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  • von Ekaterina Makhotina

    Am 5. März 1989 trat Grigori Kanovic vor der jüngst gegründeten Jüdischen Kulturgemeinde Litauens auf. In einer flammenden Rede sprach der litauisch-jüdische Schriftsteller vom Neubeginn für das jüdische kulturelle Leben in Litauen und vom Aufbruch der Erinnerung an die Shoah, einer Erinnerung, die lange Jahre unterdrückt worden war. Das Motto seiner Rede – Geh und fürchte Dich nicht – ist ein Aufruf an die Bürger Litauens jüdischer Herkunft, an die wenigen Überlebenden und die aus der Sowjetunion zugezogenen jüdischen Immigranten, die Geschichte des jüdischen Schicksals während des Zweiten Weltkriegs ohne Furcht und Scham zu erinnern, diese gar als zentralen identitätsstiftenden Bestandteil der jüdischen Schicksalsgemeinschaft gelten zu lassen. In der bewussten Wahl und durch häufige Wiederholung des alttestamentarischen Satzes, mit welchem ursprünglich Gott dem jüdischen Vorvater Abraham Mut zugesprochen hatte, bekommt das Motiv des Weiterlebens des Jüdischen hier eine besonders starke Akzentuierung.[...]

  • von Dorothea Trebesius

    Der vorliegende Beitrag zeigt anhand der Entwicklung des Komponistenberufs in der DDR, wie ein sozialistischer Staat, der sich als Repräsentant und Träger der ‚fortschrittlichen’ deutschen wie europäischen Kultur und Kunst begriff, den gesellschaftlichen und beruflichen Umgang mit „ernsthafter Musik“ regelte. Traditionelle Formen einer staatlichen Kunst- und Kulturpolitik, die sich auf die Herstellung, Vermittlung und den Nutzung von Werken, Ausdrucksformen und Wissen konzentriert, wurden dabei umdefiniert – und ergänzt durch eine Künstlerpolitik, die sich auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen, die Qualifikation, das Berufsethos, ästhetische Standards, moralische Einstellungen und das gesellschaftliche Verhalten des „sozialistischen Künstlers“ richtete. Das soll im Folgenden exemplarisch an der Professionalisierung des Komponisten durch den Staat, die Partei und die Komponisten gezeigt werden. [...]

  • von Nils Freytag

    Die 1970er und 1980er Jahre sind in umweltpolitischer Sicht eine Boomzeit. Umweltorganisationen und ökologische Parteien stiegen zu politischen Größen auf und die Regierungsaktivitäten auf nationaler, europäischer wie globaler Ebene nahmen vor dem Hintergrund aufgeregter Debatten um „Waldsterben“ und „Ozonloch“ zu. Während ersteres mit Namen wie „Greenpeace“ und „Die Grünen“ verbunden ist, steht für letzteres etwa das Montrealer Protokoll, das 1987 zum Schutz der Ozonschicht die Reduktion und das Verbot von Fluorchlorkohlenwasserstoffe einleitete. Untrennbar verknüpft ist diese Politisierung mit den großen Öko-Katastrophen jener Epoche, die das gesellschaftliche Bewusstsein für die Schutzwürdigkeit der natürlichen Umwelt des Menschen schärften. Neben dem Reaktorunfall von Tschernobyl geriet dabei insbesondere die chemische Industrie in das Blickfeld der ökologisch sensibilisierten Öffentlichkeit. [....]

  • von Sabine Stach

    Als sich im vergangenen Jahr die Selbstverbrennung Jan Palachs zum 40. Mal jährte, wurde – wie bei Jubiläen üblich – Rückschau gehalten und nach dem „Sinn“ seiner Tat gefragt. Fragen wurden laut, ob sein „Opfer“ nicht letztlich vergebens gewesen sei. Er hatte sein Leben eingesetzt, um die Bevölkerung „wachzurütteln“, um ein Zeichen zu setzen gegen die von ihm empfundene beginnende Resignation nach der Niederschlagung des Prager Frühlings. Tatsächlich erschütterte sein Tod im Januar 1969 die ganze Nation, Tausende versammelten sich ihm zu Ehren und ließen sein Begräbnis zu einer Massendemonstration werden. Dennoch wurden die Forderungen Palachs nicht erfüllt. Die meisten Menschen gingen wieder zum Alltag über, die staatlich verordnete „Normalisierung“ begann sich auch im Privaten rasch durchzusetzen. [...]

