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  • von Annika Dörner

    Völkerschauen hatten im ausgehenden 19. Jahrhundert Konjunktur, denn sie brachten die fremde Welt nach Europa. Zwischen den Ausgestellten und dem Publikum bestand stets eine große Distanz und so wurde hier in Auseinandersetzung mit dem kolonialen Anderen in gewisser Weise ausgehandelt, was Europa ausmachte. Überdies wurden mithilfe regelrechter Spektakel rassistische hierarchische Wissensordnungen abgebildet und zugleich eindrücklich bekräftigt. Doch schon bei den ersten Völkerschauen trugen nicht nur Menschen zum umfänglichen Spektakel bei, sondern auch eine weitere, bisher in der Forschung gänzlich unbeachtete, Gruppe: Tiere. Fremde, exotische Tiere waren Teil der Inszenierung, mehr noch: Tiere machten die fremde Welt anschaulich und verstehbar und trugen ihrerseits unmittelbar dazu bei, dass die hier präsentierte Welt beherrschbar erscheinen sollte. Dabei vermittelten die Völkerschauen zum einen ein neu gewonnenes Wissen über fremde Nutztiere sowie über prinzipiell domestizierbare Arten: Tiere erschienen damit als koloniale Ressource. Zum anderen verdeutlichte die Präsentation wilder Tiere auf Völkerschauen aber auch die Beherrschbarkeit der kolonialen Natur. Gerade wilde Tiere faszinierenden die Zuschauer über alle Maßen, sie reicherten die Herrschaft über die fremde, zu kolonisierende Welt mit Abenteuer und Spannung an und machten sie weiter begehrlich. Der Beitrag der Tiere zu Völkerschauen erschöpft sich daher gerade nicht darin, ein zoologisches Wissensobjekt zu sein, sondern betraf auch ihren exotischen Schauwert und ihren Beitrag zur Inszenierung der potentiell anzueignenden kolonialen Welt.

  • von Clara M. Frysztacka

    „‚Trajectorism‘ is the great narrative trap of the West and is also, like all great myths, the secret of its successes in industry, empire and world conquest.“ Die Quintessenz der westlichen Epistemologie bestehe, so Arjun Appadurai, in Zielgerichtetheit: Sie sichere den Erfolg des (west-)europäischen Zivilisationsmodells, stelle aber zugleich die größte „Falle“ des (west-)europäischen Selbstverständnisses dar. Appadurai nennt „trajectorism“ das, was andere ForscherInnen als Teleologie bezeichnen. Er versteht darunter die Auffassung der Zeit als einem Pfeil, der in eine präzise Richtung zeigt, sowie von historischen Prozessen und von der Geschichte selbst als Träger eines einheitlichen Telos.

  • von Ruth Nattermann

    Im Juni 1868 veröffentlichte die Italienerin Gualberta Alaide Beccari einen offenen Brief der Schweizerin Marie Goegg, geborene Pouchoulin, in der von ihr nur wenige Wochen zuvor gegründeten Frauenrechtszeitschrift La Donna. Die italienische Frauenbewegung befand sich in ihrer Frühphase; der Prozess der italienischen Einigung, der 1861 in die Ausrufung des „Königreichs von Italien“ gemündet war, hatte das Engagement von Frauen für ihre eigenen Rechte vorbereitet. Die Entwicklung lief parallel zu den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in ganz Europa entstehenden nationalen Frauenbewegungen. Thema des Briefes der schweizerischen Aktivistin war die Initiative zur Gründung einer internationalen Frauenvereinigung, der Association Internationale des Femmes (AIF).[...]

  • von Maximilian Buschmann

    Am 9. Juli 1909 verbreitete sich eine Nachricht aus dem berüchtigten Londoner Frauengefängnis Holloway weit über die britischen Inseln hinaus. Nach 91 Stunden im Hungerstreik wurde Marion Wallace Dunlop, die Anerkennung als politische Gefangene einforderte, vorzeitig entlassen. Ihre einmonatige Haftstrafe wegen unerlaubten Plakatierens endete bereits nach fünf Tagen. In Votes for Women, der Wochenzeitung der militantesten Organisation der britischen Frauenbewegung, Women’s Social and Political Union (WSPU), hieß es: „At last the Authorities had to give way. [...]

