Der Themenschwerpunkt „Geschichte des Sozialen Europa im 20. und 21. Jahrhundert“ behandelt Aspekte der Entwicklung der sozialer Verhältnisse und Politiken innerhalb der europäischen Gesellschaften und thematisiert Wechselwirkungen zwischen sozialen Bewegungen, politischen Ideologien, kulturellen Prägungen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Er fokussiert auf ein integratives Verständnis des Sozialen Europa, das über nationale Grenzen hinausgeht. In seinem Forschungsbericht hebt Hartmut Kaelble die Notwendigkeit hervor, die Wechselwirkungen zwischen nationalen Wohlfahrtsstaaten und internationaler Sozialpolitik analytisch zu betrachten und identifiziert vier Entwicklungsphasen der sozialen Sicherung in Europa. Zudem umfasst der Themenschwerpunkt sieben Essays, die exemplarische Themen wie soziale Gerechtigkeit, Gleichstellung oder den Einfluss internationaler Organisationen auf die europäische Sozialpolitik behandeln, wodurch ein Einblick in die historische und gegenwärtige Komplexität des Sozialen Europa gegeben wird.
Dieser Artikel behandelt die Geschichte des sozialen Europas in seiner ganzen Breite und stützt sich auf die disparate Forschung nicht nur zur Geschichte der nationalen Wohlfahrtsstaaten in Europa, sondern auch zur internationalen Sozialpolitik seit 1880er Jahren und zur Sozialpolitik der Europäischen Gemeinschaft bzw. der Europäischen Union. Er berücksichtigt geschichtswissenschaftliche, soziologische und politikwissenschaftliche Forschung in englischer, französischer und deutscher Sprache. Er behandelt dazu vier Themen: die allgemeinen Tendenzen des Wohlfahrtsstaates in Europa, die sich oft, aber nicht immer scharf von der globalen Entwicklung abhoben; die Entwicklung der Unterschiede zwischen den europäischen Wohlfahrtsstaaten, die sich stark wandelten und nach dem Zweiten Weltkrieg stückweise abnahmen; der transnationale Austausch über den Wohlfahrtsstaat, der von internationalen Organisationen befördert und von internationalen Experten getragen keineswegs immer spannungsfrei ablief; und schließlich die Sozialpolitik der Europäischen Gemeinschaft bzw. der Europäischen Union, deren Anfänge schon in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg liegen und die vor allem seit den 1980er Jahren ihre heutige, oft unterschätzte Bedeutung erhielt.
Alice Salomon (1872–1948), die als wichtigste Begründerin des sozialen Berufs und als Pionierin einer kritischen Sozialarbeit in Deutschland gelten kann, beteiligte sich an der Organisation des ersten internationalen Kongresses für Soziale Arbeit, der 1928 in Paris stattfand. Im Artikel werden die Vorgeschichte wie auch die weiteren Entwicklungen, insbesondere die Gründung der International Association of Schools of Social Work (IASSW), in der Zwischenkriegszeit beschrieben.
Der Beitrag behandelt grenzüberschreitende Arbeiterproteste im Dreiländereck zwischen Belgien, Deutschland und den Niederlanden, mit besonderem Fokus auf das Aachener Grenzlandtreffen von 1930. Basierend auf der Analyse eines Artikels aus der Rheinischen Zeitung stellt der Beitrag die Akteure der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit vor und zeigt ihre Bemühungen, angesichts der vielfältigen Herausforderungen der 1930er Jahre solidarische Strategien zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu entwickeln. Letztlich sollte so ein grenzüberschreitenden Sozialraum im Dreiländereck geschaffen werden.
Die soziale Dimension der Europäischen Gemeinschaften (EG) war bis in die 1970er-Jahre recht vage und fragmentiert. Damit war das Europäische Parlament (EP) bereits in den 1950er- bis 1970er Jahren nicht zufrieden. Ein demokratisches Gemeinschaftsprojekt, so die Mehrheit der Abgeordneten, benötige eine Bevölkerung, die sich des greifbaren Mehrwertes der Gemeinschaften bewusst ist – nicht zuletzt durch eine spürbare Verbesserung ihrer eigenen Lebens- und Arbeitsbedingungen. Dieser Essay beleuchtet am konkreten Beispiel der Entgeltgleichheit, wie EP-Abgeordnete schon vor den großen EU-Verträgen der 1980er- bis 2000er-Jahre versuchten, die soziale Dimension der EG und damit gleichzeitig die Rolle ihrer eigenen Institution als „Stimme des Volkes“ zu stärken.
