Über Arbeit und Politik in der Re/Produktion. Die Arbeiterinnen der selbstverwalteten Glashütte Süßmuth im Gespräch mit Erasmus Schöfer (2. September 1973)[1]
[Das Gespräch fand am 2. September 1973 bei Kaffee und Kuchen in einem Raum des Betriebs statt. Die Gliederung des von Erasmus Schöfer moderierten offenen Gruppengespräch wurde im folgenden Transkript-Auszug in der Grundstruktur beibehalten, einzelne Gesprächsteile wurden jedoch entlang der im Essay vorgenommenen Schwerpunktsetzung verschoben.]
I Die Arbeitsbedingungen in der Produktion
[…]
Erasmus Schöfer: Als was haben sie gearbeitet damals [vor der Betriebsübernahme, CM]?
Sprengerin: Ich hab, von Anfang an war ich in der Sprengerei.
Frühere Kollegin: Ich hab mehrere Arbeiten gemacht – erst Schleifen, ist mir sehr schwer gefallen. Vor allem wegen dem Augenlicht [war das] sehr schlecht. Da war das Tageslicht und nachher dann durch das bunte Glas haben die Augen furchtbar gelitten. Da hab ich mich dann bemüht, dass ich eine andere Arbeit kriege. Dann hab ich gesprengt und dann bin ich ans Kühlband, fast drei Jahre. War immer mal da und mal da – hatte eine Zeit lang keine feste Arbeitsstelle. Musste aber noch nebenbei noch sprengen, weil zu wenig Arbeit [am Kühlband] war. […] Es war eine Zeit sehr gut, eine Zeit war aber auch alles kaputt.
Kühlbandabnehmerin: Aber es geht, es geht [jetzt]. Das liegt auch an den neuen Kühlbändern jetzt. Ist ja alles neu gemacht worden.
Frühere Kollegin: [unverständlich] ... gibt einige Probleme mit den neuen Kühlbändern!
Sprengerin: Das war jetzt erst, letzte Woche, das so viel kaputt gegangen ist. Davor ist das noch häufiger passiert. Da haben wir das [Glas, CM] mit der Schippe heruntergenommen.
Frühere Kollegin: Erst gab es Wochen, wo es nachgekühlt werden musste – dann war es zu heiß. Da kriegten sie gar nichts raus.
Sprengerin: Früher ist das viel passiert. Das war sehr schlimm [unverständlich]. Jetzt mit den neuen Kühlbändern ist es schon wieder besser.
Frühere Kollegin: Früher wurde das Essen auf dem Kühlbändern warm gemacht. Konnte ich Bratwurst und Spiegelei braten. Das war ganz toll auf meinem Kühlband.
Kühlbandabnehmerin: Geht heute nicht mehr.
Frühere Kollegin: Also es war vorher auch eine schöne Zeit gewesen. Mittags kamen die Frauen und haben ihr Töpfchen drauf gestellt.
Erasmus Schöfer: Und das haben Sie dann einmal durchlaufen lassen?
Frühere Kollegin: Nein oben auf dem Deckel drauf. Da sind doch die Klappen da und da haben wir es oben drauf gestellt. Und diese Ausländer-Frau, diese Familie da aus Griechenland, ne, die kamen da immer Mittags da, ne, zum Essen warm machen. Da haben wir ein schönes Eckchen da eingerichtet, da an meinem Arbeitsplatz, und da haben wir uns da immer schön wohl gefühlt.
Sprengerin: War früher auch eine schöne Zeit. Ist wirklich wahr.
Frühere Kollegin: Obwohl der Winter war auch nicht angenehm – da haben wir sehr gefroren. Bei uns am Kühlband, wo ich stand, da hat es furchtbar reingezogen, weil das Dach oben alles kaputt war. Und da standen wir da mit Schal [...] und waren richtig eingemummst waren wir, ne.
Sprengerin: Hauptsächlich die Finger, oh weih.
Frühere Kollegin: Im Sommer konntest du es nicht aushalten vor Hitze und im Winter hast du keine Wärme gefunden. War eiskalt.
Sprengerin: Das geht heute auch. Weil jetzt das eine Kühlband, was vorne durchläuft [unverständlich] Heute ist es so warm! Oh, also ganz furchtbar, was wir früher um diese Zeit schon gefroren haben, [...].
