Andrij Šestakov: Das ukrainische Salz des Slawentums. Der 24. Mai – Tag der apostelgleichen heiligen Kyrill und Method (24. Mai 2005).

Dieser Tag wird in vielen Ländern des östlichen und südlichen Europa als Feiertag der christlichen Aufklärung mit dem Gedenken der Brüder Kyrill und Method begangen. Diese wurden zu ersten „Trägern“ des slavischen Alphabets und damit auch der slavischen Schriftlichkeit und Hochkultur. Die von ihnen bereitete literatursprachliche Grammatik wurde zum Symbol der Verbindung der Slaven mit Bibliotheken, mit Wissenschaft, mit dem Festhalten historischer Ereignisse in Chroniken. [...]

Andrij Šestakov: Das ukrainische Salz des Slawentums. Der 24. Mai – Tag der apostelgleichen heiligen Kyrill und Method (24. Mai 2005)[1]

Das ukrainische Salz des Slaventums

Dieser Tag wird in vielen Ländern des östlichen und südlichen Europa als Feiertag der christlichen Aufklärung mit dem Gedenken der Brüder Kyrill und Method begangen. Diese wurden zu ersten „Trägern“ des slavischen Alphabets und damit auch der slavischen Schriftlichkeit und Hochkultur. Die von ihnen bereitete literatursprachliche Grammatik wurde zum Symbol der Verbindung der Slaven mit Bibliotheken, mit Wissenschaft, mit dem Festhalten historischer Ereignisse in Chroniken.

Die durch die heiligen Brüder eingeführte kirchenslavische Sprache, die grammatische Prinzipien der Schriftlichkeit festlegte, wurde zum Grundstein der Entstehung unserer eigenen Sprache und gleichzeitig zahlreicher Sprachen der slavischen Welt. Der Feiertag Kyrills und Methods ist ein ewiges Zeichen der Verwandtschaft und Einheit aller slavischen Völker. Für uns ist dieser Tag ein wunderbarer Anlass, die Bedeutung gerade unserer ukrainischen christlichen Tradition im Rahmen der slavischen Welt in Erinnerung zu rufen.


Die Brüder Kyrill und Method


Das ununterbrochene Erbe der Idee des „Sammelns“ und der Erforschung der allgemeinslavischen Kulturschätze ist eine der größten Errungenschaften auf dem historischen Weg des Ukrainertums. Während des „Völkerfrühlings“ (der Welle der national-demokratischen und Befreiungsbewegungen), dessen Höhepunkt ins Jahr 1848 fällt, erfasste Europa eine ungesehene Euphorie der nationalen Selbstbehauptung, die zur Bestrebung zum radikalen Umbau aller sozialen und politischen Realitäten auswuchs. Damals wurden die Namen Kyrills und Methods zum „heiligen Banner“, unter dem Söhne mehrerer slavischer Völker zu geistigen Großtaten aufbrachen.

Man kann sagen, dass die Ukrainer zu Verkündern des „slavischen Frühlings“ wurden. Denn schon vom Ende des Jahres 1845 bis zum März des Jahres 1847 agierte eine Geheimorganisation mit dem Ziel, politische, soziale und nationale Freiheit für die Slaven zu erreichen. Zu Ehren der Brüder und Aufklärer wurde sie Kyrillomethodische Gesellschaft (Bruderschaft) genannt. Vasyl’ Bilozers’kyj, Mykola Hulak und Mychajlo Kostomarov waren die Gründer der Bruderschaft. Zu ihnen traten noch neun weitere Mitglieder, unter ihnen Pantelejmon Kuliš und Taras Ševčenko, der davon träumte, „dass alle Slaven gute Brüder werden“. Insgesamt beinahe 100 Personen unterstützten die Gesellschaft. An erster Stelle nahm sie sich der Volksbildung an – sie bereiteten populäre Bücher vor, planten die Einführung eines weiten Netzes von Primarschulen und schrieben Aufrufe zum Befreiungskampf.