Bis in die Siebzigerjahre hatten die meisten Länder (West-)Europas wirtschaftlichen Aufschwung erlebt, der zu einer Reduzierung der ökonomischen Ungleichheit in diesen Ländern führte. Dies änderte sich rapide durch einen tiefgreifenden Strukturwandel in den westeuropäischen Ökonomien im Nachgang der multiplen Krisen der Siebzigerjahre. Eine der einschneidendsten Konsequenzen dieses Strukturwandels war die Verschiebung eines erheblichen Teils des Erwerbspersonenpotenzials aus dem sekundären in den tertiären Sektor. Dies sorgte in vielen europäischen Ländern zu einer Veränderung der Lohnstruktur, verbunden mit einer Verschiebung vieler Erwerbspersonen in einen zeitgenössisch zu schaffenden und auch zu definierenden Niedriglohnsektor. Diesen Prozessen lag auch die Vorstellung zu Grunde, dass der beste Schutz gegen Armut Erwerbstätigkeit sei. Letztlich führte die Ausweitung der Niedriglohnsektoren aber vor allem zur Entwicklung von Erwerbstätigenarmut zum Massenphänomen. Ende der 1990er verfasste der europäische Rat eine entsprechende Arbeitsmarktstrategie, die in den europäischen Länder in verschiedenen Ländern in Form von aktivierenden Arbeitsmarktreformen aufgegriffen wurde.
The report of Dr. Ralf Wagenführ, an expert in economics and statistics, on the Schuman Plan was published in April 1951 in the union press, explained the advantages, obstacles and challenges of the Schuman Plan from the perspective of an important participant for the West German unions at the Schuman Plan negotiations. Not just in the field of politics and economics, but also concerning social achievements the contract of the European Coal and Steel Community (ECSC) was a milestone, that shaped the European integration project far beyond the early fifties and showed the specific influence and central role of the West German unions within those early European projects.
Art 51 EWGV regte das europäische koordinierende Sozialrecht an. Es schuf eine Grundlage für das Soziale Europa. Es verknüpft die in den Sozialleistungssystemen der Mitgliedstaaten begründeten sozialen Rechte miteinander und entfaltet sie transnational. Das nach Art. 51 EWGV geschaffene System geht über die Zusammenrechnung von Versicherungszeiten und die Ausfuhr von Geldleistungen hinaus. Es verbindet die Sozialrechte der Mitgliedstaaten systematisch, indem es deren Kollisionsnormen vereinheitlicht und durch Koordinationsnormen den im Recht eines Mitgliedstaates begründeten Ansprüchen die EU-weite Wirkung sichert.
The article deals with the history of social Europe in its entirety and draws on the scattered research not only on the history of national welfare states in Europe but also on international social policy since the 1880s and on the social policy of the European Community and its successor, the European Union. It takes into account historical, sociological and political science research in English, French and German. It covers four topics: the general development of the welfare state in Europe, which often, but not always, contrasts sharply with global developments; the variations between European welfare states, which have changed considerably and decreased gradually after the Second World War; the transnational exchange on the welfare state, which was promoted by international organisations and carried by international experts, was by no means always free of tension; and finally, the social policy of the European Community and the European Union, respectively, whose beginnings date back to the period before the First World War and which has acquired its current, often underestimated significance since the 1980s.
Robert Geißler stellte 1884 das Berliner Gefängnis in der Lehrter Straße in einer anschaulichen Grafik als idealtypisches Gebäude für den Strafvollzug in Preußen dar. In der Komposition von acht Holzschnitten ordnet der Grafiker Innen- und Außenansichten des Moabiter Gebäudekomplexes so an, dass die Isolationshaft nicht als Strafe, sondern in erster Linie als Mittel zur Besserung der Einzelnen erscheint. Die in der Jahresillustrierten <em>Das Buch für alle</em> erschienene Darstellung verdeutlicht, wie im Deutschen Reich der Fortschrittsgedanke der Moderne auf das Individuum der verurteilten StraftäterIn übertragen wurde. In der vorliegenden Bildanalyse möchte ich zwei Aspekte herausarbeiten, die von den HerausgeberInnen des Projekts „Ambivalenzen der Europäisierung“ stark gemacht werden [...]
