Die Türkei und wir / Die Moderne Türkei (1931/1936)

Die Türkei und wir / Die Moderne Türkei (1931/1936)

Quelle 1[1]






Quelle 2[2]





Quelle 3[3]




[1] Coudenhove-Kalergi, Richard N., Die Türkei und wir, in: Paneuropa 7 (1931), Nr. 1, S. 13–14.

[2] Sonderheft Die Moderne Türkei. Europäische Revue 12 (1936), S. 433–529.

[3] Sonderheft Die Moderne Türkei. Europäische Revue 12 (1936), S. 433–529, hier S. 525.


Zugehöriger Essay: Europäisiert und modern. Wahrnehmungen der "neuen Türkei" in Europa-Bewegungen der Zwischenkriegszeit

Europäisiert und modern. Wahrnehmungen der „neuen Türkei“ in Europa-Bewegungen der Zwischenkriegszeit[1]

Von Florian Greiner

Seit dem Mittelalter dient die Türkei[2] als ein negatives Definitionsmerkmal Europas. Spätestens mit der Eroberung Konstantinopels 1453 durch Sultan Mehmed II. entwickelte sich die türkische Frage zu einem „Wetzstein europäischer Identität.“[3] In den folgenden Jahrhunderten intensivierten sich konstitutiv wirkende Abgrenzungen zwischen einem christlich-abendländisch konnotierten Europa und der islamisch-orientalischen Türkei etwa im Rahmen der frühneuzeitlichen Türkenkriege und der beiden Belagerungen Wiens durch osmanische Truppen 1529 und 1683.[4] Stereotype Fremdbilder, die unter Schlagworten wie der „Türkengefahr“ firmierten und im Zeitalter des Imperialismus noch rassistisch aufgeladen wurden, erwiesen sich in Europa als ebenso langlebige wie wirkmächtige Alteritätskonstruktionen.[5] Nicht zufällig wird das Land, dies unterstreicht die emotionale Debatte um einen türkischen EU-Beitritt, bis in die Gegenwart als das „externe Andere“ zur Demarkation Europas benutzt.[6] Und dies nicht nur von politischer Seite: Auch Historiker wie Hans-Ulrich Wehler und Heinrich August Winkler postulierten im Zuge dieser Auseinandersetzungen die Unvereinbarkeit von islamischer Türkei und christlichem Europa.[7]

Angesichts dessen stellt sich die Frage nach der historischen Entwicklung der europäisch-türkischen Beziehungen und nach Einschätzungen hinsichtlich der Europäizität des Landes in früheren Zeiten. Denn das Verhältnis der Türkei zu Europa war nie statisch. Beispielsweise hat Matthias Pohlig für die Frühe Neuzeit nachgewiesen, dass sich die europäische Bedrohungsidentität in Form der Angst vor einer osmanischen Eroberung seit Ende des 17. Jahrhunderts schrittweise in ein Überlegenheitsbewusstsein verwandelte, das zunehmend ohne religiöse Konnotationen auskam.[8] Für die Zeitgeschichte kommt dem Zeitraum der Entstehung des modernen türkischen Staates in den 1920er- und 1930er-Jahren eine zentrale Bedeutung zu. In diesen Dekaden wurden nicht nur innenpolitisch die Strukturen des Nationsbildungsprozesses in der neuen Republik bestimmt, sondern auch die Grundlagen der heutigen türkischen Europapolitik gelegt.[9] Wie reagierten die Europäer auf die Reform- und Transformationsprozesse in der Türkei? Die Quellen geben exemplarisch Aufschluss über die zeitgenössischen Verschiebungen des europäischen Blickes auf das Land.

Im Ersten Weltkrieg hatte sich die Frage nach der Zukunft des „Kranken Mannes am Bosporus“ und zugleich nach dem europäisch-türkischen Verhältnis verschärft. Innerhalb der Entente entwickelte sich die territoriale und politische Verdrängung der Türkei aus Europa nach dem Kriegseintritt des Landes auf Seiten der Mittelmächte in der öffentlichen Diskussion zu einem der wichtigsten Kriegsziele, dessen Berechtigung offensichtlich erschien. So forderte etwa der spätere tschechoslowakische Präsident Tomáš Garrigue Masaryk in seinem gegen Kriegsende formulierten, prominenten Programm für ein „neues Europa“, dass die Türkei in Europa kein Land mehr beherrschen dürfe und die Dardanellen und Konstantinopel fortan von den europäischen Verbündeten verwaltet werden sollten.[10] Auch in der britischen Presse dominierten stark kritische Deutungen, im Rahmen derer die lange Bedrohung des Kontinents durch die türkischen Moslems artikuliert wurde. Ein während der Friedensverhandlungen veröffentlichter Leitartikel der Londoner Times sah in der türkischen Präsenz in Europa gar „the real source of most European wars“ in den letzten 300 Jahren und betonte, dass niemals Frieden herrschen könne, solange die Türken nicht in das anatolische Hochland verbannt seien: „On moral and historical grounds, the need for terminating Turkish rule in Europe is indisputable.“[11]

