Essays/

Sortieren nach:
  • von Ines Soldwisch

    Die Kinder- und Jugendliteratur der DDR war von einer Publikationspraxis bestimmt, die sie deutlich von jener westlicher Länder unterschied: Über eine Buchveröffentlichung entschied nämlich nicht ein Verlag, sondern eine „angemessene“ Verknüpfung von Politik, Ideologie und Kultur. Was angemessen war, darüber entschied der Staat. Druckgenehmigungsverfahren und dazugehörige Gutachten waren das probate Mittel der Überprüfung und Absicherung des Staates in Gestalt des Ministeriums für Kultur, um das politisch geforderte Gesellschaftsbild durchzusetzen. So war es keine Seltenheit, dass Manuskripte von Autor:innen umgeändert wurden, damit sie diesem Anspruch entsprachen. Was den Fall der DDR jedoch besonders macht – denn Lektorate gab und gibt es in jedem Verlag –, sind die Akteure und ihre Motivation, mit eingereichten Manuskripten umzugehen. Dies galt für nationale und internationale Literatur. Am Beispiel des Kinderbuch-Klassikers „Pippi Langstrumpf“ wird im Folgenden paradigmatisch dargestellt, wie Gesellschafts- und Kulturpolitik in der Publikationspraxis Hand in Hand gingen. Zu betonen ist, dass hier ein Einzelfall untersucht wird, der nicht als Blaupause für die gesamte Literaturpraxis in der DDR aufgefasst werden darf.

  • von Felix Ackermann

    Robert Geißler stellte 1884 das Berliner Gefängnis in der Lehrter Straße in einer anschaulichen Grafik als idealtypisches Gebäude für den Strafvollzug in Preußen dar. In der Komposition von acht Holzschnitten ordnet der Grafiker Innen- und Außenansichten des Moabiter Gebäudekomplexes so an, dass die Isolationshaft nicht als Strafe, sondern in erster Linie als Mittel zur Besserung der Einzelnen erscheint. Die in der Jahresillustrierten <em>Das Buch für alle</em> erschienene Darstellung verdeutlicht, wie im Deutschen Reich der Fortschrittsgedanke der Moderne auf das Individuum der verurteilten StraftäterIn übertragen wurde. In der vorliegenden Bildanalyse möchte ich zwei Aspekte herausarbeiten, die von den HerausgeberInnen des Projekts „Ambivalenzen der Europäisierung“ stark gemacht werden [...]

  • von Caroline Rothauge

    Die Kritik an der Zeitumstellung ist mittlerweile wieder verbreitet, wie eine von der Europäischen Kommission im Juli und August 2018 durchgeführte öffentliche Konsultation ergab. So intensiv teilweise über Vorzüge von Sommer- oder Winterzeit debattiert wird, so selten wird grundsätzlich reflektiert, an welcher historisch gewordenen amtlichen Zeit wir uns überhaupt orientieren. In Deutschland ist dies die Mitteleuropäische Zeit (MEZ), und zwar seit dem 1. April 1893 – dem Tag, an dem das Gesetz, betreffend die Einführung einer einheitlichen Zeitbestimmung in Kraft trat.

  • von Carolin Kosuch

    Der Umgang, den Gesellschaften mit ihren Minderheiten, mit als andersartig oder fremd Empfundenen, mit Flüchtlingen und als „Randgruppe“ Klassifizierten pflegen, steht nicht nur in Europa in einer wechselvollen Tradition. Gerade auch der jüdischen Bevölkerung europäischer und außereuropäischer Staaten schlugen und schlagen bis heute Gefühle der Ambivalenz, der Abneigung, des Unverständnisses und der Befremdung entgegen. [...]

  • von Siegfried Lokatis

    Europa im Kopf hieß aus gutem Grund eine Ausstellung, die 2003 in Eisenhüttenstadt stattfand. Sie war einem einzigen DDR-Verlag gewidmet, dem Verlag Volk und Welt, dem führenden und mit Abstand bedeutendsten Verlag für internationale Gegenwartsliteratur, der, Tomas Tranströmer mitgerechnet, nicht weniger als 43 Nobelpreisträger zu seinen Autoren zählte. Damit nahm der Verlag im Zensursystem der DDR die Funktion eines unverzichtbaren Filters ein. Hier hatte sich im Verlauf von drei Jahrzehnten ein hochspezialisiertes Team von über zwanzig Lektoren mit einer wohl einmaligen Kompetenz für alle inhaltlich-ästhetischen Fragen der romanischen, englischsprachigen, slawischen, germanistischen – kurz der internationalen und Weltliteratur herausgebildet, das zugleich über ein grandioses Expertenwissen verfügte, wenn es um Fragen der Zensur ging. [...]