Das Programm der Gesellschaft, wie es in den „Bücher des Seins des ukrainischen Volkes“ dargelegt wurde, beruhte auf den Ideen der ukrainischen nationalen Wiedergeburt und des Panslavismus und ging weit über die Grenzen der ukrainischen Problematik hinaus. Unter dem Einfluss westeuropäischer Philosophen und der polnischen Romantik entwarfen die Kyrillomethodianer ihre eigene Variante des „Volksmessianismus“: Die Hauptperson ihrer großangelegten Pläne sollte das erniedrigte, seiner Freiheit beraubte, aber unbezwungene ukrainische Volk werden. Die Bruderschaftsmitglieder wollten für die Ukraine die Unabhängigkeit und für die ganze slavische Welt die Zerstörung der Leibeigenschaft und des Zartums erreichen. Und gerade ihrem eigenen ukrainischen Volk auferlegten sie die Mission, die Russen von der zarischen Despotie zu befreien – und die Polen von der aristokratischen Despotie. Sie waren der Meinung, dass das Ukrainertum alle befreiten Völker in einer Föderation demokratischer Republiken mit dem heiligen Kiew als Hauptstadt vereinen sollte: „Alle slavischen Völker sollen das Recht haben, ihre Kultur frei zu entfalten und, was am Wichtigsten ist, sie sind verpflichtet eine slavische Föderation mit demokratischen Institutionen zu erschaffen, wie es sie in den Vereinigten Staaten gibt.“


„Die Bücher des Seins der Ukrainer“


Die Bruderschaft war eine religiöse. Ihre Organisationsform war derjenigen der ukrainischen kirchlichen Bruderschaften entlehnt. In den programmatischen Dokumenten der Kyrillomethodianer („Die Bücher des Seins der Ukrainer“ und „Das Statut der Slavischen Bruderschaft der hll. Kyrill und Method“) herrschen soziale Ideale des Frühchristentums, die Idee des Еintretens für Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit und Brüderschaft. In den „Büchern des Seins…“ wird die Auferstehung der Ukraine (die mit dem biblischen „Grundstein“ assoziiert wird) ähnlich wie die Auferstehung Christi beschrieben. Auch hier wird das Modell des gesellschaftlichen Umbaus angeführt. Die Mitglieder der Bruderschaft sahen die Wege der Verwirklichung der gesellschaftlichen Umgestaltungen leicht unterschiedlich. Pantelejmon Kuliš schrieb nationalen Ideen eine prioritäre Rolle zu, der Volkstümler Taras Ševenko trat für die Bedeutung sozialer Fragen ein, während Mykola Kostomarov, der künftige herausragende Historiker und außerordentlicher Professor der Petersburger Universität, sich hauptsächlich für allgemeinmenschliche und christliche Werte einsetzte.

Die Gründung dieser Bruderschaft war einer der ersten Versuche der nationalen Elite, den Ort und die Rolle des ukrainischen Volkes im globalen historischen Kontext zu bedenken und festzulegen. Offensichtlich wurde die Bruderschaft zu einer Brücke von der kulturellen zur politischen Etappe der nationalen Entwicklung der Ukraine.

Die Kyrillomethodianer projizierten fortschrittliche westeuropäische Ideen auf den ukrainischen Zusammenhang, sie formulierten die wesentlichen Forderungen nach nationaler Befreiung und Wiedergeburt und bestimmten die Methoden, um diese Ziele zu erreichen.

Indessen wurde die kyrillomethodianische Gesellschaft im Frühling 1847 aufgedeckt und durch den imperialen Unterdrückungsapparat zerschlagen. Die geringen Mitgliederzahlen des Vereins, der überwiegend kulturelle und propagandistische („liberal-volkstümliche“) Charakter der Tätigkeit der Bruderschaft gaben den offiziellen Behörden zu Beginn des Prozesses die Illusion, die Gesellschaft sei bloß ein „Intellektuellenklub“ und stelle keine ernsthafte Bedrohung der Selbstherrschaft dar (nach dem Motto „die Studentlein sind unartig...“). Allerdings veränderte die vertiefte Auseinandersetzung mit den Werken von Taras Ševenko und den Dokumenten der Bruderschaft das Denken der Behörden grundsätzlich, sodass sie schließlich in ihnen eine deutliche antimonarchistische Ausrichtung erkannten, eine Grundlegung des Rechts des ukrainischen Volks auf eigene Staatlichkeit und Demokratie. In der Folge wurden alle Mitglieder ohne Urteil verbannt. Ševenko sollte vollständig und für eine lange Dauer isoliert werden – er wurde für zehn Jahre als Rekrut nach Orenburg verschickt.