[…]
Kühlbandabnehmerin:…ist aber heute viel schlimmer geworden, [Anrede der früheren Kollegin mit Vornamen], was müssen wir heute alles machen. […] Guck mal: Damals war's nicht wie heute - was müssen wir heute durchzählen: Glasfehler, Arbeitsfehler - alles was ist weg ...
Sprengerin: Nur ein gutes, wir haben jetzt Wagen und brauchen keine Kisten mehr heben. Das macht auch schon viel aus. Was musste ich damals Kisten schleppen! Also, ich weiß nicht, ob das ein Mann lange gemacht hätte .[…]
Frühere Kollegin: Freitags war kein Mann da - die Kühlbänder. Das mussten wir alles alleine machen. Wir mussten uns gegenseitig mal ein bisschen helfen. Und das waren diese schweren Zylinder und das schwere Zeug von der Beleuchtung. Na wir zwei haben uns gegenseitig geholfen. Wir standen ja nebeneinander. Aber meine eine Kollegin, die ein bissl weiter weg war - die hat dann auch manchmal gerufen, aber meistens hat sie auch alles selber gemacht. Es war schon sehr schwer auch für die Frauen. Also arbeitsmäßig war es nicht schön.
Sprengerin: Doch heute geht das prima!
[...]
Erasmus Schöfer [gerichtet an frühere Kollegin]: Und warum sind Sie weggegangen?
Frühere Kollegin: Die Schwiegermutter war damals schwer krank. Und das da immer einer da war. Nachts war mein Mann da und tagsüber war ich zu Hause. [Pause] Hab ich dann die Nachtschichtstelle bei der Post übernommen, weil wir konnten auf das Geld nicht verzichten - da hab ich ein großes Opfer gebracht! [Pause] Naja.
Erasmus Schöfer: Aber Sie waren demnach dann sehr gerne in der Hütte?
Frühere Kollegin: Ja, ich gehe heute noch gerne in die Hütte rein! [Pause] Viele fragen, wenn ich da bin und meinem Mann Essen bringe: „Wann willst du wieder anfangen?“
[...]
Erasmus Schöfer: Das Sprengen sieht so einfach aus, dass man eben bloß so mit der Flamme ...
Sprengerin: Ist aber nicht so einfach!
Frühere Kollegin: Man muss alles genau wissen.
Sprengerin: Und dann muss es immer so gerade sein. Gerade bei den Zylindern, jetzt bei den Schaum[glaszylindern] – die werden ja nicht noch einmal geschliffen, die meisten. [...]
Frühere Kollegin: Weißt du was ich schlecht finde: Diese Beleuchtung da [unverständlich]
Sprengerin: Ja, ja, [...] das war auch so eine Sache - diese schräge Beleuchtung! Statt gerade gesprengt, werden sie schräg abgesprengt.
Frühere Kollegin: ...das ging ganz schlecht! Ach die ersten – und mein Herz hat geklopft und da steht er [der Vorgesetzte] und guckt also... [unverständlich]
Sprengerin: ...ich weiß nicht, was kaputt geht, geht kaputt! [unverständlich]
Frühere Kollegin: [unverständlich] Er ging weg und dann ging es auch. Und als er wieder kam, ging es wieder kaputt. [Lachen]
Sprengerin: Genauso hat er [einer anderen Kollegin] immer Vorschriften gemacht: „Kein Wasser nehmen!“ oder „Nicht so viel anreißen!“ Ich sage: Sollte einmal zu mir einer kommen und mir sagen, wie ich zu sprengen habe! Und wenn es der [Betriebsleiter] ist! Ich sage: Ich sprenge, nicht Sie! Und das hat mein Mann auch [dem Betriebsleiter] gesagt: „Gehen Sie mal zu meiner Frau und sagen Sie mal, wie die sprengen soll.“ [Lachen] Ich lass mich nicht belehren!
Freundin: Na vor allem, wenn man es kann!
Sprengerin: Na, deswegen! Ich hab so lange gesprengt! Ich weiß, wie ich zu sprengen habe. Jedes Glas ist wieder anders. Da muss man wieder anders [absprengen] – einmal mehr und einmal weniger, ne.
[...]