  • von Ruth Nattermann

    Im Juni 1868 veröffentlichte die Italienerin Gualberta Alaide Beccari einen offenen Brief der Schweizerin Marie Goegg, geborene Pouchoulin, in der von ihr nur wenige Wochen zuvor gegründeten Frauenrechtszeitschrift La Donna. Die italienische Frauenbewegung befand sich in ihrer Frühphase; der Prozess der italienischen Einigung, der 1861 in die Ausrufung des „Königreichs von Italien“ gemündet war, hatte das Engagement von Frauen für ihre eigenen Rechte vorbereitet. Die Entwicklung lief parallel zu den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in ganz Europa entstehenden nationalen Frauenbewegungen. Thema des Briefes der schweizerischen Aktivistin war die Initiative zur Gründung einer internationalen Frauenvereinigung, der Association Internationale des Femmes (AIF). Goegg appellierte an die Leserinnen, sich der neuen Organisation anzuschließen, sie zu unterstützen und in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. [...]

  • von Bertrand Tillier

    Die Dreyfus-Affäre wird meist als eine politische und moralische Krise mit tiefen Wirkungen auf die französische Gesellschaft oder die diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich betrachtet. Sie ist aber auch ein Kristallisationspunkt für die europäische öffentliche Meinung. Die Ereignisse und Entwicklungen in der Affäre, die Debatten und die Leidenschaften, die sie entfachte, und auch der Kampf um die Werte von Gerechtigkeit und Wahrheit, den sie vorantrieb, bildeten die ersten Momente eines europäischen Gewissens. Es manifestierte sich auf unterschiedliche Weise: durch Petitionen, Zeitschriften, Illustrationen, Karikaturen, Zeichnungen in der Tagespresse, Plakate, Postkarten und vieles mehr. All diese Medien verband, dass sie sich für eine rasche kollektive Mobilisierung eigneten, leicht reproduzierbar waren und zur Massenkultur gehörten. [...]

  • von Bertrand Tillier

    Si l’affaire Dreyfus est le plus souvent considérée comme une crise politique et morale aux profondes répercussions sur la société française ou sur les relations diplomatiques entre la France et l’Allemagne, c’est aussi un moment de cristallisation de l’opinion publique européenne. En effet, les développements de l’Affaire, mais aussi les débats et les passions qu’elle suscita, de même que les valeurs de justice et de vérité qu’elle mobilisa, constituent les premiers moments d’une conscience européenne. Celle-ci s’exprima à travers différents supports – pétitions, périodiques, illustrations, caricatures, dessins de presse, affiches, cartes postales… – qui avaient tous en commun de se prêter à des modes rapides de mobilisation collective, d’être aisément reproductibles et d’appartenir à la culture de masse. [...]

  • von Benjamin Beuerle

    Als Fedor F. Kokoškin im Februar 1906, inmitten des Wahlkampfes zu den ersten Russischen Dumawahlen auf nationaler Ebene, in den liberalen „Russkie Vedomosti“ seinen Artikel „Die Konstitutionell-Demokratische Partei vor dem Gericht des 17. Oktobers“ veröffentlichte, war er in der russischen Öffentlichkeit kein Unbekannter. 1871 als Sohn eines alten russischen Adelsgeschlechtes in Cholm geboren, hatte er sich nach einem Studium des Rechts in Moskau, Heidelberg und Paris zunächst als Staatsrechtsdozent an der Moskauer Universität einen Namen gemacht. Er schloss sich bald als aktives Mitglied der liberalen Oppositionsbewegung an, die vor allem seit 1904 mit öffentlichkeitswirksamen Kundgebungen zum Druck auf die Regierung beitrug. In der im Oktober 1905 gegründeten „Konstitutionell-Demokratischen Partei“, die sich auch „Partei der Volksfreiheit“ nannte, und deren Mitglieder kurz als „Kadetten“ bezeichnet wurden, gehörte Kokoškin zum Zentralkomitee und somit zu den Führungspersönlichkeiten. [...]