Das Blut des geistigen Lebens


Der aus der Umgebung von Poltava stammende Literaturwissenschaftler, Sprachwissenschaftler und Philosoph Oleksandr Potebnja (1835–1891) war einer der herausragenden Fortführer der Sache der Kyrillomethodianer („der liberal-volkstümlichen Aufklärung“). Er war der erste bedeutende sprachwissenschaftliche Theoretiker im Russländischen Reich und korrespondierendes Mitglied der Petersburger Akademie der Wissenschaften. Unter anderem übertrug er Homers „Odyssee“ originell ins Ukrainische. Er betrachtete die Sprache als „lebenspendendes Blut“, als wichtigsten Bestandteil des geistigen Lebens des Volks. Seine Erforschung der Brauchtumspoesie, der Mythen, der Lieder der slavischen Völker, seine Folgerungen aus dem Vergleich von Aberglauben und Brauchtum der Ukrainer, Serben, Russen und anderer Slaven sind noch heute für moderne Kulturhistoriker grundlegend. Die fundamentalen Arbeiten Potebnjas „Gedanke und Sprache, „Mythos und Symbol“, „Aufzeichnungen der Theorie der Sprachkunde“ widmen sich der Herkunft der Volkssprache, den Wechselwirkungen zwischen Sprache und Denken, der Sprache und der Nation. Viele Ideen des Gelehrten haben seine Zeit überwunden und überdauern bis in unsere Tage.

Während der Zeit unseres „Ägyptens“ im Russländischen Reich, als das Neue Testament schon in vielen Sprachen der „Andersstämmigen (inorodciv)“ gedruckt worden war, war die ukrainische Sprache noch nicht einmal zur kirchlichen Predigt zugelassen. Und die Übersetzung des Neuen Testaments, die Pylyp Moraevs’kyj 1861 erstellt hatte, wurde auf Befehl des Ministers Valujev zurückgehalten. Die von Pantelejmon Kuliš begonnene und von Ivan Puljuj abgeschlossene Übersetzung der Heiligen Schrift wurde schließlich in Berlin gedruckt und heimlich in die Ukraine gebracht, als „Schmuggelware“ – im Korb mit Süßgebäck, als Lieferung an Hanna Barvinok, die Witwe von Kuliš.

Als Ergebnis der „brüderlichen Obhut“ über das Ukrainertum und seine Sprache gab es in der Ukraine am Ende des 19. Jahrhunderts weniger Alphabetisierte als gemäß dem allgemeinen Prozentsatz des Russländischen Reiches, der zwanzig Prozent unter den Erwachsenen betrug. Dabei hatte die Schriftlichkeit (wenigstens unter den Männern) schon unter dem Hetmanat beinahe hundert Prozent erreicht. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, mit der Vereinigung der Intellektuellen aus dem mehr oder weniger freien Galizien mit ihren Kollegen vom Dnjepr, begann die eigentliche Wiedergeburt und die schrittweise Entwicklung eines ukrainischen kulturellen Bewusstseins. Nach langem Unterbruch erschienen die ersten wichtigen wissenschaftlichen Forschungen zur slavischen Ethnokultur in ukrainischer Sprache. Im Februar 1905 stellte die Kommission der Imperialen Akademie der zarischen Regierung die Abhandlung „Über die Abschaffung der Beschränkung des kleinrussischen gedruckten Wortes“ vor, die von den bekannten Akademikern Fedor Korš und Oleksij Šachmatov verfasst worden war. Diese betrachteten die Eigenständigkeit der ukrainischen Sprache als Tatsache. Diese Zeiten der Rückkehr zu sich selbst bedeuteten eine ungesehene Blüte der geistigen Tätigkeit der Ukrainer in allen Lebensbereichen, wie Meisterwerke in der Literatur, in der darstellenden Kunst, in der Musik, und bedeutende wissenschaftliche Errungenschaften aufzeigten. Diese kurzfristige Blüte wurde mit der stalinschen, dann der brežnevschen Politik der „Bulldozer“-Assimiliation und mit der einschmeichelnden Kollaboration der „Aborigenes“-Akteure zunichte gemacht.

