Leitfaden für Bewerbungen als Kulturhauptstadt Europas (2006)

„[…] Die Ernennung einer Stadt zur Kulturhauptstadt erfolgt nicht allein aufgrund dessen, was sie ist oder tut. Ausschlaggebend ist in erster Linie das Programm mit seinen besonderen Kulturveranstaltungen, das die Stadt im Laufe des betreffenden Jahres durchzuführen beabsichtigt und das dem Jahr einen besonderen Charakter verleiht. In dieser Hinsicht unterscheidet sich das Konzept der Kulturhauptstadt Europas beispielsweise völlig von dem des UNESCO-Weltkulturerbes. Der Titel ist weniger ein Etikett als vielmehr die Krönung eines herausragenden Jahres im kulturellen Leben der Stadt. Daher wäre eine touristische Broschüre über die Stadt als Bewerbungsunterlage ungeeignet (11). [...]

EU-Kommission: Leitfaden für Bewerbungen als Kulturhauptstadt Europas (2006)[1]

„[…] Die Ernennung einer Stadt zur Kulturhauptstadt erfolgt nicht allein aufgrund dessen, was sie ist oder tut. Ausschlaggebend ist in erster Linie das Programm mit seinen besonderen Kulturveranstaltungen, das die Stadt im Laufe des betreffenden Jahres durchzuführen beabsichtigt und das dem Jahr einen besonderen Charakter verleiht. In dieser Hinsicht unterscheidet sich das Konzept der Kulturhauptstadt Europas beispielsweise völlig von dem des UNESCO-Weltkulturerbes. Der Titel ist weniger ein Etikett als vielmehr die Krönung eines herausragenden Jahres im kulturellen Leben der Stadt. Daher wäre eine touristische Broschüre über die Stadt als Bewerbungsunterlage ungeeignet (11). [...] Sie muss die Gemeinsamkeiten ebenso wie die Vielfalt der europäischen Kulturen herausstreichen. Mit kultureller Vielfalt ist auch der Reichtum gemeint, zu dem Einheimische, Migranten und Neuankömmlinge aus europäischen und außereuropäischen Ländern gemeinsam beitragen. Eines der Hauptziele der Veranstaltung ist es, das gegenseitige Verständnis der Bürger Europas füreinander zu fördern und ein Gefühl der Zugehörigkeit zu ein und derselben Gemeinschaft zu entwickeln. In diesem Sinne muss die Veranstaltung von einer umfassenden ‚europäischen’ Vision geprägt sein und das Programm auf europäischer Ebene Anziehungskraft entfalten. [...] Konkret geht es für eine Bewerberstadt darum, neben ihren Besonderheiten ihre bisherige Rolle in der europäischen Kultur, ihren Bezug zu, ihren Platz in und ihre Zugehörigkeit zu Europa ebenso darzulegen wie ihre gegenwärtige Beteiligung am Kunst- und Kulturleben Europas. Diese europäische Dimension kann eine Stadt auch im Rahmen des Dialogs und des Austausches begreifen, den sie mit anderen Kulturen und Künstlern anderer Kontinente zur Förderung des interkulturellen Dialogs unterhält (12). [...] Attraktivität, von der lokalen bis zur europäischen Ebene, ist eines der herausragenden Ziele einer Kulturhauptstadt Europas: Wie gelingt es, nicht nur die Bevölkerung vor Ort und im eigenen Land, sondern auch Touristen aus dem Ausland anzuziehen? Bei einer Stadt in einem der baltischen Länder ließe sich diese Frage beispielsweise wie folgt formulieren: Wie lässt sich das Interesse spanischer, griechischer oder schwedischer Touristen für die Veranstaltung wecken? Mit Fragen dieser Art müssen sich die Bewerberstädte auseinandersetzen. Das heißt, Veranstaltungen, die allein von lokalem Interesse sind, sollten vermieden werden. Auch die Förderung des europäischen Tourismus ist ein wichtiges Ziel der Veranstaltung (14). […]“


[1] EU-Kommission, Leitfaden für Bewerbungen als Kulturhauptstadt Europas, Brüssel 2006 (Auszüge), in: Documentation Centre on European Capitals of Culture, URL: <http://ecoc-doc-athens.eu/attachments/1272_GUIDE%20FOR%20CITIES%20APPLYING_DE.pdf> (28.07.2014), S. 11–14.