  • von Christiane Kohser-Spohn

    Aujourd’hui, il est indispensable de se définir comme « international ». L’avenir appartient aux bi-nationaux et aux « métisses ». Il n’en a pas toujours été ainsi. Jusqu’à une période récente, ceux et celles qui bravaient les codes nationaux, refusaient une identité nationale, optaient résolument pour le cosmopolitisme, s’en trouvaient fortement punis. Les binationaux, inclassables dans l’ordre national, étaient des déclassés. Longtemps tributaires de l’idéologie nationale, les sciences sociales ont elles-mêmes amplement négligé le phénomène de la transnationalité. Ainsi, la recherche historique ne s’est pas intéressée aux acteurs qui n’ont pas pu ou pas voulu se plier à l’ordre national imposé au cours du 19ème et du 20ème siècle. Oeuvrant à saisir une société sur un territoire déterminé, les sciences historiques ont banni de leurs préoccupations le cas des hommes et des femmes qui ont refusé de s’engager pour une seule nationalité et d’en haïr une autre. Officiellement, les « entre-deux » n’existaient pas.

  • von Iris Borowy

    Am 31. Mai 1859 trat eine Gruppe gleich gesinnter Männer zusammen und gründete ein Central-Institut für Akklimatisation in Deutschland zu Berlin, eine Institution, „in der Pflanzen und Thiere, die nicht unserm Vaterlande angehören, heimisch gemacht werden“ sollten. Diese Männer waren nicht die ersten, die diese Idee verfolgten, aber sie gehörten zu ihren frühesten Vertretern. Mit Recht konnten sie sich als Vorreiter einer breiteren Entwicklung fühlen. Unverhohlen hofften sie, als Avantgarde in einem allgemeinen Fortschritt hin zu einer moderneren, produktiveren und politisch machtvolleren Gesellschaft zu wirken. Dabei waren sie einerseits eingebettet in eine breitere europäische Bewegung, spiegelten andererseits aber auch spezifisch deutsche bzw. preußische Verhältnisse wider. [...]

  • von Hubert Kiesewetter

    Ausgangspunkt des vorliegenden Beitrags ist der Bericht des französischen Generalkonsuls an seinen Außenminister über eine Diskussion in Zürich im Jahr 1904, die im Anschluss an einen Vortrag des Breslauer Wirtschaftsprofessors Julius Wolf über den Mitteleuropäischen Wirtschaftsverein stattfand. Ich werde zeigen, dass bereits ein Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg Gedanken eines Mitteleuropa-Konzepts angesprochen wurden, dessen expansionistische Ziele auch zum Krieg mit Frankreich geführt haben.[...]

  • von Ulrike Kirchberger

    Die “Ecuador Land Company” (ELC) wurde 1859 in London gegründet. Das Ziel der Gesellschaft war es, Land in Ecuador zu erwerben, es wirtschaftlich zu erschließen und zu kolonisieren. Dies war in der damaligen Zeit kein ungewöhnliches Vorhaben. Sowohl in Großbritannien als auch in den Staaten des Deutschen Bundes wurden vor dem Hintergrund der Massenauswanderung nach Übersee immer wieder Kolonisations- und Auswanderungsgesellschaften gegründet. Das Besondere an der ELC bestand darin, daß sie von deutschen und britischen Kaufleuten in London gemeinsam getragen wurde und sich aus dieser Konstellation spezielle Möglichkeiten ergaben, die ein in Deutschland gegründeter Auswanderungsverein nicht hatte. [...]