  • von Benoît Majerus

    Im Juli 1967 organisierten vier Psychiater – Ronald D. Laing, David Cooper, Aaron Esterson und Clancy Sigal – das zweiwöchiges Happening Dialectics of Liberation im Roundhouse, einem im nördlichen London gelegenen Kulturzentrum, das zu dieser Zeit ein wichtiger Ort der englischen Underground-Szene war. Auf dieser Tagung traten zahlreiche Persönlichkeiten auf, die die politischen und akademischen Debatten der 1960er Jahren maßgeblich beeinflussten. Der Philosoph Herbert Marcuse, der Schriftsteller Allen Ginsberg, der Leader der Black Panther, Stokeley Carmicheal, der Theatertheoretiker Julian Beck und der Anthropologe Gregory Bateson debattierten über die Unfreiheit der Gesellschaften, sowohl in der westlichen Hemisphäre als auch in den früheren Kolonien. Zentrale Frage der zahlreichen Beiträge war, wie sich das Individuum aus den zahlreichen gesellschaftlichen Zwängen befreien könne. [...]

  • von Christoph Strupp

    Der wirtschaftliche Zusammenschluss Westeuropas in der Nachkriegszeit ist ein politisches Projekt, das sich in der Rückschau als Erfolgsgeschichte darstellt. Der Weg von der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) von 1952 mit sechs Mitgliedsländern zur Europäischen Union der Gegenwart mit 27 Mitgliedern war allerdings kompliziert, denn gegensätzliche wirtschaftliche Interessen und politische Ziele der beteiligten Nationalstaaten mussten in immer neuen Kompromissen austariert werden. Unterschiedliche ideologische Vorstellungen über den Charakter des Europäischen Hauses und das Verhältnis der zentralen Institutionen in Brüssel und Straßburg zu den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedsstaaten führten und führen bis heute zu Konflikten. [...]

  • von Petar Dragisic

    Die wirtschaftliche Stagnation in Jugoslawien in den 1960er und 1970er Jahren wirkte sich negativ auf die Situation auf dem jugoslawischen Arbeitsmarkt aus. Im Jahr 1980 waren rund 800.000 Jugoslawen auf Stellensuche. Der Druck auf den jugoslawischen Arbeitsmarkt in den 1960er und 1970er Jahren sowie der im Vergleich zu Westeuropa niedrigere Lebensstandard trieben Hunderttausende Jugoslawen in die Emigration. Die überwiegende Mehrheit der jugoslawischen Arbeitsmigranten ging damals nach Westeuropa. Diese Emigration erreichte ihren Höhepunkt in der ersten Hälfte der 1970er Jahre. [...]

  • von Jörg Hackmann

    Die Proklamation der „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ am 5. August 1950 im Kursaal von Bad Cannstadt nimmt einen festen Platz in der Erinnerungskultur der deutschen Vertriebenenverbände ein. Regelmäßig zu den runden Jahrestagen, wie in diesem Jahr mit einem Festakt im Stuttgarter Schloss, wird ihr Charakter als ein Dokument von „unschätzbarer Bedeutung“ für Europa aufs Neue hervorgehoben. In der „Charta“ verzichteten die Vertreter der Landsmannschaften und der zentralen Vertriebenenverbände auf „Rache und Vergeltung“ für das erlittene Unrecht und proklamierten ihre Bereitschaft, sich am Aufbau eines neuen Europa zu beteiligen. [...]

  • von Belinda Davis

    The image below represents a flyer put out by the Evangelische Studenten-Gemeinden Westberlin (ESG), calling for viewers to stand up for peace, by attending a demonstration to be held on the occasion of American President Ronald Reagan’s visit to West Berlin, in June 1982. The specific concern is to prevent the stationing of new nuclear weapons across Europe, in the Cold War West and East. Europeans are implicitly represented in the person of a female protester who, though in dress and heels, demonstrates sufficient strength to kick away an unwanted nuclear rocket. The message seems forthright and quite simple. But as an exemplar of the era’s iconography, the flyer would have communicated a range of meanings and associations. One of thousands of such images and associated texts in West Germany/West Berlin alone, the flyer was part of a popular political movement across NATO-allied Europe, protesting NATO’s new “double-track” strategy of rearmament alongside continued détente. [...]

  • von Kirsten Heinsohn

    Als Eva Reichmann 1981 auf die Frage antwortete, wie sie denn ihr Selbstverständnis beschreiben würde, sagte sie als erstes: „das ist eine sehr komplizierte Sache.“ Und in der Tat war es für sie, als liberale Jüdin, die 1939 aus Deutschland vertrieben worden war, außerordentlich schwierig, sich eindeutig zu einem Land zu bekennen geschweige denn sich mit ihm zu identifizieren. Die Gewalterfahrung der Juden in Europa zwischen 1933 und 1945, die die Überlebenden in ihre persönliche Biografie integrieren mussten, fügten – auch im Fall von Eva Reichmann – eine schwere Hypothek hinzu. Denn schließlich waren den deutschen und später allen Juden im von Deutschland besetzten Europa die Bürgerrechte und die persönliche Freiheit sowie schließlich die körperliche Unversehrtheit genommen worden. Die Einführung ungleicher Bürgerrechte im Zuge der so genannten Nürnberger Gesetze1935 sowie die Aberkennung der Staatsangehörigkeit insgesamt waren Schritte in einem umfassenden Entrechtungsprozess. [...]