II Die Betriebsübernahme und Selbstverwaltung
Erasmus Schöfer: Man müsste mal versuchen, zu erzählen, wie das so angefangen hat. Also da im Sommer 1969. Wenn Sie sich daran noch erinnern. Vielleicht, wenn Sie sich auch mal erinnern, wann ihr Mann das erste Mal was davon erzählt hat, dass es jetzt hier so kriselt in der Hütte und dass da eine Belegschaftsversammlung war und so was.
Freundin: Ach du liebe Zeit.
Erasmus Schöfer: Ob Sie sich daran noch erinnern? [Pause]
Kühlbandabnehmerin [zögerlich]: Na, dann vor der Zeit, nach der Zeit, wie Süßmuth nicht abgeben wollte. Dann fing es ja erst richtig an. Wo man nur laufend dachte: Was wird? Werden wir die Arbeit verlieren oder nicht?
[…]
Erasmus Schöfer: Aber selbst mitgemacht haben Sie nicht beim Flugblätter verteilen? Oder wo haben die Frauen denn da mal mitgemacht?
Kühlbandabnehmerin: Wir haben nur alle mitgemacht, wie es dann so weit war, dass wir alles aufgeben sollten.
Frühere Kollegin: Da hat sich dann hier die Familie beteiligt.
Kühlbandabnehmerin: Bei dem [Protestzug durch Immenhausen, CM].
Sprengerin: Also ich hatte zu meinem Mann gesagt damals: „Weißt du, was wir machen? Ich wollte mich mit so ein paar Frauen zusammentun...“ Ich habe so einen Vorschlag gemacht und das hätte ich auch gemacht. Zusammentun und dann hoch zum Süßmuth, ne. Und dann hätten wir gesagt, wie das ist. Aber danach gingen sie dann - nächsten Tag oder wann, ich weiß es nicht mehr, - mit dem Sarg dann.[2] Das hat dann gewirkt. [Pause] Also ich wär' hochgegangen! Ich hätte ihm das...
[…]
Erasmus Schöfer [zur Freundin]: Warum sind Sie denn nicht mitgegangen bei dem Zug?
Freundin: Ja, das kann ich Ihnen auch nicht sagen. Ich weiß es nicht.
Erasmus Schöfer: Na, ich mein nur, ob sie nicht wollten, nicht sollten – von ihrem Mann aus oder so?
Freundin: Nee, also dass ich nicht sollte, nein. Vielleicht wollte ich auch nicht – vielleicht wegen den Kindern. Ich weiß es nicht.
Sprengerin: Ich bin damals auch nicht mit![3]
Erasmus Schöfer: Nee? Na, ich hab nur gehört, dass Verschiedene [Frauen, CM] auch nicht wollten, einfach, aus Überzeugung, weil Sie es nicht gut fanden oder so.
Freundin: Nee, nee. Wenn mein Mann da mit geht. Ich glaube, dass ich da eine Stimme hab mit meinem Mann in dieser Richtung. Nee, das ich dagegen war nicht, deswegen nicht – muss irgend ein anderer Grund gewesen sein.
Erasmus Schöfer [zu Sprengerin]: Und warum sind Sie nicht mitgegangen?
Sprengerin: Zu dieser Zeit war unser Kind noch ziemlich klein. Ich glaube, es war auch nicht … wegen ... das Wetter war nicht so gut ... Weiß auch nicht genau.
Kühlbandabnehmerin: Es war auch kalt. Es hatte geschneit! […]
Sprengerin: Mitgegangen wäre ich dann auf alle Fälle!
Frühere Kollegin: Ich hab nicht mehr [hier] gearbeitet und bin trotzdem mit [gegangen]. Ich mein, das war praktisch so - man musste auch kämpfen! Wenn der Mann noch da ist ...
Sprengerin: Ja sicher!
Kühlbandabnehmerin: Das ging ja alle an! Das ging ja alle an!
Sprengerin: Ich wollte dann später auch wieder [hier] arbeiten gehen.
Erasmus Schöfer: Hat man das denn nun gemerkt, zum Beispiel beim Einkaufen im Dorf? Haben die Leute da drüber gesprochen?
Frühere Kollegin: Wird viel, wird viel gesprochen!
Kühlbandabnehmerin: Sehr viel. Es wurde sehr viel da drüber gesprochen!
Frühere Kollegin: Es war praktisch … also ganz Immenhausen, kann man bald sagen, war alles im Aufruhr. Die Geschäftsleute vor allen Dingen. Die haben sich auch viel mit beteiligt. Einzelne waren dagegen, die Einen waren dafür.