Das ukrainische Volk fühlte sich veranlasst, sich als „uneheliches Kind“ mit einem Komplex eines vernachlässigten Waisenkinds zu fühlen. Es schien sich kaum zu lohnen, über irgendeine „Freiheit“, über Selbstverantwortung, über einen Beitrag zum allgemeinslavischen kulturellen Raum zu sprechen. Die Zeit erfordert es, die Selbstverachtung zu überwinden, wie auch einen Ausweg aus der Wiederholung der Situation zu finden, über die sich Ševčenko in seinem Schreiben „An die Toten, die Lebenden, und die noch nicht Geborenen …“ lustig gemacht hat:

Der Deutsche sagt: „Ihr seid Slawen“.

„Slawen! Gerühmte (slav“jane)“.

Wie unzureichend sind die Nachfahren

wahrhaft ruhmreicher (slavnych) Vorväter!

Jules [sic] Renan, der herausragende französische Philosoph, sagte: „Die Nation ist ein tägliches Plebiszit“. Eine zutreffende Aussage, insbesondere für uns. Denn die ukrainische Gesellschaft muss täglich Stellung beziehen gegenüber einer Vielzahl prinzipieller, „schicksalsschwerer“ Fragen und sich in jeder gesellschaftlich bedeutenden Situation von den „Zwangsjacken“ befreien, die uns „Wächter“ historischer Mythen anziehen. So gibt der heutige Tag wunderbaren Anlass, einen aufmerksamen Blick auf sich selbst und den eigenen Ort in der Welt zu werfen.


[1] Šestakov, Andrij, Ukrajins’ka sil’ slov”janstva. 24 travnja – Den’ rivnoapostol’nych svjatych Kyryla i Mefodija [Das ukrainische Salz des Slawentums. Der 24. Mai – Tag der apostelgleichen heiligen Kyrill und Method], in: Ukrajina moloda [Junge Ukraine] 93 (24.05.2005), URL: (14.02.2017). Übersetzung durch Stefan Rohdewald.


Zugehöriger Essay: Kyrill und Method: Religiöse Erinnerungsfiguren im östlichen Europa zwischen (Trans)Nationalität und Religion

Kyrill und Method: Religiöse Erinnerungsfiguren im östlichen Europa zwischen (Trans)Nationalität und Religion[1]

Von Stefan Rohdewald

Einleitung

Das Verhältnis von Religion und Entwürfen kollektiver Identität und Modernität ist in den vergangenen Jahren von der Forschung zunehmend intensiver untersucht worden.[2] Als zentral erwiesen sich dabei nicht nur Fragen nach dem Wandel von im Mittelalter und in der Frühneuzeit hergestellten Verehrungskontexten während der Entstehung nationaler Rückblicke und die Gegenwart konstituierender Erwartungshorizonte im 19. Jahrhundert. Religiöse lieux de mémoire sind nicht nur an sich von Interesse oder bei der Einordnung lokaler Aspekte nationaler Diskurse: Von Bedeutung ist vielmehr die Rolle, die ihnen bei der Ausgestaltung zentraler Bereiche nationaler Identitätsdiskurse zukam. Als Kristallisationspunkte nationaler Narrative dienten im 19. Jahrhundert nicht nur weltliche Helden und Mythen, sondern auch und nicht selten an vorderster Front religiöse Erzählfiguren. Wurden diese im 19. Jahrhundert zumeist in überwiegend säkulare nationale Entwürfe eingeschrieben sowie in der Folge selbst säkularisiert, verwendete man sie im 20. Jahrhundert vermehrt zur Sakralisierung nationaler Kontexte. Spätestens in diesen Zusammenhängen kam ihnen in der Regel eine Hauptrolle zu.