Der Umgang, den Gesellschaften mit ihren Minderheiten, mit als andersartig oder fremd Empfundenen, mit Flüchtlingen und als „Randgruppe“ Klassifizierten pflegen, steht nicht nur in Europa in einer wechselvollen Tradition. Gerade auch der jüdischen Bevölkerung europäischer und außereuropäischer Staaten schlugen und schlagen bis heute Gefühle der Ambivalenz, der Abneigung, des Unverständnisses und der Befremdung entgegen. [...]
The English preface to the collection Family in Transition. A Study of 300 Yugoslav Villages (Princeton 1966), previously published in (Serbo-)Croatian as Porodica u Transformaciji (Zagreb, 1964), is an epic tale of human resistance and solidarity in uncertain and dangerous times. The book Family in Transition, in fact, came into being not as an ordinary piece of academic research, but as an extraordinary collective project, started on the eve of the invasion, occupation and division of Yugoslavia by the Axis powers. [...]
Mit der Finanzkrise in Europa wurde deutlich, wie wichtig staatenübergreifende politische und gesellschaftliche Selbstreflexion für die Kommunikation über die herrschende Situation ist. Voraussetzung für eine solche Selbstreflexion ist das Wissen und die Erinnerung an Ursprünge und Wege. Die Schritte, die zur europäischen Gemeinschaft geführt haben und einen der Kontexte des Essays bilden, sind weitgehend bekannt. Wilfried Loth teilt den Weg zur Europäischen Union in acht Phasen ein. Wir befassen uns mit den ersten beiden Phasen, den Gründerjahren 1948–1957 und den Aufbaujahren 1958–1963, nicht mehr dagegen mit der dritten Phase, der Krisen der Sechser-Gemeinschaft 1963–1969. Wichtige Akteure auf diesem Weg waren die Franzosen Robert Schuman und Jean Monnet, der Italiener Alcide De Gasperi, der Belgier Paul-Henri Spaak und der Deutsche Konrad Adenauer. Sie alle hatten Kriegszeiten wie auch Zwischenkriegszeiten erlebt und sie verband eine kulturelle Aufgeschlossenheit. [...]
Bürgersteige und Straßen sind wie leergefegt. Nur drei Männer in Gehrock und mit Zylinder begleiten ihre eigenen Schatten über eine Verkehrsinsel, während zwei Kutschen durch das Bild schleichen. Auf dem Pflaster lassen sich noch die vagen Umrisse von zwei Frauen mit Sonnenschirm erahnen, die im gleißenden Mittagslicht dahinzuschmelzen scheinen. Wohl kaum ein Maler des französischen Impressionismus hat die gewaltige städtebauliche Umgestaltung und die mit ihr einhergehenden sozialen Umwälzungen, die Paris unter Napoléon III. erfuhr, so zu seinem Motiv gemacht, wie Gustave Caillebotte. Es sei nur sein ikonisches Gemälde Rue de Paris, temps de pluie (1877) genannt, in dem die modische Pariser Bourgeoisie mit ihren Regenschirmen über die Boulevards und Trottoirs promeniert. [...]
Am Beginn des 20. Jahrhunderts kamen die Abgeordneten des Landtags (Sabor) des Königreichs Kroatiens, Slawoniens und Dalmatiens einige Male auf das Thema Emigration zu sprechen. Dies war nicht weiter verwunderlich angesichts der Dimension der Amerikaauswanderung aus Kroatien. Gemäß der offiziellen Emigrationsstatistik wanderten von 1899 bis 1914 rund 207.000 Menschen aus Kroatien aus, davon mehr als 170.000 nach Nordamerika, wobei noch viel mehr Emigrationspässe ausgestellt wurden. Kroatien stand damit nicht alleine, sondern spiegelte den Gesamttrend der Habsburger Monarchie wider, die Anfang des 20. Jahrhunderts zum wichtigsten Sendeland von Einwanderern in die USA geworden war. Mehrfach forderten Abgeordnete des kroatischen Landtags die Landesregierung mit Interpellationen auf, in das Emigrationsgeschehen einzugreifen. [...]