Tatsächlich verlor die Türkei im Anschluss an die Kriegsniederlage durch den am 10. August 1920 geschlossenen Friedensvertrag von Sèvres schließlich nicht nur Gebiete im Nahen Osten sowie in West- und Ostanatolien, sondern musste auch die geografisch in Europa liegenden thrakischen Landesteile nahezu vollständig an Griechenland abgegeben.[12] Dabei handelten die alliierten Unterhändler in dem Pariser Vorort, wie der italienische Ministerpräsident Francesco Nitti rückblickend kommentierte, in der festen Überzeugung von der „Notwendigkeit, die Türken aus Europa herauszuwerfen“.[13] Jedoch entwickelte sich infolge des Widerstands der türkischen Nationalisten gegen den Friedensvertrag rasch eine militärische Auseinandersetzung mit Griechenland. Der Griechisch-Türkische Krieg von 1919 bis 1922 endete mit einem Sieg der Türkei und der Revision der Bestimmungen von Sèvres im Rahmen des am 24. Juli 1923 unterzeichneten Vertrags von Lausanne. Das Land erhielt darin nicht nur seine anatolischen Territorien zurück, sondern mit Ostthrakien auch einen Teil der zuvor verlorenen europäischen Gebiete.[14]

Gerade an der Rückgewinnung der europäischen Landesteile wurde zeitgenössisch die Bedeutung dieser außenpolitischen Wende festgemacht. In einem Leitartikel zur Lausanner Konferenz gab die Times zu bedenken, dass die geografische Grenze zwischen Europa und Asien künstlich sei, der Unterschied zwischen westlich-europäischer und östlich-orientalischer Tradition jedoch nicht bestritten werden könne. Die Türkei liege eindeutig im Osten, da das Land zwar seit Jahrhunderten Territorien auf dem Kontinent besitze, aber zu keiner Zeit Teil der europäischen Zivilisation gewesen sei.[15] Auch der Manchester Guardian kritisierte die bisherige Entwicklung des Landes, ließ aber der Türkei mit Blick auf die Zukunft eine Hintertür nach Europa offen. Für die Redaktion des Blattes sei, so stellte ein Kommentar im Oktober 1922 unmissverständlich klar, die Restauration der türkischen Herrschaft in Ostthrakien „a disaster to European civilisation“, habe doch die 600-jährige Präsenz des Landes in Europa nur Schlechtes gebracht. Allerdings liege eine künftige Europäisierung der Türkei durchaus im Bereich des Möglichen: „The Turk is in Europe; it may yet prove not wholly impossible to Europeanise him.“[16]

Mit der Konsolidierung des türkischen Staates nach außen und der Ausrufung der Republik am 29. Oktober 1923 durch Mustafa Kemal Pascha (der 1934 per Gesetzesbeschluss den Familiennamen „Atatürk“ erhielt) setzte innenpolitisch ein umfassendes Reformprogramm ein.[17] Dessen Stoßrichtung war dabei westlich-europäisch und richtete sich gegen die bisherigen Traditionen des Landes. So bildete die durchgehende Säkularisierung des Staates den Kern der kemalistischen Reformen. Zentrale Maßnahmen waren die Durchsetzung des Laizismus, welcher in der Verfassung von 1924 verankert wurde, die Einführung des metrischen Systems, des lateinischen Alphabets sowie des gregorianischen Kalenders, der die bis dahin angewendete islamische Zeitrechnung ersetzte, eine tiefgreifende Reformierung des Bildungssystems – etwa die Einführung der allgemeinen Schulpflicht und die Abschaffung des Arabisch- und Religionsunterrichts – sowie die Normierung der Gleichberechtigung von Mann und Frau im neuen, das bisher geltende islamische Recht ablösenden Bürgerlichen Gesetzbuch von 1926. Ferner erfolgte im Anschluss an die sogenannte „Hut-Reise“ Mustafa Kemals, auf der sich dieser in den eher konservativen, ländlichen Gegenden des Landes entschieden gegen das Tragen religiöser Kopfbedeckungen wie Turban oder Schleier gewandt hatte, ein Verbot des Tragens traditioneller Trachten und Hüte wie des Feses zugunsten europäischer Kleidung.[18]

