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  • von Robert Groß

    Nach jahrelangen Importverhandlungen kamen die UdSSR und Österreich 1968 zu einem Vertragsabschluss. Damit war ein neues Kapitel der Ost-West-Beziehungen und der europäischen Energiegeschichte aufgeschlagen. Möglich wurde dies auch, weil sich das neutrale Österreich nicht an der Sanktionspolitik der NATO beteiligte, die die Lieferung von Rohren in die UdSSR erschwerte. Als das Embargo Ende 1966 aufgehoben wurde, hatte Österreich bereits die Eckpunkte des Liefervertrags ausverhandelt. Davon profitierten nicht nur Industriebetriebe in Österreich und in der BRD, sondern auch die UdSSR, die in der Folge ihre Transportinfrastruktur entsprechend ausbaute und neue Erdgasfelder in Sibirien erschließen konnte. Während die transnationale Perspektive vor allem die Rolle der Nationalstaaten bei der Vertragsanbahnung abbildet, nimmt die Perspektive der Energieversorger die europäischen Integrationsprozesse jenseits der großen Verträge und entlang der gebauten Infrastruktur in den Blick.

  • von Francesco Di Palma

    Der Terminus „Eurokommunismus“ wurde Mitte der 1970er-Jahre geprägt. Er beschreibt die Praxis einiger westeuropäischer kommunistischer Parteien, die – so die These – im Begriff gewesen seien, sich ideologisch und politisch von der sowjetischen Mutterpartei, der KPdSU, zu verselbständigen. Was bedeutete dies konkret für die betroffenen Parteien? Implizierte diese angebliche Verselbständigung die Bemühung um die Aufhebung der Teilung Europas? Der vorliegende Essay führt anhand einer Quelle aus dem Jahr 1977 in die Geschichte des Eurokommunismus ein und erörtert dessen Bedeutung für die politisch-ideologische Entwicklung des Sozialismus in unserem Kontinent.

  • von Ines Soldwisch

    Die Kinder- und Jugendliteratur der DDR war von einer Publikationspraxis bestimmt, die sie deutlich von jener westlicher Länder unterschied: Über eine Buchveröffentlichung entschied nämlich nicht ein Verlag, sondern eine „angemessene“ Verknüpfung von Politik, Ideologie und Kultur. Was angemessen war, darüber entschied der Staat. Druckgenehmigungsverfahren und dazugehörige Gutachten waren das probate Mittel der Überprüfung und Absicherung des Staates in Gestalt des Ministeriums für Kultur, um das politisch geforderte Gesellschaftsbild durchzusetzen. So war es keine Seltenheit, dass Manuskripte von Autor:innen umgeändert wurden, damit sie diesem Anspruch entsprachen. Was den Fall der DDR jedoch besonders macht – denn Lektorate gab und gibt es in jedem Verlag –, sind die Akteure und ihre Motivation, mit eingereichten Manuskripten umzugehen. Dies galt für nationale und internationale Literatur. Am Beispiel des Kinderbuch-Klassikers „Pippi Langstrumpf“ wird im Folgenden paradigmatisch dargestellt, wie Gesellschafts- und Kulturpolitik in der Publikationspraxis Hand in Hand gingen. Zu betonen ist, dass hier ein Einzelfall untersucht wird, der nicht als Blaupause für die gesamte Literaturpraxis in der DDR aufgefasst werden darf.

  • von Rasa Navickaite

    This essay discusses the sexual education manual Mīlestības vārdā (In the Name of Love) (1981), written by the Latvian doctor Jānis Zālītis. A bestseller in both Latvia and the neighboring Lithuania, the book has contributed significantly to the social norms and attitudes towards gender and sexuality in late Soviet societies of the Baltic countries. This essay presents the historical context of the writing and the reception of this book, as well as provides a feminist and queer reading of some of its main ideas. Namely, the essay argues that Mīlestības vārdā, despite its “scandalous” reputation, was essentially a conservative book, which reproduced the predominant patriarchal and heteronormative understandings. The book entrenched the idea that hierarchical gender differences were essential to sustaining stable marriages, and that sexuality could be strictly divided into “normal”, meaning leading towards procreation, and “perverse,” meaning non-procreative and therefore morally wrong and detrimental to Soviet society.