  • von Christiane Eifert

    Europa heißt das Zauberwort, mit dem Unternehmerinnen im Westeuropa der Nachkriegszeit ihren Zusammenschluss zu einem Europäischen Unternehmerinnenverband begründeten und die Ernsthaftigkeit ihres Unterfangens demonstrierten. Mit dem Kalten Krieg war Europa seit 1948 der Schlüsselbegriff in der westlichen Sicherheits- wie Wirtschaftspolitik, Europa war Chiffre für Frieden und Wohlstand und die Unternehmerinnen bewiesen ihre staatsbürgerliche Verantwortung, indem sie sich für diese Ziele einsetzten. Europa als Grundlage und Ziel des Verbandes signalisierte Bedeutung und Stärke, und die Unternehmerinnen nahmen beides gerne an. Im Grunde vollzogen sie für Unternehmerinnen den europäischen Verbandszusammenschluss, den 1950 die von Unternehmern dominierten industriellen Spitzenverbände mit der Formierung zum Rat der Europäischen Industrien praktizierten. [...]

  • von Marleen von Bargen

    1943/44 verfasste die im Schweizer Exil lebende deutsche Sozialistin und Reformpädagogin Anna Siemsen (1882-1951) den Aufsatz „Die Frau im neuen Europa“. In diesen Ausführungen appellierte sie vor allem an die Frauen, sich zum Ende des Krieges für eine gemeinsame soziale Aufbauhilfe in Europa zusammenzuschließen. Durch Hilfe zur Selbsthilfe sollte ein künftiges gemeinsames Arbeiten der europäischen Länder möglich werden. Damit, so Siemsen, könne ein europäisches Bewusstsein geweckt werden – ein Gefühl der Solidarität zwischen den Völkern Europas, das sie als unabdingbar für eine europäische Einigung und für einen dauerhaften Frieden betrachtete. Siemsen sah Frauen aufgrund ihrer spezifisch weiblichen Eigenschaften und ihrer spezifisch weiblichen Kriegserfahrung für diese Aufgaben als prädestiniert an. Indem sie auf diese Weise die umfassende politische Veränderung Europas mit fürsorgepolitischen Überlegungen verband, skizzierte sie zugleich eine weibliche Europa-Vorstellung. [...]

  • von Stefan Wiederkehr

    Im Vorfeld der Olympischen Spiele von 1972 veröffentlichte die Medizinische Kommission des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) ein zweisprachiges Faltblatt unter dem Titel „Le contrôle de féminité/Sex control“, das die in Sapporo und München durchzuführenden Geschlechtertests reglementierte. Die Medizinische Kommission des IOC unter dem Vorsitz des belgischen Adeligen Alexandre de Merode (1934-2002) war 1967 ins Leben gerufen worden. Sie bildete das Resultat mehrjähriger Debatten innerhalb der IOC-Gremien, wie dem Problem des Dopings im olympischen Sport zu begegnen sei. Kurzfristig wurde die Medizinische Kommission mit einer zusätzlichen Aufgabe betraut: Sie sollte durch geeignete Kontrollen sicherstellen, dass die Teilnehmerinnen bei Frauenwettbewerben tatsächlich Frauen sind. [...]

  • von Manuel Müller

    Als der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher den Plan, den er zusammen mit seinem italienischen Amtskollegen Emilio Colombo entwickelt hatte, am 19. November 1981 im Europäischen Parlament vorstellte, wusste er bereits, dass er nicht auf ungeteilte Zustimmung stoßen würde: „Ich könnte mir denken, daß dieses Hohe Haus am ehesten kritisieren wird, daß unser Entwurf für eine Europäische Akte nicht weit genug geht“, räumte er ein und appellierte, man solle aber „die Wirkungen der Initiative nicht gering schätzen“. Auch Colombo, der nach Genscher sprach, kündigte an, die Außenminister würden es „nicht übel nehmen“, wenn den Parlamentariern der Vorschlag zu klein erscheine. Die Erwiderung, mit der der italienische Abgeordnete Altiero Spinelli ihnen antwortete – Colombo hatte den Plenarsaal inzwischen allerdings schon wieder verlassen –, bezog sich jedoch nicht nur auf die Frage größerer oder kleinerer Ambitionen. [...]