Nationale Imagination im europäischen Kontext: „Das ukrainische Salz des Slawentums“

Die Verehrung Kyrills und Methods kann den Verlauf der Entwicklung von Identitätsentwürfen für imaginierte nationale Gemeinschaften mithilfe religiöser Mittel nicht nur exemplifizieren, sondern sie spielte in diesem Vorgang in vielen Fällen selbst eine führende Rolle: Der Verweis auf Kyrill und Method diente auch im ukrainischen Zusammenhang seit dem 19. Jahrhundert ganz im Kontext der gesamteuropäischen Entwicklung zur Legimitation identitätspolitischer Positionen lange Zeit nur weniger selbsternannter engagierter Wortführer. Die in der vorliegenden Quelle für das 19. Jahrhundert beschriebene nationalukrainische Orientierung ist als für nationale Verehrungstexte Kyrills und Methods gerade charakteristische Imagination nationaler historischer Teleologie bzw. eines „historischen Weg(es) des Ukrainertums“ zu betrachten:[3] Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren neue ukrainische kollektive Identitätsentwürfe innerhalb des Russländischen Reiches zunächst auf einen Verbleib in dessen imperialen Zusammenhang ausgerichtet: So befürworteten die in der Quelle zitierten „Bücher des Seins der Ukrainer“ einen slawischen Staatenbund nach US-amerikanischem Vorbild. Mithilfe der ausgewählten Quelle können Aspekte unterschiedlicher Ablösungen mehrerer ukrainischer Identitätserzählungen von russländischen Entwürfen im überregionalen Verflechtungskontext beleuchtet werden.

Apostel der Slawen – oder ganz Europas: Kyrill und Method

Der zu Beginn der Quelle entworfene Hintergrund rückt die Ukraine ins Zentrum einer „slawischen Welt“ im „östlichen und südlichen“ europäischen Rahmen, ohne diesen Zusammenhang genauer zu erläutern. Dies sei hier nachgeholt: Die Brüder Konstantin (mit dem Mönchsnamen Kyrill, ca. 826/827–869) und Method (ca. 815–885) wurden in Saloniki als Kinder eines hochgestellten byzantinischen Würdenträgers geboren.[4] Sie verbreiteten im 9. Jahrhundert geistliche Texte in slawischer Sprache auf dem Gebiet des sogenannten Großmährischen Reichs; ihre Schüler im bulgarischen Reich. Die kurze Zeit nach ihrem Tod als Heilige und „Slawenapostel“ verehrten Brüder wurden in byzantinischen Texten zwar in einen bulgarischen Kontext eingeschrieben, sie blieben aber im übernationalen Gedenken der orthodoxen Christen in ganz Südost- und Osteuropa weiträumig verehrt. Gleiches gilt aber auch und gerade für Katholiken im mährisch-tschechischen Umfeld: Im 17. und 18. Jahrhundert wurden in Böhmen und Mähren sowie in Wien und auch von Slowaken Schriften und Predigten zur Verehrung Kyrills und Methods verfasst, die neuen Stolz über die Verbreitung der slawischen Liturgiesprache bekräftigten. Das erst Ende des 13. Jahrhunderts gegründete Kloster im mährischen Velehrad erwies sich in der Frühen Neuzeit bald europaweit als Ort der intensivsten Verehrung Kyrills und Methods. Auch in Drucken der im 18. Jahrhundert gegründeten orthodoxen Akademie im osmanischen Voskopoja/Moschopolis südlich des Ohridsees wurde das Gedenken vergleichsweise nur schwach erneuert. Nach 1800 wurde das Gedenken an die Brüder zu Kristallisationspunkten der Ausgestaltung moderner nationaler Identitäten von katholischen mährisch, böhmisch, später tschechisch, slowakisch und slowenisch sowie südslawisch oder kroatisch orientierten Geistlichen, Gelehrten und schmalen bildungsbürgerlichen Eliten, aber auch von orthodoxen bulgarischen und serbischen Wortführern. Die Erinnerung an sie wurde weniger wiederbelebt als vielmehr grundlegend neu erfunden. Bis in die Gegenwart lassen sich in den unterschiedlichen nationalen Kontexten mehrere Phasen der Nationalisierung und Säkularisierung ihres Gedenkens unterscheiden. Im katholischen Rahmen wurden sie seit dem 19. Jahrhundert als „Apostel Europas“ verehrt, während sie in (panslawisch-)russischen Zusammenhängen zur Abgrenzung gegen „den Westen“ dienten.

