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  • von Ines Soldwisch

    Die Kinder- und Jugendliteratur der DDR war von einer Publikationspraxis bestimmt, die sie deutlich von jener westlicher Länder unterschied: Über eine Buchveröffentlichung entschied nämlich nicht ein Verlag, sondern eine „angemessene“ Verknüpfung von Politik, Ideologie und Kultur. Was angemessen war, darüber entschied der Staat. Druckgenehmigungsverfahren und dazugehörige Gutachten waren das probate Mittel der Überprüfung und Absicherung des Staates in Gestalt des Ministeriums für Kultur, um das politisch geforderte Gesellschaftsbild durchzusetzen. So war es keine Seltenheit, dass Manuskripte von Autor:innen umgeändert wurden, damit sie diesem Anspruch entsprachen. Was den Fall der DDR jedoch besonders macht – denn Lektorate gab und gibt es in jedem Verlag –, sind die Akteure und ihre Motivation, mit eingereichten Manuskripten umzugehen. Dies galt für nationale und internationale Literatur. Am Beispiel des Kinderbuch-Klassikers „Pippi Langstrumpf“ wird im Folgenden paradigmatisch dargestellt, wie Gesellschafts- und Kulturpolitik in der Publikationspraxis Hand in Hand gingen. Zu betonen ist, dass hier ein Einzelfall untersucht wird, der nicht als Blaupause für die gesamte Literaturpraxis in der DDR aufgefasst werden darf.

  • von Helen Wagner

    Am 9. November 2014 jährte sich der Fall der Berliner Mauer zum 25. Mal und ließ angesichts des „von Jahrfünft zu Jahrfünft sich steigernde[n] Feierkult[s] um den Jahrestag des Mauerfalls“ ein besonderes Jubiläum erwarten. Zwar lenkt das Mauerfalljubiläum die öffentliche Aufmerksamkeit alljährlich auf die Öffnung der innerdeutschen Grenze, aber die Feierlichkeiten zum 25-jährigen Jubiläum sollten nicht nur an das Ereignis im Jahr 1989 erinnern, sondern selbst zum Ereignis werden. Ziel war es, ein dezidiert europäisch ausgerichtetes Jubiläum zu gestalten, weshalb unter anderem Michail Gorbatschow und Lech Wałęsa als Ehrengäste geladen waren und Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Rede beim zentralen Festakt die Verdienste der osteuropäischen Demokratiebewegungen als Wegbereiter der „Wende“ besonders hervorhob. Für große Aufmerksamkeit sorgte aber vor allem eine aufwendig inszenierte Lichtinstallation aus etwa 8.000 illuminierten Ballons, die den Verlauf der Berliner Mauer über eine Strecke von rund 15 Kilometern nachzeichneten. [...] In die vermeintlich von Leichtigkeit und Euphorie geprägten Jubiläumstage mischten sich auch die von Begeisterung bis Empörung reichenden Reaktionen auf eine weitere Kunstaktion, die das historische Jubiläum nicht primär zur Erinnerung an die Vergangenheit, sondern zur politischen Gegenwartskritik nutzte. Dieser Beitrag stellt die Aktion anhand einer Videoquelle vor und erläutert daran zum einen, wie die performative Umdeutung erinnerungskultureller Praktiken als politisches Instrument genutzt wurde, und zum anderen, welche Bedeutung dem Mauerfalljubiläum im Speziellen und Jubiläen im Allgemeinen in der deutschen und europäischen Erinnerungskultur zukommt.

  • von Eric Burton

    Im Zentrum dieses Essays steht die Frage, in welcher Form die Funktionäre der Union der Afrikanischen Studenten und Arbeiter Rassismuskritik übten und was sich daraus zur politischen Rolle und Selbstverortung dieser afrikanischen Studenten in der DDR ablesen lässt. Die fünf eng bedruckten Seiten des Schreibens mit dem Titel „Besorgnisse der afrikanischen Studenten und Arbeiter in der DDR“ sind Zeugnis einer Gratwanderung – und Ausdruck einer Legitimationskrise der UASA selbst. Mit Bezug auf die DDR lässt sich mit dem Schreiben die Frage weiterverfolgen, wie und wo Menschen aus dem europäischen und außereuropäischen Ausland Teil der DDR-Gesellschaft waren und diese prägten

  • von Maria Bühner

    „Aber in Erinnerung an diese erste Frau und im endlich beginnenden Nachdenken, was meine Gefühle gegenüber Frauen betraf, fing ich an, diese Alternative in Erwägung zu ziehen, mit einer Frau zu leben. Ich bildete mir aber ein, in dieser Stadt die einzige Lesbe zu sein – die Lesbe, das war mir damals noch nicht so klar – die einzige Frau zu sein, die so empfindet.“ [...]

  • von Annelie Ramsbrock

    Deutschland ist neben der Tschechischen Republik eines von wenigen Ländern Europas, in dem die chirurgische Kastration (Orchiektomie) im Rahmen der Behandlung von Sexualstraftätern bis heute per Gesetz erlaubt ist. Erlassen wurde das Gesetz über die freiwillige Kastration und andere Behandlungsmethoden (KastrG) im August 1969; Anwendung fand die Orchiektomie seitdem nur selten, nicht zuletzt, weil chemische, hormonelle und psychotherapeutische Behandlungsmethoden zunehmend an Bedeutung gewannen. Dennoch: Dass die Bundesrepublik die chirurgische Kastration für Sexualstraftäter überhaupt anbietet, wurde im August 2010 vom Europäischen Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) beanstandet.