  • von Harald Homann und Verena Ott

    Im Zuge der Ausprägung kultur- und alltagshistorischer Fragestellungen, darauf hat Hannes Siegrist aufmerksam gemacht, wird auch die Geschichte des Konsums zunehmend auf der Ebene der dazugehörigen Aneignungs- und Deutungsprozesse untersucht. War der Konsum ursprünglich eher ein Thema der wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Forschung, werden seither auch deutungsorientierte Fragestellungen und Probleme der kulturellen Repräsentation durch Konsum, wie sie in den Sozialwissenschaften prominent sind, in die historische Forschung einbezogen. Je länger und intensiver unter dieser Perspektive geforscht wird, desto deutlicher wird, dass in modernen Gesellschaften die soziale Wirklichkeit einer permanenten Aushandlung unterliegt. Das gilt auch und gerade für den modernen Konsum. [...]

  • von Jürgen Kocka

    Die Klage über ihre soziale Unterschätzung war unter deutschen Ingenieuren an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert weit verbreitet, jedenfalls ihre Sprecher und Funktionäre ließen daran keinen Zweifel. Vor dem Nürnberger Bezirksverein Deutscher Ingenieure hat das Wilhelm Franz, Maschinenbauprofessor an der Technischen Hochschule (TH) Charlottenburg, 1908 bündig vorgetragen. Im Gegensatz zur wachsenden Bedeutung der Technik für Kultur und Gesellschaft seien die „Intellektuellen der Technik“, die Ingenieure, sozial unterprivilegiert und politisch einflusslos. Anders als die Juristen nähmen sie in der staatlichen Verwaltung und in den gesellschaftlichen Organisationen meist keine führenden, sondern nur untergeordnete Positionen ein. Das müsse sich ändern. [...]

  • von Jörg Hackmann

    Die Proklamation der „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ am 5. August 1950 im Kursaal von Bad Cannstadt nimmt einen festen Platz in der Erinnerungskultur der deutschen Vertriebenenverbände ein. Regelmäßig zu den runden Jahrestagen, wie in diesem Jahr mit einem Festakt im Stuttgarter Schloss, wird ihr Charakter als ein Dokument von „unschätzbarer Bedeutung“ für Europa aufs Neue hervorgehoben. In der „Charta“ verzichteten die Vertreter der Landsmannschaften und der zentralen Vertriebenenverbände auf „Rache und Vergeltung“ für das erlittene Unrecht und proklamierten ihre Bereitschaft, sich am Aufbau eines neuen Europa zu beteiligen. [...]

  • von Pascal Eitler

    Als Symptome eines vehementen und rapiden Bedeutungsverlustes von Kirche und kirchengebundener Religion in Deutschland wurden die zunehmenden Kirchenaustritte und gesellschaftliche Entwicklungen wie ansteigende Scheidungszahlen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gesehen. Der vorliegende Beitrag rekonstruiert dagegen die Diskurse der Zeit, um die Stellung der Kirche in der Gesellschaft kommunikationsgeschichtlich zu analysieren. Dabei werden zum einen die Politische Theologie und ihre zentralen Deutungsmuster, Leitbegriffe und Argumentationsweisen und daraus resultierende semantische Verschiebungen betrachtet. Zum anderen werden die historischen Bedingungen in den Blick genommen, unter denen die „Wende zur Welt“ der Kirche zu einem gesellschaftlich relevanten Thema wurde. Die Präsenz des Themas in der damaligen Presse wird zu einem Beleg für die gesellschaftliche Relevanz von Kirche und Religion um 1968.

  • von Heinrich Best

    In einem Langzeitvergleich der Rekrutierung von Abgeordneten in die Nationalparla¬mente Deutschlands und Frankreichs werden der Wandel der politischen und gesell¬schaftlichen Machtorganisation und der Effekt von Veränderungen der institutionellen Regeln des Machterwerbs in beiden Ländern untersucht. Dabei zeigen sich bis zum Zweiten Weltkrieg deutliche Unterschiede in den Modi parlamentarischer Repräsentation mit einer kontinuierlichen Dominanz des „Intermediärs“ in Frankreich und einem massi¬ven Bedeutungsgewinn des „Funktionärs“ in Deutschland. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird der öffentliche Dienst in beiden Ländern zur Hauptquelle parlamentarischer Rekru¬tierung, wobei in Frankreich die geringe Vertretung von Frauen und das cumul als Mittel der Karrierisierung fortdauernde Besonderheiten bilden.

  • von Ina Merkel

    Zu Beginn der 90er Jahre stieß ich bei Recherchen im Deutschen Rundfunkarchiv auf den ungewöhnlichen Aktentitel: „Zeitgeist-Sammlung“. Dahinter verbargen sich mehrere Ordner mit Zuschauerbriefen. Die Mitarbeiter des Büros für Zuschauerpost beim Fernsehen der DDR hatten in Eigeninitiative jeweils 150 exemplarische Zuschriften eines Jahres, das waren etwa 5 Prozent aller Posteingänge, aufgehoben, anstatt sie nach 5 Jahren zu kassieren, wie es die Vorschriften vorsahen.[...]