„Man kann sagen, dass die Ukrainer zu Verkündern des ‘slawischen Frühlings’ wurden“

Der hier auch mit dem „Völkerfrühling“ angesprochene Kontext ist dem deutschsprachigen Leser zumeist als mitteleuropäischer Zusammenhang des Scheiterns liberaler und demokratischer nationaler Bestrebungen bekannt. Von Bedeutung ist insbesondere der „Vormärz“ und die Entwicklung der Jahrzehnte vor 1848: Tatsächlich nahm der Verweis auf Kyrill und Method dabei gerade im böhmischen und mährischen Zusammenhang der Festigung wissenschaftlich legitimierter nationaler slawischer Diskurse eine zentrale Funktion ein. Nur Josef Dobrovský, einer der Begründer der Slavistik als wissenschaftlicher Disziplin, bestritt in seinem Werk Cyril und Method, der Slawen Apostel, die seit dem Spätmittelalter in Velehrad gefestigte Annahme, Kyrill und Method seien in die heute als Mähren bezeichnete Gegend gelangt. Auch die von August Ludwig von Schlözer 1805 eingebrachte sogenannte russische Legende lehnte er ab. In Widerspruch gegen Dobrovský festigte sich darauf in deutscher wie in tschechischer Sprache dennoch eine neue nationale böhmische Erinnerungskultur.

1846 wurde im russländischen Kiew insgeheim die „Slawische Gesellschaft heilige Kyrill und Method“ eingerichtet – und bereits im folgenden Jahr aufgehoben. Die „illegale“ politische Organisation, der auch der ukrainische Nationaldichter Taras Ševčenko, der führende Historiker Mykola Kostomarov sowie der Schriftsteller Pantelejmon Kuliš angehörten, setzte sich zum Ziel, alle Slawen zu vereinen und zu befreien. Tatsächlich war diese Laienbruderschaft die erste im Sinne eines bürgerlichen Vereins gegründete Assoziation zu Ehren der Brüder.

Das in der Quelle als Programm der Bruderschaft erwähnte „Bücher des Seins der Ukrainer“ erweist sich als eine weitgehend analoge Übersetzung, aber durch die Translation in den ukrainischen Kontext dennoch kreativen des für den polnischen Zusammenhang bedeutenden Schlüsseltextes des ‘nationalen Propheten’ Adam Mickiewicz (Księgi narodu i pielgrzymstwa polskiego, Paris 1832).[5] Die sodann beschriebene Tätigkeit von Gelehrten für die Erforschung des Volkstums ist mit Miroslav Hroch typisch für die erste Phase der Nationalbewegungen unter staatenlosen bzw. sogenannt „kleinen“ Völkern, jedoch ist diese Entwicklung in den meisten Fällen und auch im ukrainischen weitaus stärker in weniger zielgerichtet verlaufend zu interpretierende, komplexere Zusammenhänge einzubetten. Das Kiewer Beispiel des liberal-romantisch-nationalen Aufgreifens des Gedenkens der Brüder machte rasch Schule: Während der Revolution von 1848 spannten sowohl katholische wie auch lutherische Wortführer um Ľudovít Štúr im ungarländischen Kontext die Brüder für nationale slowakische Interessen ein. Nach 1848 wurde in Brünn die Vereinigung oder „Heredität der heiligen Kyrill und Method“ (Dědictví sv. Cyrilla a Methoděje) eingerichtet, die sich ganz der katholischen Kirche und der mährischen beziehungsweise tschechischen Nation verschrieb. Beeinflusst durch diese, aber auch die russische nationalromantische, oder übergreifend slawophile Wiederbelebung der „Slawenapostel“, war es zur Mitte des 19. Jahrhunderts der Bischof von Ljubljana Anton M. Slomšek, der im Zusammenhang mit dem entstehenden nationalen slowenischen Diskurs das Gedenken der Brüder unter den Slowenen als Apostel und Lehrer der Slawen schon 1846 verbreitete.