  • von Simon Unger-Alvi

    Dieser Artikel analysiert neu zugängliche Quellen aus den vatikanischen Archiven zur deutschen Außenpolitik in der Nachkriegszeit. Im Mittelpunkt steht der Austausch von Briefen und Unterlagen zwischen Aloysius Muench, dem apostolischen Nuntius in Bonn, und Domenico Tardini, dem Pro-Staatssekretär für außerordentliche kirchliche Angelegenheiten im Vatikan. Beide Kleriker fungierten als Mittelsmänner zwischen Konrad Adenauer und Papst Pius XII., die in den 1950er-Jahren eine gemeinsame Politik im Kalten Krieg verfolgten. Die Öffnung der Archivbestände zum Pontifikat Piusʼ XII. im Jahr 2020 erlaubt nun jedoch, einen Blick hinter die Kulissen dieser Beziehung zu werfen. Dieser Artikel zeigt, dass Adenauer den Vatikan regelmäßig über seine außenpolitischen Absichten und Sorgen informierte und dabei auch streng geheime nachrichtendienstliche Informationen teilte. Im Fokus dieses Beitrags stehen strategische Diskussionen mit dem Vatikan im Vorfeld der Stalin-Noten von 1952, in denen die Sowjetunion eine deutsche Wiedervereinigung unter der Bedingung außenpolitischer Neutralität in Aussicht stellte. Die Quellen zeigen nun jedoch, dass Adenauer und der Vatikan sich schon im Frühjahr 1951 des bevorstehenden diplomatischen Vorstoßes Stalins bewusst waren und dass beide sofort Schritte einleiteten, um diesen von vornherein zu unterminieren. Adenauer informierte Pius XII. dabei u.a. über angebliche Geheimverhandlungen zwischen Frankreich und der Sowjetunion, da er befürchtete, dass eine sozialistische Regierung in Paris die sowjetischen Vorschläge annehmen könnte. Gemeinsam mit dem Vatikan und den USA sollten daher Schritte unternommen werden, um Druck auf die französische Regierung auszuüben, eine deutsche Wiederbewaffnung zu ermöglichen und die Gefahr einer erzwungenen weltpolitischen Neutralität Deutschlands abzuwenden. Insgesamt zeigen die Quellen in den vatikanischen Archiven nicht nur, dass Adenauer den Heiligen Stuhl als seinen vielleicht engsten außenpolitischen Ansprechpartner betrachtete, sondern auch, dass Pius XII. seinerseits bestrebt war, die westdeutsche Wiederbewaffnung herbeizuführen und die Entstehung eines wiedervereinigten, aber neutralen Deutschlands zu verhindern.

  • von Mathias Mutz

    Wenn die Einwohner und Einwohnerinnen fast aller europäischer Staaten Ende März jeden Jahres ihre Uhren um eine Stunde vorstellen, dürften die wenigsten dies als Akt der europäischen Integration wahrnehmen. Angesichts der wiederkehrenden Debatten um die Auswirkungen auf die „innere Uhr“ erscheint die Zeitumstellung als von vielen ungeliebte technische Routine. Der Vorstoß der französischen Regierung aus dem Jahr 1975 mit einem Memorandum eine „Koordinierung auf Europäischer Ebene zur Einführung eines Sommerzeitsystems“ zu erreichen und die Partner der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) davon zu überzeugen, mit der Sommerzeit „im täglichen Leben ihre Einheit und Solidarität bekunden“ zu können, ist kein prägender Baustein der europäischen Identität geworden. [...]

  • von Katrin Jordan

    Tschernobyl ist überall – nur nicht in Frankreich. Diesen Eindruck konnten die Zuschauerinnen und Zuschauer der Abendnachrichten vom 30. April 1986 gewinnen, als sie den Wetterbericht des französischen Fernsehsenders Antenne 2 sahen. Vier Tage zuvor, am 26. April 1986, hatte sich im sowjetischen Kernkraftwerk Wladimir Iljitsch Lenin der zum damaligen Zeitpunkt schwerste Unfall in der zivilen Kernenergienutzung ereignet. Bei einem planmäßigen Test war der Reaktor des vierten Blocks außer Kontrolle geraten. Ein ungehinderter Leistungs und Temperaturanstieg führte zu einer Explosion, bei der der Reaktorkern zerstört und die Abdeckplatte samt Dach des Reaktorgebäudes gesprengt wurden. Durch das offene Dach entwichen über Tage hinweg radioaktive Substanzen, darunter die leicht flüchtigen Isotope Jod1-31, Cäsium-137 und Strontium-90. [...]