In diesen zeithistorischen Kontext fällt die Publikation der hier behandelten Quellen. Der Autor des Artikels „Die Türkei und wir“ [Quelle 1], Richard Coudenhove-Kalergi, gilt als einer der bekanntesten Vertreter der europäischen Idee der Zwischenkriegszeit. Er war der Gründer und Leiter der wohl erfolgreichsten Europa-Bewegung vor dem Zweiten Weltkrieg, der Paneuropa-Union, die im Interbellum einen gewissen Bekanntheitsgrad in der europäischen Öffentlichkeit erringen konnte und zahlreiche prominente Unterstützer hatte.[19] Veröffentlicht wurde seine Stellungnahme zum türkisch-europäischen Verhältnis im Januar 1931 in der über den eigenen Hausverlag herausgegebenen Zeitschrift Paneuropa, dieab 1924 zehnmal jährlich mit einer Auflagenhöhe von 6.000 bis 8.000 Exemplaren erschien.[20]

Nachdem Coudenhove-Kalergi in seiner bekannten programmatischen Schrift von 1923 die Türkei noch aus seinem „Paneuropa“ – dessen Grenzen nicht geografisch, sondern politisch und kulturell bestimmt waren – ausgeschlossen hatte,[21] vertrat er knapp zehn Jahre später unter dem Eindruck des dortigen innenpolitischen Wandels eine gegenläufige Position. Unter Führung Kemals habe sich die Türkei „europäisiert“ und versuche „mit aller Macht“, sich politisch und kulturell an Europa anzuschließen. Konkret plädierte der österreichische Europäist daher für eine Aufnahme der Türkei in die Studienkommission für die Europäische Union. Diese kurzlebige Völkerbundkommission, in die er irrtümlich große Hoffnungen hinsichtlich der Verwirklichung einer politischen Föderation Europas setzte, war im Anschluss an den 1929/30 konzipierten Europaplan des französischen Politikers Aristide Briand im Rahmen des Völkerbundes gegründet worden.[22] Da ihr die Türkei als Nicht-Völkerbundmitglied nicht angehörte, hob Coudenhove-Kalergi die Vorteile einer Aufnahme des Landes hervor und betonte unmissverständlich: „Europa darf den europäischen Willen der Türkei nicht zurückstoßen.“ Die Kehrtwende Coudenhove-Kalergis bezüglich seiner Einschätzung der Türkei verdeutlicht auch, dass er einige Jahre später in seiner Funktion als Eigentümer, Herausgeber und Chefredakteur der Paneuropa einen Beitrag eines türkischen Autoren zur wirtschaftlichen Erneuerung des Landes in der Zeitschrift veröffentlichte. Dieser beschrieb die Türkei darin als einen integralen Bestandteil des europäischen Wirtschaftsraumes, der sich immer stärker an Europa anlehne und an dessen ökonomischen Grundsätzen orientiere: „Der Geist, der die Türkei modernisiert [...] steht im Zeichen der europäischen Technik.“[23]

Die zweite Quelle entstammt einem Mitte 1936 erschienenen Sonderheft der Europäischen Revue mit dem Titel „Die moderne Türkei“. Die 1925 ins Leben gerufene Monatsschrift war das Sprachrohr einer Anfang der 1920er-Jahre von Karl Anton Rohan in Wien unter dem Namen Europäischer Kulturbund gegründeten Europa-Bewegung.[24] Diese changierte im Verlauf der Zwischenkriegszeit zwischen einer jungkonservativen und faschistoiden Ausrichtung. Die ab 1927 in Berlin erschienene Kulturzeitschrift hatte im Interbellum zwischen 2.000 und 2.500 Abonnenten und wurde vom Auswärtigen Amt und von namhaften Wirtschaftsverbänden finanziell gefördert, unter anderem von der IG Farben, dem Unternehmer Robert Bosch sowie den Stahlindustriellen Émile Mayrisch und Otto Wolff. Auch wenn die Europäische Revue nach 1933 durch das NS-Propagandaministerium gelenkt wurde und sich die Schriftleitung rasch an die neue politische Situation anpasste, lässt sich ein völliger inhaltlicher Bruch mit den bis dahin vertretenen katholisch-abendländisch sowie autoritär-neoaristokratischen Europabildern erst ab Ende 1936 mit dem Ausscheiden Rohans als Herausgeber infolge politischer Diskrepanzen mit den nationalsozialistischen Machthabern über die Frage eines möglichen Anschlusses Österreichs feststellen.[25]