  • von Rumjana Mitewa-Michalkowa

    In den 1970er Jahren forderten kritische bulgarische Intellektuelle, wie die Schriftstellerin Blaga Dimitrova, der Satiriker Radoj Ralin und der Maler Georgi Baev, eine Revision der dogmatischen Kulturpolitik und den offenen Dialog mit Ländern verschiedener politischer Systeme. Diese vorerst kleine Bewegung erhielt massiven Auftrieb, als Ljudmila Živkova, die Tochter des Staats- und Parteichefs Todor Živkov, die Leitung des Ministeriums für Kultur übernahm und sich auf der nationalen und internationalen Bühne für die Entdogmatisierung der marxistisch-leninistischen Kulturpolitik und die Öffnung und Internationalisierung des kulturellen Lebens einsetzte.

  • von Katharina Kunter

    Es ist ein Bild von geradezu unmoderner Ruhe und Klarheit: Die runde, mit einem Blick überschaubare Erde, harmonisch eingebettet in die Weiten des Kosmos – und doch nicht geometrischer Mittelpunkt der Welt. Der biblisch vorgeprägte Betrachter mag darin vor allem ein Symbol für die gute Schöpfungsordnung Gottes erkennen; der historisch Versierte möglicherweise ein Sinnbild für den zu Beginn des 20. Jahrhunderts herrschenden Fortschrittsglauben und Optimismus.

  • von Jan-Henrik Meyer

    In bemerkenswertem Gegensatz zum altehrwürdigen Konferenzort, dem mittelalterlichen Rittersaal des Binnenhofs zu Den Haag – einem europäischen Erinnerungsort , seit 1948 Winston Churchill dort über den Kongress der europäischen Bewegung präsidiert hatte – gab es auf der Konferenz der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaften (EG) am 1. und 2. Dezember 1969 viel Neues. Während einige britische Kommentatoren noch den langen Schatten Charles de Gaulles über den Häuptern der Konferenzteilnehmer vermeinten wahrzunehmen , betonten andere Beobachter bereits im Vorfeld des Gipfels, dass eine neue, jüngere „zweite Generation“ im Begriff war, sich der Geschicke der EG anzunehmen.

  • von Stefan Troebst

    Der Regimewandel in Ostmittel- und Südosteuropa 1989 und die Implosion der Sowjetunion samt Hegemonialsphäre 1991 haben im Bereich der Geschichtswissenschaft gleich zwei gravierende Folgen gezeitigt: Zum einen haben Historikerinnen und Historiker im östlichen Europa an präkommunistische Historiographietraditionen angeknüpft sowie den Anschluss an internationale Standards und Trends gesucht. Und zum anderen hat die internationale Geschichtsforschung ein neues Interesse an der Geschichte des östlichen Europa im Allgemeinen und an seiner geschichtswissenschaftlichen Produktion im Besonderen entwickelt.

  • von Jay Winter

    The General Assembly of the United Nations approved the Universal Declaration of Human Rights on 10 December 1948. This document reflected a very widely shared sense of revulsion at the crimes committed by the Hitler state in its period in power from 1933-45. Without the Second World War, this document would never have been drafted, let alone approved by communist and non-communist countries alike. This non-binding statement of principles set in motion other measures which established legal sanctions for human rights violations by states. Regional conventions on human rights were signed in Europe, Latin America and Africa. In 1966, the United Nations agreed two covenants on human rights, one on social and economic rights and a second on civil and political rights. Ten years later these came into force as instruments of international law. [...]

  • von Pascal Eitler

    Als Symptome eines vehementen und rapiden Bedeutungsverlustes von Kirche und kirchengebundener Religion in Deutschland wurden die zunehmenden Kirchenaustritte und gesellschaftliche Entwicklungen wie ansteigende Scheidungszahlen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gesehen. Der vorliegende Beitrag rekonstruiert dagegen die Diskurse der Zeit, um die Stellung der Kirche in der Gesellschaft kommunikationsgeschichtlich zu analysieren. Dabei werden zum einen die Politische Theologie und ihre zentralen Deutungsmuster, Leitbegriffe und Argumentationsweisen und daraus resultierende semantische Verschiebungen betrachtet. Zum anderen werden die historischen Bedingungen in den Blick genommen, unter denen die „Wende zur Welt“ der Kirche zu einem gesellschaftlich relevanten Thema wurde. Die Präsenz des Themas in der damaligen Presse wird zu einem Beleg für die gesellschaftliche Relevanz von Kirche und Religion um 1968.

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