Europäische Kulturhauptstädte. Zwischen lokaler Eigenlogik und gesteuerter Harmonisierung[1]

Von Daniel Habit

„If we were to start all over again, we would start with culture.“ Dieses Jean Monnet zugeschriebene Zitat erfährt seit den 1980er-Jahren sowohl in der wissenschaftlichen Literatur als auch in öffentlichen Reden, Danksagungen und Grußworten im Kontext der Europäischen Union eine kontinuierliche Aufmerksamkeit. Die Popularität erklärt sich weniger aus dem (nicht vorhandenen) historischen Wahrheitsgehalt als vielmehr aus der Sehnsucht nach einem kulturellen Ursprungsgedanken, der sich stärker am Leitbild eines humanistischen Europabildes orientiert als an rationellen und ökonomischen Entscheidungen. Seine Bedeutung erlangt dieser Ausspruch vor allem auch durch sein Weiterleben in verschiedenen Argumentationszusammenhängen kultureller Programmentwürfe und Interventionen der EU.

Das Flaggschiff unter den verschiedenen Kulturinitiativen bildet dem Präsidenten der EU-Kommission, Manuel Barroso, zufolge das Konzept der „Kulturhauptstadt Europas“. Es wird im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen. Dieses 1985 von der damaligen griechischen Kulturministerin Melina Mercouri und ihrem französischen Amtskollegen Jack Lang initiierte Programm nimmt in mehrerer Hinsicht einen besonderen Stellenwert unter den auf Kultur im weitesten Sinne ausgerichteten Aktivitäten der Union ein. In den Anfangsjahren zunächst unter dem Titel „Kulturstadt Europas“ firmierend und auf eine Stadt pro Jahr begrenzt, fungieren seit 2001 jeweils zwei Städte als Titelträger (bis auf 2003, 2005 und 2006); das Jahr 2000 mit insgesamt neun Städten (bedingt durch die symbolische Jahreszahl) sowie 2010, in dem neben den beiden eigentlichen Titelträgern, Essen und Pécs, Istanbul als Vertreter eines Nicht-EU-Mitglieds eingeladen worden war, bilden dabei Ausnahmen. 2012 wurde das ursprünglich 2019 auslaufende Konzept bis 2033 verlängert und wurden die jeweils turnusgemäß ausrichtenden Länder benannt, ab 2020 werden im Abstand von drei Jahren jeweils (potentielle) Kandidatenländer ebenfalls einen Titelträger stellen. Bis 2014 haben demnach insgesamt 50 Städte an dem Konzept teilgenommen, das aufgrund seiner Dauer, der direkt oder indirekt involvierten Bevölkerungszahl, seiner geografischen Ausrichtung und seines Bekanntheitsgrades als erfolgreichstes Kulturprogramm der Union angesehen wird – nicht zuletzt auch dank des finanziellen Aufwandes, den sowohl titeltragende Städte als auch potentielle Kandidaten betreiben. Die Entstehung des Konzepts ist auf einen Bewusstseinswandel bei den politischen Verantwortungsträgern zurückzuführen. Anhaltende agrarpolitische Kontroversen innerhalb der Union zu Beginn der 1980er-Jahre, ein angespanntes Verhältnis zwischen der griechischen Regierung unter Andreas Papandreou und den USA bedingt durch eine umstrittene Raketenstationierung sowie vor allem der 1983 veröffentlichte sogenannte „Fanti-Bericht“, der auf eine „Verstärkung der Gemeinschaftsaktion im Bereich Kultur“ abzielte, können als Rahmenbedingungen dieser zunächst auf die Vergewisserung eines europäischen Konsenses abzielenden Gemeinschaftsaktion gelesen werden.[2] Die anfängliche breite Zustimmung unter den Mitgliedsländern ergab sich aus der Ausrichtung bzw. aus der inneren Logik des Konzepts. Es ist ein mit relativ geringen Mitteln ausgestattetes Programm, das vor allem symbolischen Wert hat. Es bedient die diffuse Vorstellung des ideellen Einigungsgedanken, von dem der Reihe nach alle Mitgliedsländer profitieren, die ihrerseits über die inhaltliche Ausgestaltung bestimmen dürfen. In den Anfangsjahren beschränkten sich die Vorgaben der Union allein auf die organisatorischen Rahmenbedingungen, die Entscheidungsgewalt über die ausrichtenden Städte lag bei den jeweiligen Nationalstaaten. Dementsprechend finden sich bis 1999 vor allem Hauptstädte (Athen, Amsterdam, Paris, Dublin, Madrid, Lissabon, Luxemburg, Kopenhagen, Stockholm), Metropolregionen wie Berlin, Glasgow, Antwerpen oder Thessaloniki oder kulturhistorisch relevante Orte wie Florenz und Weimar.