Das Sonderheft beinhaltet, wie das Inhaltsverzeichnis [Quelle 2] illustriert, insgesamt 14 Beiträge von renommierten türkischen und deutschen Verfassern zu unterschiedlichen Facetten der zeitgenössischen Entwicklung des Landes. Das Autorenspektrum reicht von Politikern über Journalisten bis hin zu Wissenschaftlern. Die inhaltliche Spannbreite spiegelt die verschiedenen Reformprogramme in der Türkei und gleichzeitig die Charakteristika der vermeintlich durch das Land adaptierten europäischen Moderne: Die einzelnen Artikel thematisierten unter anderem die innen- und außenpolitische Konsolidierung, die durchgehende Industrialisierung der „neuen Türkei“ und ihre wirtschaftliche Konjunktur im Unterschied zum agrarisch geprägten und chronisch finanzschwachen Osmanischen Reich, die verbesserte Stellung der Frau (nicht zufällig gehörten auch zwei Frauen zum Autorenkreis des Sonderheftes), den sozialen Wandel und die Ausprägung wohlfahrtsstaatlicher Strukturen sowie die Sprachreform. Der Turkologe Gotthard Jäschke beschrieb in seinem Überblick über die neue türkische Hauptstadt Ankara die Europäisierung der türkischen Architektur in Form einer neuen Rationalität und Nüchternheit sowie des „Übergang[s] zur türkischen Baukunst der Zukunft, in der eine Verbindung europäischer Formgebung mit türkischer Empfindung zu erstreben sein wird.“[26] Und Franz Frederik Schmidt-Dumont, ein Vertreter des Deutschen Nachrichtenbüros in Ankara und ehemaliger Berater beim Bau der Berlin-Bagdad-Bahn, unterstrich die Verkehrsrevolution in dem lange als technisch rückständig geltenden Land: „Nirgends schreitet [...] die verkehrstechnische Entwicklung so schnell voran wie in der Türkei […].“[27] Eine Karte am Ende des Sonderheftes [Quelle 3] zeigte denn auch die Erschließung Anatoliens durch Eisenbahnstrecken. Eine neue Modernität erschien insofern als Kennzeichen des Landes, das auch alltagskulturell nach Europa hineinwachse, lege doch die Bevölkerung ihre „primitive orientalische Tracht“ bereitwillig zugunsten europäischer Kleidung ab.[28] Die semantische Bedeutung und Aufladung des Begriffes „modern“ für die wahrgenommene neue Europäizität der Türkei illustriert eine Anekdote, von der der Journalist Falih Rifki Atay in seinem Beitrag berichtet. Ein geistlicher Abgeordneter habe in einer Parlamentssitzung gefragt, „was eigentlich dieses neue Wort ‚modern‘ bedeuten solle“, woraufhin Mustafa Kemal geantwortet habe: „Mensch sein, Herr Abgeordneter, Mensch sein“.[29]

Insgesamt unterstreichen die Quellen somit erstens, dass die Rezeption des kemalistischen Reformprogrammes in Europa stark positiv war.[30] Die – in der Forschung bis heute kontrovers diskutierte – Frage nach den Grenzen der Reformen und möglichen Misserfolgen sowie den Widerständen dagegen, die gerade im ländlichen Raum groß waren, blendeten die zivilgesellschaftlichen Europa-Bewegungen in ihrer Evaluation der Lage vollständig aus.[31] Vielmehr stellten sie die Genese der „neuen Türkei“ als durchweg erfolgreich dar, wobei die zunehmende Modernität des Landes als eine Form der Europäisierung interpretiert wurde.

Dies dürfte auch damit zusammenhängen, dass die Modernisierung der Türkei in der Zwischenkriegszeit unter tatkräftiger Mithilfe europäischer und vor allem deutscher Experten ablief, deren optimistischen Einschätzungen von ihrer eigenen Arbeit sich direkt in dem Sonderheft der Europäischen Revue niederschlugen.[32] Deren rundum positive Wahrnehmungen des Kemalismus lassen sich auch als eine spezifische Spielart der von Stefan Ihrig jüngst klar aufgezeigten Modellfunktion interpretieren, die der „neuen Türkei“ im Denken der politischen Rechten in der Weimarer Republik und anschließend im Nationalsozialismus mit Blick auf Fragen der national-völkischen Selbstbehauptung und der säkularen Modernisierung zukam.[33]