  • von Siegfried Lokatis

    Europa im Kopf hieß aus gutem Grund eine Ausstellung, die 2003 in Eisenhüttenstadt stattfand. Sie war einem einzigen DDR-Verlag gewidmet, dem Verlag Volk und Welt, dem führenden und mit Abstand bedeutendsten Verlag für internationale Gegenwartsliteratur, der, Tomas Tranströmer mitgerechnet, nicht weniger als 43 Nobelpreisträger zu seinen Autoren zählte. Damit nahm der Verlag im Zensursystem der DDR die Funktion eines unverzichtbaren Filters ein. Hier hatte sich im Verlauf von drei Jahrzehnten ein hochspezialisiertes Team von über zwanzig Lektoren mit einer wohl einmaligen Kompetenz für alle inhaltlich-ästhetischen Fragen der romanischen, englischsprachigen, slawischen, germanistischen – kurz der internationalen und Weltliteratur herausgebildet, das zugleich über ein grandioses Expertenwissen verfügte, wenn es um Fragen der Zensur ging. [...]

  • von Thomas Höpel

    Beim Projekt der SED, in der DDR eine sozialistische Gesellschaft zu schaffen, spielten Kultur und Bildung eine entscheidende Rolle. Sie sollten bei der Emanzipation der Arbeiter und Bauern helfen und zur Schaffung des „Neuen Menschen“ besonders im Zuge der „sozialistischen Kulturrevolution“ ab 1957 beitragen. Um dieses Projekt flächendeckend zu realisieren, setzte die SED auf hauptberufliche Kulturfunktionäre als zentrales Instrument. Seit Ende der 1950er-Jahre entstand ein breitgefächertes Qualifizierungs- und Ausbildungssystem für Kulturfunktionäre und Kulturarbeiter, das an der Spitze ein Hochschulstudium für Kulturwissenschaften vorsah. Professionelle Kulturfunktionäre sollten fortan die „sozialistische Kulturrevolution“ an der Basis durchsetzen. Sie waren einerseits abhängig von der staatlichen Partei- und Kulturbürokratie, kannten andererseits aber auch die Bedürfnisse und Nöte auf lokaler und regionaler Ebene und sollten die zentralen Direktiven den örtlichen Gegebenheiten gemäß umsetzen. [...]

  • von Belinda Davis

    The image below represents a flyer put out by the Evangelische Studenten-Gemeinden Westberlin (ESG), calling for viewers to stand up for peace, by attending a demonstration to be held on the occasion of American President Ronald Reagan’s visit to West Berlin, in June 1982. The specific concern is to prevent the stationing of new nuclear weapons across Europe, in the Cold War West and East. Europeans are implicitly represented in the person of a female protester who, though in dress and heels, demonstrates sufficient strength to kick away an unwanted nuclear rocket. The message seems forthright and quite simple. But as an exemplar of the era’s iconography, the flyer would have communicated a range of meanings and associations. One of thousands of such images and associated texts in West Germany/West Berlin alone, the flyer was part of a popular political movement across NATO-allied Europe, protesting NATO’s new “double-track” strategy of rearmament alongside continued détente. [...]

  • von Pascal Eitler

    Als Symptome eines vehementen und rapiden Bedeutungsverlustes von Kirche und kirchengebundener Religion in Deutschland wurden die zunehmenden Kirchenaustritte und gesellschaftliche Entwicklungen wie ansteigende Scheidungszahlen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gesehen. Der vorliegende Beitrag rekonstruiert dagegen die Diskurse der Zeit, um die Stellung der Kirche in der Gesellschaft kommunikationsgeschichtlich zu analysieren. Dabei werden zum einen die Politische Theologie und ihre zentralen Deutungsmuster, Leitbegriffe und Argumentationsweisen und daraus resultierende semantische Verschiebungen betrachtet. Zum anderen werden die historischen Bedingungen in den Blick genommen, unter denen die „Wende zur Welt“ der Kirche zu einem gesellschaftlich relevanten Thema wurde. Die Präsenz des Themas in der damaligen Presse wird zu einem Beleg für die gesellschaftliche Relevanz von Kirche und Religion um 1968.

  • von Ina Merkel

    Zu Beginn der 90er Jahre stieß ich bei Recherchen im Deutschen Rundfunkarchiv auf den ungewöhnlichen Aktentitel: „Zeitgeist-Sammlung“. Dahinter verbargen sich mehrere Ordner mit Zuschauerbriefen. Die Mitarbeiter des Büros für Zuschauerpost beim Fernsehen der DDR hatten in Eigeninitiative jeweils 150 exemplarische Zuschriften eines Jahres, das waren etwa 5 Prozent aller Posteingänge, aufgehoben, anstatt sie nach 5 Jahren zu kassieren, wie es die Vorschriften vorsahen.[...]