Eine entscheidende Neuerung in der strukturellen Ausrichtung der Aktion stellt der 1999 verabschiedete Beschluss 1419/1999/EG des Europäischen Parlaments und des Rates dar.[3] Damit wurde das Kulturhauptstadtprogramm in den Status einer Gemeinschaftsaktion gehoben und somit stärker institutionell verankert und symbolisch aufgewertet. Insbesondere das Auswahlverfahren erfuhr massive Veränderungen. Nicht mehr die entsprechenden Länder, sondern ein von der EU bestelltes Auswahlgremium gibt eine Empfehlung zunächst über zwei Kandidaten für die Endauswahl ab, die letztendliche Ernennung zur Kulturhauptstadt erfolgt dann auf Grundlage einer Stellungnahme der Kommission und des Parlaments durch den Europäischen Rat. Inhaltlich bezieht sich der Beschluss 1419/1999/EG vor allem auf die Aktivierung und Partizipation der so genannten kreativen Klasse und die Förderung des transnationalen Moments. Die Stichworte lauten: „Gemeinsame künstlerische Strömungen und Stile“, „dauerhafte kulturelle Zusammenarbeit“, „Förderung der Mobilität“, „Förderung des kreativen Schaffens“, „Mobilisierung und Beteiligung breiter Bevölkerungsschichten“, „Förderung des Empfangs von Bürgern aus der Union“, „Förderung des Dialogs zwischen den europäischen Kulturkreisen“, „Betonung der Öffnung gegenüber anderen“, „Herausstellen des historischen Erbes“. Zwar wird in diesem Beschluss die „europäische Dimension“ des Projekts an verschiedener Stelle betont, allerdings fehlen genauere Angaben darüber, was konkret damit angesprochen werden soll. Die inhaltliche Ausgestaltung des Kulturhauptstadtjahres und die damit verbundene Entwicklung der europäischen Dimension bleibt den Städten überlassen.

Im August 2004 erscheint mit dem von der Brüsseler Beratungsagentur Palmer/Rae Associates/International Cultural Advisors herausgegebenen Evaluationsbericht „European Cities and Capitals of Culture“ die erste grundlegende Studie über die ausrichtenden Städte zwischen 1995 und 2004. In dieser im Auftrag der Europäischen Kommission erstellten Studie wurden 21 Kulturhauptstädte hinsichtlich der administrativen Organisation, des veranstalteten Programms, der wirtschaftlichen Infrastruktur, der innerstädtischen Kommunikation, der europäischen und ökonomischen Perspektive und der sozialen Auswirkungen auf Bewohner und Besucher befragt. Als positive Auswirkungen werden in dem Bericht die Verbesserung der kulturellen Infrastruktur und Zusammenarbeit, ein verbessertes Kulturangebot, gestiegene Besucherzahlen, eine große Bevölkerungsbeteiligung sowie ein Renommeezuwachs sowohl in der Außen- als auch der Selbstwahrnehmung genannt. Dem gegenüber steht die bereits erwähnte mangelhafte inhaltliche Konkretisierung des Programms, dessen Beschreibung sich lediglich äußerst knapp formuliert im Beschluss 1419/1999/EG wiederfindet.