Zweitens zeigt sich in den Artikeln, wie sich innerhalb von nicht einmal 15 Jahren die „Mental Map“ Europas fundamental gewandelt hatte. Obwohl die Türkei trotz aller Reformen fraglos ein Land mit tiefgreifenden islamischen Wurzeln und Traditionen blieb, welches gemäß der – damals wie heute üblichen – geografischen Grenzziehung größtenteils außerhalb des Kontinents lag, erschien sie selbst im Umfeld konservativ-abendländischer Europa-Organisationen als europäisiert. So lagen die beiden wichtigsten Publikationsorgane der Europa-Bewegung der Zwischenkriegsjahre, die Pan-Europa und die Europäische Revue, hinsichtlich der Beurteilung der neuen Gestalt des türkisch-europäischen Verhältnisses inhaltlich auf einer Linie. Dies überrascht umso mehr, da die dahinter stehenden Verbände, die Paneuropa-Union um Coudenhove-Kalergi und der Europäische KulturbundRohans, miteinander verfeindet und daher stets darum bemüht waren, sich voneinander abzugrenzen.[34] Tatsächlich entfalteten traditionelle Alteritätskonstruktionen und essentialistische Europavorstellungen, die die Türkei als islamischen Staat aus einem christlichen „Kultureuropa“ ausschlossen, in den 1930er-Jahren offenbar keine Wirkungsmacht mehr, was sich auch in der breiten Berichterstattung der internationalen Tagespresse niederschlug.[35] Die „neue Türkei“ entwickelte sich vielmehr in der Zwischenkriegszeit zu einem festen Bestandteil eines „neuen Europas“, dessen konstitutive Charakteristika nicht mehr länger religiös bestimmt waren. Im Angesicht des wahrgenommenen Wandels der Türkei infolge der kemalistischen Reformen relativierte sich die Bedeutung christlicher Zuschreibungen ebenso wie mutmaßliche geografisch-territoriale Fixpunkte bei der Konstruktion des Raumes „Europa“.[36] Als entscheidendes Merkmal der diagnostizierten türkischen Europäizität stand vielmehr die neue Modernität des Landes im politischen, technischen, alltagskulturellen und sozialen Bereich im Vordergrund. Somit illustrieren die Quellen letztlich die Genese eines säkularen Europabegriffes, den die ideengeschichtliche Europaforschung bislang nur unzureichend untersucht hat.[37]



[1] Essay zu den Quellen: Die Türkei und wir / Die Moderne Türkei (1931/1936).

[2] Auch wenn das Land bis 1923 offiziell „Osmanisches Reich“ hieß, wird im Folgenden zur Vereinfachung durchgehend die in Europa bereits lange zuvor gängige Bezeichnung „Türkei“ verwendet, vgl. hierzu Findley, Carter, The Turks in World History, Oxford 2005, S. 56f.

[3] Helmrath, Johannes, Enea Silvio Piccolomini (Pius II.) – Ein Humanist als Vater des Europagedankens?, in: Themenportal Europäische Geschichte, URL: <http://www.europa.clio-online.de/2007/Article=118> (20.05.2015).

[4] Vgl. Geier, Wolfgang, Europabilder. Begriffe, Ideen, Projekte aus 2500 Jahren, Wien 2009, S. 45-48 und S. 98–103 sowie die klassische Studie: Fischer, Jürgen, Oriens – Occidens – Europa. Begriff und Gedanke „Europa“ in der späten Antike und im frühen Mittelalter, Wiesbaden 1957. Ausführlich zur zentralen Bedeutung der Türkei als dem „Anderen“ bei der Konstruktion „Europas“: Konrad, Felix, Von der 'Türkengefahr' zu Exotismus und Orientalismus: Der Islam als Antithese Europas (1453–1914)?, in: Europäische Geschichte Online, URL: <http://www.ieg-ego.eu/konradf-2010-de> (20.05.2012).

[5] Vgl. hierzu besonders Said, Edward: Orientalism. Western Conceptions of the Orient, London 1991 [¹1978] und Neumann, Iver, Uses of the Other. “The East” in European Identity Formation, Manchester 1999, S. 39–63.

[6] Vgl. Quenzel, Gudrun, Konstruktionen von Europa. Die europäische Identität und die Kulturpolitik der Europäischen Union, Bielefeld 2005, S. 34–36. Ausführlich zur Diskussion um einen möglichen türkischen EU-Beitritt und den sich damit verbindenden Topoi von der Türkei als einem konstitutiven Anderen Europas: Walter, Jochen: Die Türkei – ‚Das Ding auf der Schwelle‘. (De-)Konstruktionen der Grenzen Europas, Wiesbaden 2008.