Freundin: Ich würde sagen, der ältere Teil hat doch mehr zum Süßmuth gehalten, als wie zu den jungen Leuten da, die jetzt da versucht haben aus diesem Zusammenbruch irgendwie noch was zu machen.
Frühere Kollegin: Ja, das habe ich eben gemeint. Es waren viele, ein Großteil dagegen. [...] Wurde gesagt: „Was wollt ihr machen? Der arme Mann [Richard Süßmuth]! Ihr müsst daran denken, der hat alles aufgebaut!“. Ich sagte: „Das wissen wir selbst auch! Das geht ja nicht darum. Es geht ja jetzt um den Arbeitsplatz – von so vielen Menschen.“ [Pause] […] Grad so ältere Leute, so ältere Damen, die haben sich natürlich sehr eingesetzt für den Süßmuth. Das kann ich persönlich auch sagen. Also die haben da nur geschimpft gegen die Arbeiter.
Freundin: Na vor allen Dingen schon dagegen, dass was Neues geschaffen wurde. Das ist ja das gewesen, ne. Ich glaube, dass findet man überall.
Frühere Kollegin: „Ihr könnt doch zufrieden sein und jeder hat doch sein Brot verdient“ hat es geheißen da und „jetzt ist keiner mehr zufrieden“. Da fingen sie erst mal so an. Und wie sie dann gehört haben, dass praktisch alles so pleite geht, da haben sie auch wieder ein bissl anders geredet, ne. [Pause]
Erasmus Schöfer: Und wodurch haben sie das erfahren? Durch die Zeitung oder...?
Frühere Kollegin: Naja, es wird ja viel gesprochen. Eben grade so, wenn wir sagen, beim Fleischer und so. Wie die haben gefragt, ne. Das hat sich halt herumgesprochen. In der Zeitung war es ja praktisch weniger, also, ich glaube nicht....
Arbeitskollege: Ja, in der ersten Zeit, nicht. [Da gab es noch keine Berichterstattung, CM]
[…]
Erasmus Schöfer: Naja, und wie das dann passiert war – die Übergabe. Kann man davon noch was erzählen? Hat sich das Klima so verändert, auch zu Hause? Haben Sie [gerichtet an die Freundin] das dann zum Beispiel bei Ihrem Mann gemerkt? War er dann wieder lustiger?
Freundin: Was heißt lustiger! Dann kam die Arbeit erst mal. Die vielen Überstunden, die sie gemacht haben, um da wirklich was zu unternehmen, damit der Betrieb erneuert wird. Die ganzen Öfen, die neue Öfen, die sie gesetzt haben. Die alten Öfen abgerissen. Das haben sie alles nach der Arbeit getan. Das war natürlich weniger schön, wenn sie jeden Arbeit bis spät in die Nacht rein weg waren.
[…]
Erasmus Schöfer: Na ich könnte mir vorstellen, dass es halt auch richtige Schwierigkeiten zu Hause gegeben hat, so - Wenn man also den Mann so wenig zu Hause gesehen hat und so. Da wird man ja auch dann mal ungeduldig und ...
Frühere Kollegin: Na wir haben ja Verständnis gehabt! Wir dachten ja auch, dass muss jetzt sein, wegen zum Vorankommen. Sie haben das übernommen und sie sind auch [unverständlich], dass muss alles – wie soll man sagen...
Kühlbandabnehmerin: ...[dass es] bergauf geht!
Erasmus Schöfer: Naja, der [eine Glasmacher] hat erzählt, dass er dann oft bis Nachts, wer weiß wie lang [aufgrund der Kreditverhandlungen, CM] in [beim Wirtschaftsministerium, CM] Wiesbaden war. Morgens dann gleich wieder um sechs dann an die Arbeit. Dann kaum zum Schlafen gekommen. Oder die Frau [des anderen Glasmachers] hat da auch mal angedeutete, dass, also wirklich, wenn sie nicht so viel Geduld gehabt hätte, dann wäre ihre Ehe daran gescheitert.
Sprengerin: Ja, das glaub ich auch! Mein Mann war meistens mit [Name des Kollegen] weg.
Frühere Kollegin: Hm, die haben sich schwer eingesetzt für die Kollegen. Das stimmt.