Im Oktober 2006 mündeten die im Evaluationsbericht genannten Kritikpunkte und Empfehlungen im Beschluss 1622/2006/EG des EU-Parlaments und des Rates zur „Einrichtung einer Gemeinschaftsaktion zur Förderung der Veranstaltung ‚Kulturhauptstadt Europas’ für die Jahre 2007 bis 2019“, mit dem der Beschluss 1499/1999/EG faktisch aufgehoben wurde. Während sich auch dieser Beschluss in erster Linie auf organisatorische Gesichtspunkte bezieht und die Position der Jury stärkt, wird mit der zeitgleichen Veröffentlichung des sogenannten „Leitfadens für Bewerbungen als Kulturhauptstadt Europas“ den Städten von Seiten der Union erstmals eine konkrete Programmbeschreibung zur Seite gestellt, die die Erwartungshaltung der Union konkretisiert und dokumentiert. Mit diesem Leitfaden wird den sich bewerbenden Städten erstmals von der Europäischen Union eine konkrete Programmanforderung zur Seite gestellt. Er definiert die Erwartungen der Europäischen Union gegenüber den ausrichtenden Städten, gibt einen genauen Zeitplan vor und präsentiert darüber hinaus Projekte, die in den Augen der Union erfolgreiche Beispiele der vielzitierten „Europäischen Dimension“ in den Veranstaltungsthemen und der Projektumsetzung darstellen (Auszüge aus diesem Leitfaden finden sich in der zu diesem Essay gehörenden Quelle „Leitfaden für Bewerbungen als Kulturhauptstadt Europas (2006)“).

Zwar handelt es sich bei diesem Leitfaden lediglich um eine Empfehlung ohne jeglichen Rechtsstatus seitens der EU, doch verweisen die Union bzw. die am Kulturhauptstadtprogramm beteiligten Institutionen im Sinne eines Best-practice-Angebots immer wieder auf ihn. Während zu Beginn des Kulturhauptstadtprogramms den teilnehmenden Städten weitestgehend Freiheit in der inhaltlichen Programmgestaltung zugestanden wurde, wird durch den Beschluss 1622/2006/EG und dem dazugehörigen Leitfaden die Eigenverantwortung dem aus anderen Politikbereichen bekannten Harmonisierungsprinzip der Union untergeordnet. Genaue Ablaufmechanismen und Zeitpläne des Bewerbungsprocederes, Evaluationsmaßnahmen und eine Neuregelung der finanziellen Zuwendungen machen das bis dahin vage ausformulierte und organisierte Programm zu einer Technik des Regierens im Rahmen des zunehmend interventionistischen Selbstverständnisses der Union. Die sich aus dieser Wissensgenerierung ergebenden beziehungsweise durch sie geformten Legitimitäten, Handlungsnotwendigkeiten sowie politischen und sozialen Praxen auf beiden Seiten der am Kulturhauptstadtdiskurs beteiligten Akteursgruppen systematisieren und stabilisieren die dazwischenliegenden Machtbeziehungen und produzieren ein immer enger werdendes Geflecht an Abhängigkeiten und gegenseitigen Bezugnahmen zwischen der Union und den Städten Europas.