[7] Wehler, Hans-Ulrich, Das Türkenproblem, in: Die Zeit, 12. September 2002, URL: <http://www.zeit.de/2002/38/200238_tuerkei.contra.xml/komplettansicht> (20.05.2015) und Winkler, Heinrich August, Soll Europa künftig an den Irak grenzen?, in: Leggewie, Claus (Hg.), Die Türkei und Europa. Die Positionen. Frankfurt am Main 2004, S. 271–273. Vgl. zum „Historikerstreit“ um das europäisch-türkische Verhältnis Kreis, Georg, Europa und seine Grenzen, Bern 2004, S. 106–114.

[8] Pohlig, Matthias, Orientalismus in Fässern. Europa und die Türken um 1700, in: Themenportal Europäische Geschichte, URL: <http://www.europa.clio-online.de/2009/Article=337> (20.05.2015).

[9] Zur Bedeutung der kemalistischen Reformen für die Europapolitik der Türkei bis in die Gegenwart vgl. Kaya, Sümeyra, Entscheidung für Europa. Historische Grundlagen der türkischen Europapolitik, Essen 2014 und Yazicioglu, Ümit, Erwartungen und Probleme hinsichtlich der Integrationsfrage der Türkei in die Europäische Union, Berlin 2005, bes. S. 43–79.

[10] Masaryk, Tomáš, The New Europe. The Slav Standpoint, Lewisburg 1972 [¹1918], S. 184.

[11] The Future of the Turkish Empire, in: The Times, 7. Januar 1920, S. 13.

[12] Zum Friedensvertrag von Sèvres vgl. Kreiser, Klaus, Die neue Türkei (1920–2002), in: ders.; Neumann, Christoph K., Kleine Geschichte der Türkei, Bonn 2005, S. 383–475, hier S. 401 sowie Steinbach, Udo, Geschichte der Türkei, München ²2001, S. 25f.

[13] Nitti, Francesco, Das friedlose Europa. Frankfurt am Main 1922, S. 43.

[14] Vgl. zum Griechisch-Türkischen Krieg und zum Vertrag von Lausanne: Seufert, Günther; Kubaseck, Christopher, Die Türkei. Politik, Geschichte, Kultur, München 2004, S. 81–85 und Sundhaussen, Holm, Von „Lausanne“ nach „Dayton“. Ein Paradigmenwechsel bei der Lösung ethnonationaler Konflikte, in: Themenportal Europäische Geschichte, URL: <http://www.europa.clio-online.de/2006/Article=79> (20.05.2015).

[15] Turkey in Europe, in: The Times, 13. Dezember 1922, S. 13.

[16] The Turk in Europe, in: Manchester Guardian, 9. Oktober 1922, S. 6.

[17] Zu dessen in die Zeit der jungtürkischen Bewegung vor dem Ersten Weltkrieg zurückreichenden historischen Hintergründen vgl. Zürcher, Erik J., The Young Turk Legacy and Nation Building. From the Ottoman Empire to Atatürk’s Turkey, London 2010. Zur Frage nach der korrekten namentlichen Bezeichnung Mustafa Kemals vgl. das Kapitel „Der Mann mit den vielen Namen“ in: Kreiser, Klaus, Atatürk. Eine Biographie, München ³2008, S. 11–20.

[18] Zum kemalistischen Reformprogramm und seiner Bedeutung für den Prozess der Nationsbildung vgl. Menzler, Walter, Atatürk begründet die moderne Türkei. Eine Einführung in die politischen und gesellschaftlichen Grundlagen der heutigen Türkei anhand des Reformwerks von Kemal Atatürk 1918 bis 1938, Berlin 1992; Gronau, Dietrich, Mustafa Kemal Atatürk oder Die Geburt der Republik, Frankfurt am Main 1994, S. 237–247 und ausführlich Yilmaz, Hale, Becoming Turkish. Nationalist Reforms and Cultural Negotiations in Early Republican Turkey (1923–1945), Syracuse 2013.

[19] Vgl. Schöberl, Verena, „Es gibt ein großes und herrliches Land, das sich selbst nicht kennt… Es heißt Europa“. Die Diskussion um die Paneuropaidee in Deutschland, Frankreich und Großbritannien 1922–1933, Berlin 2008 sowie zur Biografie Coudenhove-Kalergis: Conze, Vanessa, Richard Coudenhove-Kalergi. Umstrittener Visionär Europas, Göttingen 2004.

