wechselverhältnis zwischen Wissenschaftsakteuren und der zeitschriftenlesenden Öffentlichkeit, das mit dem einseitigen Konzept der Popularisierung nur unzureichend erfasst wird.

  • von Elisa Kewitsch

    Die Eröffnung der Heil- und Pflegeanstalt Sonnenstein 1811 im sächsischen Pirna steht für einen nachhaltigen Wandel im Umgang mit psychischen Erkrankungen im 19. Jahrhundert. Die gezielte Herauslösung der Irrenden aus den regulären Sammelanstalten sowie deren separierte Unterbringung in Instituten mit medizinisch-therapeutischer Motivation, war in diesen Zeiten ein Novum. Um herauszuarbeiten, was Heilung in diesem Zusammenhang bedeutete, muss zunächst ein Blick auf die strukturellen Umstände dieser Form der Heilanstalt geworfen werden. Ein Zeitungsartikel des in Pirna ansässigen Amtsarztes Dr. Gottlieb Schmalz über das erste Jahr dieser Einrichtung gibt einen Einblick in die zeitgenössische Rezeption dieser vermeintlichen progressiven Musteranstalt der Irrenfürsorge. Die kritische Betrachtung dieses Berichts verdeutlicht dabei, dass es weniger um die Gewinnung neuer medizinischer Erkenntnissen ging, sondern vordergründig um die Schaffung neuer Ordnungsstrukturen, die letztlich in einer Weiterentwicklung der psychiatrischen Praxis mündeten.

  • von Anna-Maria Hünnes

    Im späten 19. Jahrhundert legte Wilhelm Pabst im Herzoglichen Museum Gotha eine Sammlung versteinerter Tierfußabdrücke an. Das Ausgraben, Erforschen, aber auch der Verkauf auf einem internationalen Markt erforderte eine Reihe von Helfern und Informanten. Um möglichst viele Informationen über die Objekte dauerhaft im Museum zu speichern und um die großen Sammlungsobjekte handhabbar zu machen, benötigte man zudem ein System der Datensicherung. Dafür wurden unter anderem Fotografien und ein ausgeklügeltes Verweissystem verwendet. Die bis heute erhaltene Sammlungsdokumentation zeigt anschaulich, wie aus vormaligem Baumaterial wissenschaftliche Quellen wurden.

  • von Vanessa Cirkel-Bartelt

    „The radioactive study of transmutation“, schrieb der britische Chemiker Frederick Soddy in seinem 1912 erschienenen Aufsatz „Transmutation, the Vital Problem of the Future“, „has revealed in matter an enormous and previously unsuspected store of energy compared with which all previously known sources of energy are shrinking into the merest insignificance.” Diese Feststellung ist äußerst bemerkenswert, bedeutet sie doch, dass Soddy hier vorschlägt, Atomenergie zu nutzen. Die einer solche Nutzung zugrundeliegende Kernspaltung sollte jedoch erst mehr als 25 Jahre später experimentell entdeckt und theoretisch erklärt werden. Der vorliegende Essay soll Soddys ungewöhnlichen Vorschlag, den er bereits kurz nach 1900 zum ersten Mal formuliert hatte und später noch öfter wiederholen sollte, im Kontext der Energiekrisen des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts betrachten und so die gefühlte Notwendigkeit erklären, nach alternativen Energiequellen suchen zu müssen. [...]

  • von Frank Hadler

    Wer die Zeichen einer durch tiefgreifende politische wie gesellschaftliche Umbrüche bestimmten Zeit für sein eigenes wissenschaftliches Tun erkennen und nutzen will, braucht erstens einen breiten Überblick, zweitens gute Pläne und drittens viel Selbstbewusstsein. Von den genannten drei Dingen besaß Bedrich Hrozný (1879–1952) offenbar reichlich, als er Ende 1919 angesichts der durch „Weltkrieg und Weltfrieden“ radikal veränderten Weltlage den hier gekürzt ins Deutsche übertragenen Zeitschriftenbeitrag zu Papier brachte. Dem Text kam für Hroznýs spätere, über weitere Zeitenwenden hinweg reichende berufliche Karriere als Wissenschaftler von europäischem Rang hohe Bedeutung zu. Dass der Name Hrozný bis heute weltweit in nahezu allen großen Lexika zu finden ist, gründet sich zuvorderst auf der Tatsache, dass er die dreieinhalbtausend Jahre alte, in Keilschrift geschriebene Sprache der Hethiter entschlüsselte und zudem den zweifelsfreien Nachweis ihrer Zugehörigkeit zur indoeuropäischen Sprachfamilie erbrachte. [..