Aus einer historisch-kulturwissenschaftlichen Perspektive kann das Programm als Selbstvergewisserungs- und Selbstlegitimierungsstrategie der Union angesehen werden, die den altbekannten Vorwürfen wie Bürgerferne, Demokratiedefizit oder Bürokratiemaschinerie entgegen gestellt wird. Verstanden als symbolische Aushandlung von Politik wird mit dem Kulturhauptstadtkonzept eine politische Ersatzwelt geschaffen, die Europa für seine Bürger jenseits von politischen und technokratischen Entscheidungen erfahrbar machen soll. Die inhaltliche Ausgestaltung der zu erreichenden „europäischen Dimension“ wird mit dem übergreifenden Motto „Einheit in Vielfalt“ ergebnisoffen auf untergeordnete Einheiten verteilt, die aber dennoch einer Evaluation unterliegen – das Konzept wird zum Instrument politischer Herrschaft. Das zutage tretende offensichtliche Fehlen eines Masterplans lässt sich mit Ulrich Beck und Edgar Grande als Europäisierung in „institutionalisierter Improvisation“ verstehen, bei der einerseits das letztendliche Ziel („Mehr Integration“) bekannt ist, allerdings der Weg dorthin nicht immer klar definiert ist.[4] Für die Europäische Union wohnt dem Kulturhauptstadtkonzept (wie vielen anderen Kulturprogrammen) ein kaum zu lösender Gegensatz inne. Dem immer wieder konstatierten Fehlen eines einenden, mehrheitsfähigen und widerspruchsfreien Narrativs, das von einer im Entstehen begriffenen europäischen Öffentlichkeit getragen wird, steht das Selbstverständnis der Union gegenüber, eben nicht als zentraler Wissensbevollmächtigter aufzutreten und dieses Narrativ für das zusammenwachsende Europa festzulegen.

An diesem Punkt kann mit Wolfgang Schmale ein grundlegender Unterschied zwischen Union und Nationalstaat ausgemacht werden. Während der Nationalstaat über die historische Deutungshoheit verfügt und sein eigenes Narrativ schaffen kann, muss die Union aufgrund ihrer Netzwerkstruktur an einem auf Kohärenzbildung abzielenden Hypertext arbeiten, der nicht nur von einer intellektuellen Elite gesteuert, sondern von einer breiten Masse mit gestaltet werden würde.[5] Neben anderen europäischen Verortungsmaßnahmen im räumlichen („Europäische Kulturstraßen“) als auch zeitlichen Sinne (Europatage, Europäische Themenjahre) fällt dem städtischen Raum eine tragende Rolle in diesem von Brüssel forcierten post-nationalen Identitätsdiskurs zu. Als eine der zentralen Dimensionen der Machtmanifestation unterliegen Räume stärker den symbolischen Umgestaltungskräften, da sie über eine gestaltbare Physiognomie verfügen und nicht so eng mit einem bestimmten historischen Gedächtnis verbunden sind wie konkrete Orte. Dementsprechend kann das Kulturhauptstadtkonzept als Verortungspraxis und Raumaneignungsstrategie der Union verstanden werden, durch die sie sich auf einer europäischen Landkarte im jährlichen Turnus einschreibt und dadurch in einem dynamischen Prozess immer wieder neu erfahrbar wird. Neben Brüssel bzw. Straßburg tritt damit eine aus ihrer ortsgebundenen Funktion herausgelöste temporäre Hauptstadt, die als Knotenpunkt im Sinne der von Manuel Castells beschriebenen Kommunikationsnetzwerke im Informationszeitalter fungiert.[6] Auf Seiten der teilnehmenden Städte wiederum funktioniert die Verortung im Sinne eines Zugewinns an Aufmerksamkeit in einer internationalen Städtekonkurrenz. Die Titelvergabe wirkt sich unmittelbar auf die urbane Symbolökonomie aus und wird von den Städten als Standortvorteil eingesetzt.