[20] Vgl. zur Paneuropa-Union: Paul, Ina Ulrike, Die Paneuropa 1933–38 und Coudenhove-Kalergi: Ein „getreues Spiegelbild seines Denkens und Wollens und Wirkens“, in: Grunewald, Michel; Bock, Hans Manfred (Hgg.), Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften (1933–1939), Bern 1999, S. 161–193 und Ziegerhofer-Prettenthaler, Anita, Botschafter Europas. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren, Wien 2004, S. 118–120.

[21] Vgl. Coudenhove-Kalergi, Richard, Pan-Europa, Wien 1924 [¹1923], S. 36. In der beiliegenden Weltkarte war die Türkei keinem der fünf geopolitischen Großräume zugeteilt und weiß unterlegt sowie mit einem Fragezeichen versehen.

[22] Vgl. zum Briand-Plan und zur Studienkommission sowie deren historischen Hintergründen und den Ursachen für ihr letztliches Scheitern: Kießling, Friedrich, Der Briand-Plan von 1929/30. Europa als Ordnungsvorstellung in den internationalen Beziehungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Themenportal Europäische Geschichte, URL: <http://www.europa.clio-online.de/2008/Article=294> (20.05.2015).

[23] Tahir, Bedri, Die wirtschaftliche Erneuerung der Türkei, in: Paneuropa 10 (Mai 1934), S. 115–117, hier S. 117. In dieser Ausgabe findet sich darüber hinaus ein Artikel des griechischen Außenministers Dimitrios Maximos zur neuen griechisch-türkischen Freundschaft, mittels derer die Grundlagen einer „weitergehenden Zusammenarbeit aller Völker Europas“ geschaffen würden; Dimitrios Maximos, Griechisch-türkische Freundschaft, in: ebd., S. 111f., hier S. 112.

[24] Vgl. zum „Europäischen Kulturbund“ und zur Biografie Rohans: Müller, Guido, Europäische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. Das Deutsch-Französische Studienkomitee und der Europäische Kulturbund, München 2005, bes. S. 309–456; Müller, Nils, Karl Anton Rohan (1898–1975). Europa als antimoderne Utopie der Konservativen Revolution, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 12 (2011), S. 181–206 und Schulz, Matthias, Der Europäische Kulturbund, in: Europäische Geschichte Online, URL: <http://www.ieg-ego.eu/schulzm-2010c-d> (20.05.2015).

[25] Vgl. zur Geschichte der „Europäischen Revue“: Müller, Guido, Von Hugo von Hofmannsthals „Traum des Reiches“ zum Europa unter nationalsozialistischer Herrschaft – Die „Europäische Revue“ 1925–1936/44, in: Kraus, Hans-Christof (Hg.), Konservative Zeitschriften zwischen Kaiserreich und Diktatur. Fünf Fallstudien, Berlin 2003, S. 155–186 sowie dezidiert zur inhaltlichen Ausrichtung der schließlich 1944 eingestellten Zeitschrift: Bock, Hans Manfred, Das „Junge Europa“, das „Andere Europa“ und das „Europa der weißen Rasse“. Diskurstypen in der Europäischen Revue 1925–1939, in: ders.; Grunewald, Michel (Hgg.), Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften (1933–1939), Bern 1999, S. 311–351.

[26] Jäschke, Gotthard, Ankara, die Hauptstadt der türkischen Republik, in: Europäische Revue 12 (Juni 1936), S. 457–463, hier S. 461. Zur Bedeutung städtischer Infrastruktur für die Konstruktion Europas vgl. Dinçkal, Noyan, „The Universal Mission of Civilisation and Progress”. Infrastruktur, Europa und die Osmanische Stadt um 1900, in: Themenportal Europäische Geschichte, URL: <http://www.europa.clio-online.de/2009/Article=348> (20.05.2015).

[27] Schmidt-Dumont, Franz F., Das türkische Verkehrswesen, in: Europäische Revue 12 (Juni 1936), S. 490–497, hier S. 497. Vgl. zur Biografie Schmidt-Dumonts: Mejcher, Helmut; Schmidt-Dumont, Marianne (Hgg.), Franz Frederik Schmidt-Dumont. Von Altona nach Ankara. Ein hanseatisches Leben im Vorderen Orient (1882–1952), Münster 2010.

[28] Süreyya, Sevket, Die soziale Bedeutung der türkischen Revolution, in: Europäische Revue 12 (Juni 1936), S. 500–506, hier S. 502. Vgl. zur Modernisierung der Kleidungsstile in der Türkei und deren gesellschaftlich-politischer Relevanz Yilmaz, Becoming, S. 22–138.