  • von Heinrich Hartmann

    In der populären Vorstellungswelt des Militarismus vor dem Ersten Weltkrieg nahm die Militärdienstzeit in allen europäischen Ländern einen wichtigen Raum ein. In den Biografien der männlichen Staatsbürger spielte die Aufnahme ins Militär in der Regel eine gewichtige Rolle als rite de passage, ob sie nun einen Kristallisationspunkt militaristischer Euphorie darstellten oder Anlass zur Artikulation eines gewissen Nonkonformismus boten. Gerade im Zeichen des wachsenden Militarismus vor dem Ersten Weltkrieg wurde das Militär in vielen Ländern aber auch zum Spiegel gesellschaftlicher Modernisierung, in der neue Formen von Wissenschaftlichkeit eine Schlüsselrolle einnahmen.[...]

  • von Philippe Alexandre

    Am Vorabend des Ersten Weltkrieges verfügte die bürgerliche Friedensbewegung in den Vereinigten Staaten über eine starke Organisation, die auf eine lange Tradition seit Beginn des 19. Jahrhunderts zurückging. Sie vereinte eine gewisse Anzahl bedeutender Mitglieder der Zivilgesellschaft, darunter vor allem Politiker der Demokraten, Geistliche, Lehrer, Wissenschaftler, Verleger und Humanisten, die über ein unermessliches Vermögen verfügten, wie der Industrielle Andrew Carnegie. Diese Organisation war in der Lage, Einfluss auf die Machthabenden auszuüben und sie in ihrer Außenpolitik zu unterstützen, die auf internationalen Ausgleich sowie die Förderung des Handels und des Einflusses der USA hinzielte. Die deutschen und französischen Pazifisten waren sich des wachsenden Gewichtes der Vereinigten Staaten in der Welt und der ambivalenten Beziehungen zwischen der Neuen Welt und dem „alten Europa“ bewusst und bemühten sich, auf eine engere Kooperation zwischen den beiden Kontinenten hinzuwirken.[...]

  • von Gangolf Hübinger

    Zur Eigenart der europäischen Geschichte gehört der Zusammenhang zwischen dem Handeln im Staat und dem Denken über den Staat. Diese Verbindung kann nicht einseitig aufgelöst werden. Weder lässt sich aus der Geschichte des europäischen Staatsdenkens das Handeln der herrschenden Eliten ableiten. Noch konnten die Fürsten oder die republikanischen Regierungen mit ihren Verwaltungsstäben den Wissenschaften auf Dauer diktieren, wie sie über Staat und von der Politik zu reflektieren haben. Immer herrscht eine komplizierte Wechselbeziehung. Für das neuzeitliche Denken über Staat und Politik, von der Epoche Machiavellis über Alexis de Tocqueville bis zu James Bryce im Zeitalter der Massendemokratie des 20. Jahrhunderts ist die Frage stets neu zu beantworten: Auf welche Weise führt ein struktureller Wandel politischer Herrschaft zu neuen Erkenntnisformen politischer Wissenschaft? [...]

  • von Thomas Mergel

    Der katholische Geistliche Heinrich Hansjakob, Pfarrer in Hagnau am Bodensee, Abgeordneter der Katholischen Volkspartei im Badischen Landtag und ein bekannter Volkserzähler und Publizist, reiste im Jahre 1874 für mehrere Wochen nach Frankreich. Selbstverständlich führte ihn sein Weg nach Paris und zu anderen touristischen Sehenswürdigkeiten, doch da er sich die Reise von seinem Bischof als Wallfahrt hatte genehmigen lassen, standen im Mittelpunkt die berühmten Anbetungsstätten in Lourdes, wo seit 1858 Marienerscheinungen zu einer der größten Wallfahrten Europas geführt hatten, und in Paray, dem Mittelpunkt der Herz-Jesu-Frömmigkeit, die im 19. Jahrhundert einen enormen Aufschwung als international verbreiteter und organisierter Kern ultramontaner Religiosität erlebte.[...]

  • von Peter N. Stearns

    Gegen Ende des 19. Jahrhunderst erstarkte die Frauenbewegung in vielen Ländern. In Europa und Amerika bildeten sich zahlreiche internationale feministische Verbände, die neben einer Vielzahl politischer Ziele vor allem auch allgemeine gesellschaftliche Reformen propagierten und anstrebten.[...]

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