Vor diesem Hintergrund lassen sich auch die verschiedenen Maßnahmen zur Responsibilisierung seitens der Union einordnen, wie sie exemplarisch im Kulturhauptstadtdiskurs zutage treten. In einem neoliberalen Kontext meint Responsibilisierung die Verantwortlichmachung von hierarchisch untergeordneten Einheiten unter dem Signum von Eigenverantwortung, Eigenständigkeit und Eigeninitiative. Hierbei zeigt sich das aus der Governance-Forschung bekannte Moment der Relativität des Machtanspruchs, der im Gegensatz zu vorherigen Konzepten des „Regierens von oben“ durch unterschiedliche Kombinationen von Steuerung und Selbstregulierung ausgehandelt und gestaltet wird. Die titeltragenden Städte werden durch die Ernennung sechs Jahre vor dem eigentlichen Event durch eine Verantwortungsübertragung zu aktiv Handelnden, die die inhaltliche Ausgestaltung des EU-Europa übertragen bekommen. Damit einher gehen Ökonomisierungen von Institutionen und Handlungslogiken, da die Städte im Kontext einer Städtekonkurrenz das Event zu einem messbaren Erfolg werden lassen müssen. Auch innerhalb der Städte greifen die Mechanismen der Einbeziehung in die Verantwortung durch ein meist direktes Ansprechen der Bürger und den Aufruf zur Beteiligung im Sinne eines „Du bist Kulturhauptstadt“. Die damit verbundene Inanspruchnahme bürgerschaftlichen Engagements wird auf einer lokalen Ebene oftmals mit finanziellen Mitteln unterstützt und auf EU-Ebene beispielsweise durch die Ausrufung eines „Jahres der Kreativität“ (2014) flankiert. Die Attraktivität dieses Kulturprogramms und sein symbolischer Mehrwert zeigen sich insbesondere in der Zahl der Bewerberstädte in den einzelnen Ländern, die sich auf nationaler Ebene bereits acht Jahre vor dem eigentlichen Event mit dem Titel der „Kandidatenstadt“ schmücken bzw. diesen Titel zur Durchsetzung von oftmals umstrittenen infrastrukturellen Projekten einsetzen. Die Europäische Union nimmt dabei vergleichbar zu anderen Großereignissen wie Olympischen Spielen oder Fußballmeisterschaften ungewollt eine Sündenbockfunktion ein und fungiert immer wieder als Bezugsebene, durch die Entscheidungen legitimiert werden.

Durch die Orientierung auf die im Beschluss 1622/2006/EG und vor allem im dazugehörigen Leitfaden beschriebenen Best-Practice-Beispiele generieren die teilnehmenden Städte ihrerseits aus ihrer urbanen Biografie und Textur kulturelles Erbe, das durch den Titel in einen größeren Bezugsrahmen überführt wird und durch die EU als Beleg für die Einheit in Vielfalt instrumentalisiert wird. Dieser von unten generierte Fundus an europäisch codierten materiellen und immateriellen Kulturgütern dient als Projektionsfläche im Unifikationsprozess und wird als Beleg für dessen Gelingen instrumentalisiert; ein einheitliches Konzept von Kultur wird konstruiert, politisch instrumentalisiert und den Bürgern Europas erfahrbar gemacht. Im Zuge dieser Selbstinszenierungs- und Bewerbungsmaßnahmen vollziehen die Städte einen Akt des „Writing Heritage“, durch das im Sinne einer Wissensformierung Fähigkeiten, Bedeutung, Authentizität und Historizität beispielsweise in Bewerbungsdossiers textuell rekonstruiert werden.[7] Diese Inanspruchnahme des kulturellen Erbes durch die Union verdeutlicht sich wiederum an Beiträgen wie der Publikation zum 25-jährigen Bestehen des Kulturhauptstadtkonzepts mit dem bezeichnenden Titel „The road to success“ und der dazugehörigen Festveranstaltung, an denen die Mechanismen der Erfolgsgeschichtsschreibung deutlich werden. Der mantraartigen Betonung einer inhaltsarmen „Europäischen Dimension“ steht das Verschweigen von vermeintlichen nicht erfolgreichen Kulturhauptstädten gegenüber; Porto, Rotterdam (2001) oder Patras (2006) finden so keine Aufnahme in das Selbstnarrativ der Union, belegen aber durch ihr Nicht-Erinnert-Werden die erwähnten verschiedenartigen Auslegungs- und Ausgestaltungsmöglichkeiten des Kulturhauptstadtkonzepts.