[29] Atay, Falih Rifki, Atatürk, in: Europäische Revue 12 (Juni 1936), S. 433–442, hier S. 440.

[30] Vgl. hierzu auch für den massenmedialen Diskurs Greiner, Florian, Wege nach Europa. Deutungen eines imaginierten Kontinents in deutschen, britischen und amerikanischen Printmedien 1914–1945, Göttingen 2014, S. 342f.

[31] Den klassischen historiografischen Zugang zu dieser Frage stellt eine 1961 veröffentlichte Monografie des britisch-amerikanischen Turkologen Bernard Lewis dar, der die türkische Revolution größtenteils als Erfolgsgeschichte zeichnet: Lewis, Bernard, The Emergence of Modern Turkey, Oxford ³2002 [¹1961], bes. S. 239–293 und S. 480–487. Kritisch zu den Einschätzungen von Lewis vgl. Zürcher, Legacy, bes. S. 41–53. Skeptisch hinsichtlich der faktischen Bedeutung speziell der laizistischen Reformen Menzler, Atatürk, S. 97–99.

[32] Eine umfassende Untersuchung und historische Neubewertung der intensiven deutsch-türkischen Beziehungen in Politik, Kultur und Gesellschaft zwischen 1918 und 1933 bietet Mangold-Will, Sabine, Begrenzte Freundschaft. Deutschland und die Türkei 1918–1933, Göttingen 2013.

[33] Ihrig, Stefan, Atatürk in the Nazi Imagination, Cambridge 2014. Ohnehin ließen sich die Türken auch in die nationalsozialistische Rassenideologie verhältnismäßig gut integrieren, was eine politische Annäherung weiter begünstigte. Dies zeigt David Motadel in seiner wegweisenden Studie zu den Versuchen der Nationalsozialisten, im Zweiten Weltkrieg eine politisch-militärische Allianz mit dem Islam einzugehen. Vgl. Motadel, David, Islam and Nazi Germany’s War, Cambridge 2014, v.a. S. 58.

[34] Einen dezidierten Vergleich der beiden Europa-Bewegungen bietet: Ziegerhofer-Prettenthaler, Anita, Eurotopias: Coudenhove-Kalergi’s Pan-Europa and Rohan’s Europäischer Kulturbund, in: Dini, Vittorio; D’Auria, Matthew (Hgg.), The Space of Crisis. Images and Ideas of Europe in the Age of Crisis: 1914–1945, Brüssel 2013, S. 161–180.

[35] Greiner, Wege, S. 334–344. Vgl. speziell zur Darstellung des Türkischen Unabhängigkeitskrieges in der deutschen Presse, der sich zu einem „major Weimar media event“ entwickelte, Ihrig, Atatürk, S. 10–67.

[36] Vgl. zur simultanen Modernisierung und Europäisierung der Türkei in der historischen Langzeitperspektive die sehr pointierte Darstellung von Ayhan Kaya und Ayse Tecmen, deren Schlussfolgerungen sich jedoch ausschließlich auf den zeitgenössischen supranationalen europäischen Integrationsprozess beziehen, Kaya, Ayhan; Tecmen, Ayse, Turkish Modernity: A Continuous Journey of Europeanization, in: Ichijo, Atsuko (Hg.), Europe, Nations and Modernity, Basingstoke 2011, S. 13–36.

[37] Vgl. als Ausnahme hiervon den technikgeschichtlich ansetzenden Sammelband von Oster, Angela (Hg.), Europe en mouvement. Mobilisierung von Europa-Konzepten im Spiegel der Technik, Berlin 2009.



Literaturhinweise:

  • Ihrig, Stefan, Atatürk in Nazi Imagination, Cambridge 2014.
  • Kaya, Sümeyra, Entscheidung für Europa. Historische Grundlagen der türkischen Europapolitik, Essen 2014.
  • Mangold-Will, Sabine, Begrenzte Freundschaft. Deutschland und die Türkei 1918–1933, Göttingen 2013.
  • Yilmaz, Hale, Becoming Turkish: Nationalist Reforms and Cultural Negotiations in Early Republican Turkey, 1923–1945, Syracuse 2013.
  • Zürcher, Erik J., The Young Turk Legacy and Nation Building. From the Ottoman Empire to Atatürk’s Turkey, London 2010.

Quelle zum Essay
Europäisiert und modern. Wahrnehmungen der "neuen Türkei" in Europa-Bewegungen der Zwischenkriegszeit
( 2015 )
Citation
Die Türkei und wir / Die Moderne Türkei (1931/1936), in: Themenportal Europäische Geschichte, 2015, <www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-28530>.
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