  • von Steffi Marung

    Aus mindestens zwei Richtungen wären Nachfragen wegen der Themenwahl für diesen Essay zu erwarten. Zum einen: Waren russische und sowjetische Fachleute für außereuropäische Weltregionen Teil der europäischen wissenschaftlichen Gemeinschaft? Und zum anderen: Die hier vorzustellende Berufsgruppe beschäftigte sich nun gerade nicht mit Europa, sondern verfolgte ein professionelles Interesse an gänzlich anderen Weltregionen. Inwiefern kann also für sie ein Platz in diesem Band gefunden werden? Die erste Frage sei eingangs schon einmal eindeutig bejaht, bevor dies weiter unten näher erläutert wird. Und zur zweiten wird im Folgenden zu zeigen sein, dass der Bezug auf Europa bei der Herausbildung der russischen Orientalistik und der sowjetischen Afrikanistik seit dem 19. Jahrhundert eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte. [...]

  • von Konrad H. Jarausch

    Im Vergleich mit der offeneren Atmosphäre in England und Frankreich hatte die nationalsozialistische Vertreibung fortschrittlicher Historiker einen retardierenden Effekt auf die Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft. Auch ohne die Zwangsemigration nostalgisch zu verklären, kann man feststellen, dass dieser Aderlass eine dynamische Minderheit der Forscher eliminierte, die nicht nur die Weimarer Republik unterstützt hatten, sondern auch neue methodologische Wege gegangen waren. Die teils populistisch von NS-Studenten betriebene, teils legalistisch von diversen Ministerien verordnete Exklusion unliebsamer Wissenschaftler verdrängte innovative Nachwuchsforscher wie Eckhart Kehr, demokratische Historiker wie Hajo Holborn und renommierte jüdische Gelehrte wie Aby Warburg. Dadurch bekamen die konservativen und nationalistischen Fachvertreter wieder Oberwasser und die jüngere Generation orientierte sich eher in Richtung einer Volksgeschichte, wodurch sie sich international weitgehend isolierte. [...]

  • von Hasso Spode

    Im Jahr 1998 fand an der Evangelischen Akademie Loccum eine Expertentagung über den Zustand der Tourismusforschung statt. Die Zusammenkunft fiel in eine Zeit des gärenden Unbehagens mit der „Theorieferne“ der Tourismusforschung und deren marginaler Rolle im Wissenschaftsbetrieb. „Die Disziplin der Liliputaner“ überschrieb denn auch die Frankfurter Rundschau ihren Bericht. [...]

  • von Frank Henschel

    Wie ist es möglich, dass eine im verzweigten wissenschaftlichen Netzwerk Zentraleuropas entstandene Wissenschaftstheorie von Zeitgenossen beinahe unbeachtet blieb, mehrere Jahrzehnte später aber, an anderem Ort reformuliert, einen ganzen Wissenschaftszweig revolutionierte? Dazu ist allgemein zu sagen, dass wissenschaftliche Werke nicht ausschließlich durch ihren Inhalt oder neuartige Erkenntnisse berühmt werden, sondern in nicht unerheblichem Maße dadurch, ob und wenn ja wer, wann und wie sie rezipiert. So entschied der Faktor Rezeption maßgeblich die Entwicklung der Wissenschaftssoziologie. [...]

  • von Gangolf Hübinger

    Zur Eigenart der europäischen Geschichte gehört der Zusammenhang zwischen dem Handeln im Staat und dem Denken über den Staat. Diese Verbindung kann nicht einseitig aufgelöst werden. Weder lässt sich aus der Geschichte des europäischen Staatsdenkens das Handeln der herrschenden Eliten ableiten. Noch konnten die Fürsten oder die republikanischen Regierungen mit ihren Verwaltungsstäben den Wissenschaften auf Dauer diktieren, wie sie über Staat und von der Politik zu reflektieren haben. Immer herrscht eine komplizierte Wechselbeziehung. Für das neuzeitliche Denken über Staat und Politik, von der Epoche Machiavellis über Alexis de Tocqueville bis zu James Bryce im Zeitalter der Massendemokratie des 20. Jahrhunderts ist die Frage stets neu zu beantworten: Auf welche Weise führt ein struktureller Wandel politischer Herrschaft zu neuen Erkenntnisformen politischer Wissenschaft? [...]

  • von Ruediger vom Bruch

    Wahrlich, international war die Gelehrtenrepublik vor dem Ersten Weltkrieg. Man kannte sich, man las einander, korrespondierte miteinander, Fremdsprachen bildeten keine Barriere. Man traf sich auf internationalen Kongressen, publizierte in den gleichen Zeitschriften, beteiligte sich an Besuchsprogrammen wie etwa dem deutsch-amerikanischen Professorenaustausch, bei dem der deutsche Kaiser Wilhelm II. als Schirmherr den amerikanischen Präsidenten Roosevelt 1910 als Redner in Berlin begrüßte.[...]