  • von Stefan Troebst

    Seit dem Überfall durch das nationalsozialistische Deutschland reaktivierte die Führung der UdSSR neben dem „Sowjetpatriotismus“ und der Orthodoxie auch das „Slaventum“ in Gestalt des Allslavischen Komitees in Moskau – mit historisierenden Rückgriffen auf den ersten Slavenkongress von 1848 im damals habsburgischen Prag, nicht hingegen auf den zarischen Panslavismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Auch nach 1945 sollte dieser Bezugsrahmen gemäß sowjetischer Planung seine Bedeutung beibehalten, vor allem mit Blick auf die jetzt kommunistischen Bündnispartner Jugoslawien und Polen, aber auch auf die bürgerlich-demokratische Tschechoslowakei und sogar auf Bulgarien, das zwar ein Verliererstaat des Zweiten Weltkriegs war, jedoch ein in Stalinisierung begriffener. [...]

  • von Stefan Troebst

    Der Regimewandel in Ostmittel- und Südosteuropa 1989 und die Implosion der Sowjetunion samt Hegemonialsphäre 1991 haben im Bereich der Geschichtswissenschaft gleich zwei gravierende Folgen gezeitigt: Zum einen haben Historikerinnen und Historiker im östlichen Europa an präkommunistische Historiographietraditionen angeknüpft sowie den Anschluss an internationale Standards und Trends gesucht. Und zum anderen hat die internationale Geschichtsforschung ein neues Interesse an der Geschichte des östlichen Europa im Allgemeinen und an seiner geschichtswissenschaftlichen Produktion im Besonderen entwickelt.

  • von Hartmut Zwahr

    Dem nachstehenden Text vom 30. Oktober 1956 begegne ich gleichsam mit doppeltem Blick, dem eigenen, denn ich bin der Verfasser, sowie dem des Historikers auf vergessene Notizen, die ich im vorigen Jahr wiederfand. Ich kenne die Personen, den Ort, die Verhältnisse, die in sie hineinspielenden sorbischen Umstände, aber aus dem Gedächtnis könnte ich das Geschehen, das diese Quelle festhält, seine Spezifik und die damit verbundenen Reflexionen nicht rekonstruieren. Das Eigene erscheint inzwischen als das fast völlig Fremde.[...]

  • von Jan C. Behrends

    Das Beziehungsdreieck Russland, Polen und Deutschland gehört zu den zentralen Konfliktkonstellationen des modernen Europa. Die europäische Katastrophe im Zeitalter der Extreme hatte ihr geographisches Zentrum in Polen, das 1939 Opfer deutscher und sowjetischer Aggression wurde und auf dessen Territorium das Deutsche Reich den Völkermord an den europäischen Juden verübte. Nach 1945 verschwand Polen dann als unfreiwilliger Vasall hinter dem Eisernen Vorhang. Bis 1956 litt das Land – wie seine Nachbarn – unter der stalinistischen Gewaltherrschaft. Die totalitäre Herrschaft erzwang eine gesellschaftliche Transformation, die neben der politisch-wirtschaftlichen Umgestaltung auch eine nationalkommunistische Umgestaltung des Geschichtsbildes beinhaltete. [...]

  • von Christoph Boyer

    Für die europäische Nachkriegsgeschichte konstatiert Boyer zwei grundlegende Makromodelle: den demokratisch-marktwirtschaftlichen Wohlfahrtsstaat in Westeuropa einerseits und die staatssozialistischen Modelle in Mittel- und Ostmitteleuropa andererseits. Die beiden Modelle unterschieden sich dabei weniger grundsätzlich, wie oft angenommen wurde: Beide antworteten auf die Krise des Kapitalismus und Liberalismus seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und beide Modelle wollten Gesellschaften, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, planen, regulieren, transformieren, modernisieren und dadurch Wohlstand schaffen. Die Frage nach der „Europäizität Ostmitteleuropas“ ist für den Autor ein komparativer Forschungsansatz, mit dem die unterschiedlichen Entwicklungen, die die jeweiligen Länder unter diesen Makromodellen vollzogen haben, untersucht und mit anderen europäischen Regionen verglichen werden sollten.

  • von Chris Hann

    Der Beitrag setzt sich mit der Frage auseinander, wie und wo sich Ungarn selbst auf der „mental map“ Europa verordnet hat und verordnet. Während des Sozialismus lag der Wahrnehmung der meisten Ungarn dabei eine klare Ost-West-Dichotomie zugrunde, der zufolge der „Osten“ mit der UdSSR begann und Ungarn damit ein Teil Westeuropas war. Diese Sicht blieb auch nach dem Zusammenbruch des Sozialismus dominant, wobei Westeuropa für die Ungarn nun in noch stärkerem Maße für „Europa“ im allgemeinen stehe. Daran ändert auch die teils kritische Sicht eines mit der EU gleichgesetzten „Europa“ nichts.

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