Die Dreyfus-Affäre wird meist als eine politische und moralische Krise mit tiefen Wirkungen auf die französische Gesellschaft oder die diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich betrachtet. Sie ist aber auch ein Kristallisationspunkt für die europäische öffentliche Meinung. Die Ereignisse und Entwicklungen in der Affäre, die Debatten und die Leidenschaften, die sie entfachte, und auch der Kampf um die Werte von Gerechtigkeit und Wahrheit, den sie vorantrieb, bildeten die ersten Momente eines europäischen Gewissens. Es manifestierte sich auf unterschiedliche Weise: durch Petitionen, Zeitschriften, Illustrationen, Karikaturen, Zeichnungen in der Tagespresse, Plakate, Postkarten und vieles mehr. All diese Medien verband, dass sie sich für eine rasche kollektive Mobilisierung eigneten, leicht reproduzierbar waren und zur Massenkultur gehörten. [...]
Si l’affaire Dreyfus est le plus souvent considérée comme une crise politique et morale aux profondes répercussions sur la société française ou sur les relations diplomatiques entre la France et l’Allemagne, c’est aussi un moment de cristallisation de l’opinion publique européenne. En effet, les développements de l’Affaire, mais aussi les débats et les passions qu’elle suscita, de même que les valeurs de justice et de vérité qu’elle mobilisa, constituent les premiers moments d’une conscience européenne. Celle-ci s’exprima à travers différents supports – pétitions, périodiques, illustrations, caricatures, dessins de presse, affiches, cartes postales… – qui avaient tous en commun de se prêter à des modes rapides de mobilisation collective, d’être aisément reproductibles et d’appartenir à la culture de masse. [...]
Nach dem Ersten Weltkrieg standen die Staaten Ostmittel- und Südosteuropas unter erheblichem Druck, den Charakter ihrer Staatlichkeit den Herausforderungen anzupassen, die durch Prozesse der Industrialisierung und Urbanisierung sowie durch Agrarreformen und das allgemeine (Männer-)Wahlrecht entstanden waren. In Gestalt von Industriearbeitern und Grund besitzenden Kleinbauern hatten die Massen die Bühne betreten, auf der ihre Interessenvertreter politische und soziale Teilhabe forderten. Große Teile der akademisch gebildeten Elite sahen darin eine Herausforderung, der man mit den Mitteln der Honoratioren- und Klientelparteien in einem durch Improvisation geprägten Politikprozess nicht mehr gerecht werden konnte. Überall im östlichen Europa entstanden Institutionen, die – oftmals angelehnt an westeuropäische Vorbilder – Prozesse in Gang setzten, die man mit Lutz Raphael als Verwissenschaftlichung des Sozialen und als Professionalisierung des Politischen charakterisieren kann. [...]
Eine der vielen Analysen des Konsumverhaltens, wie sie der kombinierte Aufstieg von Massenkonsum und empirischer Sozialforschung in den 1960er-Jahren hervorbrachte, widmete sich unter anderem dem Gebrauch von Schönheitsmitteln im europäischen Vergleich. Wie so häufig wurde auch diese Konsumstudie von einer Zeitschrift in Auftrag gegeben, um gezielter Werbeanzeigen akquirieren zu können. Da es hier um das Kerngeschäft der Kunden ging, war Verlässlichkeit wichtig, sodass derartige Studien, durchgeführt von etablierten Meinungsforschungsinstituten, in der Regel keine Reliabilitätsprobleme aufwiesen. Wie die großen Untersuchungen etwa im Auftrag des Spiegel oder der BRAVO erfassten sie zumeist das Konsumverhalten im nationalen Maßstab, da nahezu alle Publikumszeitschriften an den Grenzen ihrer Länder endeten. [...]
Alfred Grosser brachte um 1970 alle Voraussetzungen mit, um über französische und deutsche Intellektuelle zu schreiben. In Frankfurt am Main 1925 geboren, lebte er seit der Emigration seiner Familie 1933 in Frankreich. Er wurde zuerst Germanist, wechselte bald zur Politikwissenschaft, lehrte seit 1955 an der Science Po, daneben auch an anderen der prestigereichen grandes écoles, schrieb seit 1965 regelmäßig für Le Monde und hatte schon eine ganze Reihe von französischen und deutschen Büchern über Deutschland veröffentlicht. Alfred Grosser hatte sich schon immer für die deutsch-französische Verständigung eingesetzt, war schon als junger Mann 1948 Mitglied des Comité français de relations avec l’Allemagne nouvelle und gehörte um 1970 neben Joseph Rovan und Robert Minder zu den international bekannten, französischen Brückenbauern zwischen Frankreich und Deutschland. Er erhielt 1975 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. [...]