Sprengerin: Manchmal spät in der Nacht nach Hause gekommen. [Pause]
[…]
Erasmus Schöfer: Ja und so in der jüngsten Vergangenheit – ist nun jetzt vieles anders als früher oder...?
Frühere Kollegin: Ja, es war früher auch sehr schön. [...]
[…]
III Wie stand‘s mit der Emanzipation?
Kühlbandabnehmerin: ...kommt oft vor [,dass Arbeiterinnen Kritik an den Glasmachern üben, CM.] Das kriegen sie schon mal! [Lachen]
Sprengerin: Ja, oft! Bei uns wird zu Hause auch gearbeitet! [Lachen]
Arbeitskollege: Ja, ist auch nicht schlimm.
Kühlbandabnehmerin: Die [Glasmacher] lachen dann und sagen „Mach du‘s besser!“, aber...
Sprengerin: Ja, das muss auch! Wenn ich weiß, dass er es besser machen kann, dann soll er es auch das nächsten Mal besser machen. Ich muss meine Arbeit auch ordentlich machen!
Frühere Kollegin: Bei Arbeitsfehlern – wenn ich sage, da sind ganz viele Fehler – da geht er gleich auf 180!
Kühlbandabnehmerin [lachend]: Da gehen sie [die Glasmacher] auf 180, ja!
Sprengerin: Da sagt er [mein Mann] zu mir schon immer: „Bei mir schimpfst du immer, aber bei den anderen?“ Sag ich: „Ja, nu – bei den anderen geh ich auch hin, wenn irgendwas nicht richtig ist!“
Frühere Kollegin: Ja, ist ja deine Pflicht. Du musst ja hingehen, ne. Und du sollst ja sogar auch! Das weiß ich auch schon, wenn es viele Arbeitsfehler gibt, musste gleich hin...
Sprengerin: Ja, denn sonst ist nächstes Mal wieder der selbe Fehler!
Frühere Kollegin: Ja, sie müssen ja auch die Fehler herausfinden, nicht, wo es dran liegt und so.
Erasmus Schöfer: So, aber sonst ist es mit der Emanzipation noch nicht so weit, auf dem Dorf, scheinbar!
Freundin atmet tief ein, lacht.
Kühlbandabnehmerin: Aber, Herr Schöfer, wir haben doch kein Dorf! [Lachen]
Frühere Kollegin: Stadt Immenhausen!
Erasmus Schöfer: Ja, aber es wirkt schon recht ländlich.
Frühere Kollegin: Früher vielleicht mal. Ist schon ein Städtchen geworden!
Kühlbandabnehmerin: Ja schon, aber da hätten sie früher mal hier sein - [19]51 oder 52, wie wir hier sind her gekommen. Ah Gott! Da war es ein Dorf!
Frühere Kollegin: Armseliges Dorf!
Kühlbandabnehmerin: Ganz armselig.
Sprengerin: Aber in Immenhausen kann man sich wohlfühlen, also ist wirklich wahr!
[…]
[1] Interview mit Arbeiterinnen der Glashütte Süßmuth, 2. September 1973; Ort des Interviews: Immenhausen; Interviewer: Erasmus Schöfer; Dauer des Interviews: ca. 80 Minuten; Format: 4 Tonbandspulen in: Archiv des Fritz-Hüser-Instituts Dortmund, Schöf-1230; Transkript: Christiane Mende (im Besitz der Autorin). Für die Einwilligung zur Veröffentlichung danke ich Erasmus Schöfer und dem Fritz-Hüser-Institut.
[2] Mit dem Protestzug führten die Beschäftigten in einem Sarg symbolträchtig ihre Hoffnungen „zu Grabe“, weil Richard Süßmuth ihnen nicht den Betrieb übergeben wollte. Zum damaligen Zeitpunkt war die Belegschaftsübernahme als einzige Option übrig geblieben, das Unternehmen vor dem Konkurs zu retten.
[3] Während dieser Zeit befand sich diese Arbeiterin in Elternzeit und nahm erst ein Jahr nach der Übernahme wieder ihre Arbeit im Betrieb auf.
Zugehöriger Essay: Arbeiterinnenselbstverwaltung? Normalität und Aufbruch im Arbeitsalltag der Belegschaftseigenen Glashütte Süßmuth