Sowohl für Bewerberstädte als auch für die eigentlichen Titelträger bietet das Kulturhauptstadtjahr die Gelegenheit, sich einerseits auf einer europäischen Bühne einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren und andererseits im städtischen Raum für Bewohner und Touristen neue Formationen der Selbstverortung und -inszenierung zu etablieren. Die sich daraus ergebenden Entwicklungslinien können dabei ganz unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen folgen. Zwar finden sich in allen Städten Auseinandersetzungen mit dem kulturellen Erbe Europas bzw. dem, was im jeweiligen Kontext darunter verstanden wird, und den von der EU vorgegebenen Bezugsebenen, daneben treten aber auch immer wieder spezifische Arrangements. Diese lokalen Eigenlogiken beginnen bereits bei der institutionellen Ansiedlung des verantwortlichen Gremiums innerhalb der politisch-administrativen Strukturen, gehen über die Ästhetisierungsstrategien, die Wissensproduktionen über das Eigene, die symbolischen Ausdrucksformen sowie die Prädikatisierungsprogramme hin zur programmatischen Ausgestaltung des Titeljahres, zur Einbindung und Partizipation der lokalen Bevölkerung und reichen bis zur Rezeption und nachträglichen Evaluation. Gerade im Hinblick auf Stadtentwicklungsszenarien erweist sich das Gesamtprogramm beispielsweise immer wieder als Motor innerstädtischer Bau- und Infrastrukturprojekte, die unter dem Label des Kulturhauptstadtjahres urbane Prozesse in Gang bringen. Je nach Perspektive und Standpunkt können diese Projekte und die dazugehörigen Narrative als Erfolg oder Misserfolg gelesen werden, letztendlich können sie aber vor allem als Beleg für die Dynamik und Heterogenität des Kulturraums Europa verstanden werden, zu dessen Ausgestaltung das Kulturhauptstadtprogramm seit 1985 einen entscheidenden Beitrag geleistet hat.



[1] Essay zur Quelle: EU-Kommission: Leitfaden für Bewerbungen als Kulturhauptstadt Europas (2006).

[2] EU-Kommission, Mitteilung zur Verstärkung der Gemeinschaftsaktionen im Bereich der Kultur („Fanti-Bericht“), in: Bulletin der EG, Beilage 6/82.

[3] EU-Parlament, Beschluss 1419/1999/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Mai 1999 über die Einrichtung einer Gemeinschaftsaktion zur Förderung der Veranstaltung „Kulturhauptstadt Europas“ für die Jahre 2005 bis 2019, in: Amtsblatt L 166 vom 01.07.1999.

[4] Vgl. Beck, Ulrich; Grande, Edgar, Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne, Frankfurt 2004 sowie Habit, Daniel, Die Inszenierung Europas? Kulturhauptstädte zwischen EU-Europäisierung, Cultural Governance und lokalen Eigenlogiken, Münster 2011.

[5] Vgl. Schmale, Wolfgang, Geschichte und Zukunft der Europäischen Identität, Stuttgart 2008.

[6] Castells, Manuel, The Space of Flows, Oxford 1996.

[7] Vgl. Tauschek, Markus, „Writing Heritage“ – Überlegungen zum Format Bewerbungsdossier, in: Berger, Karl C.; Schindler, Margot; Schneider, Ingo (Hgg.), Erb.gut? Kulturelles Erbe in Wissenschaft und Gesellschaft, Wien 2009, S. 437–448.



Literaturhinweise