Massenhafte und gelehrte Mobilisierungen mittels Kyrills und Methods nach 1848

Nach der Niederschlagung der Bewegungen von 1848 – in Österreich bzw. Ungarn gerade mit russischer Hilfe – verstärkten sich kompensatorische Erscheinungen im Rahmen der unverdächtigen konfessionellen Verehrung Kyrills und Methods: Ab 1858 begannen die so genannten Massenwallfahrten in das mährische Velehrad. Gleichzeitig argumentierten Slowaken angesichts der Magyarisierungspolitik in Ungarn ebenfalls mithilfe der Brüder auch sprachpolitisch: Im Memorandum národa slovenského (Memorandum des slowakischen Volkes) forderten Vertreter der slowakischen Nationalbewegung 1861 politische, kirchliche und kulturelle Autonomie mit Verweis auf die Nationalpatrone Kyrill und Method. 1862 gründeten analog katholische Sorben im sächsischen Bautzen den „Cyrill-Methodius-Verein“. Auch die 1863 Jahr gegründete „Matica slovenská“, die rasch zur wichtigsten kulturellen und nationalen slowakischen Einrichtung werden sollte, nahm die Brüder in ihr Zeichen auf. Die Gedenkjahre 1863, 1869 und 1885, also das Jahr der Ankunft der Brüder in Mähren und das jeweilige Todesjahr von Kyrill und Method, führten zu zahlreichen, konkurrierenden Jubiläumsfeierlichkeiten an mehreren Orten.

Anton Cyril Stojan, nach 1921 Erzbischof von Olmütz, organisierte die Jubiläumsfeierlichkeiten im Jahr 1885. Er verweigerte damals russisch dominierten slawophilen Strömungen, diese in einen interkonfessionellen, allslawischen Kongress zu verwandeln. Stattdessen setzte er sich als ein Förderer der sogenannten kyrillomethodianischen Idee, also eines Katholizismus tschechischer oder allgemein slawischer Prägung im Rahmen des Austroslawismus, für die Verehrung der beiden Heiligen in Velehrad ein. Auch Polen, Slowenen, Kroaten, Slowaken und Sorben, die sich an den Feiern in Velehrad beteiligten, suchten auf diesem Wege nationalstaatliche Pläne voranzubringen. Aus russischer Perspektive sollte Velehrad zum Zentrum der panslawischen Einigung unter dem orthodoxen Zaren werden – ein Ziel, das die „Jungtschechen“ unterstützten.

Die Brüder wurden aber auch nach 1848 erneut als Kristallisationspunkt zur Konkretisierung neuer südslawischer nationaler Identitätsentwürfe aufgegriffen: Im Juni 1851 gründete Slomšek in Ljubljana unter Geistlichen die „Kyrill-und-Method-Bruderschaft“, um die Union der orthodoxen Slawen mit den katholischen zu fördern. Der katholische kroatische Bischof von Đakovac, Josip Juraj Strossmayer, propagierte die südslawische Sache im Rahmen des sogenannten Austroslawismus beziehungsweise des Illyrismus. Er forderte 1860, neben Kroaten und Serben auch die Slowenen und die Bulgaren in die Planung einer südslawischen Akademie einzubeziehen, denn bei ihnen sei die Lehre Kyrills und Methods nicht untergegangen. Serbisch orientierte Gelehrte verbanden die Erinnerung an das christliche Missionsziel der Brüder gleichfalls mit dem modernen Entwurf des slawischen Nationalismus, jedoch orthodoxen Kontext. 1880 verglich Papst Leo XIII. Kyrill und Method in ihrer Funktion als „Apostel der Slawen“ mit den Rollen von Augustinus für die Briten, Patrick für die Iren, Bonifatius für die Deutschen und Willebrord für die Flamen, Niederländer und Belgier. Er verankerte die Verehrung der Brüder in der gesamten katholischen Kirche, indem er ihre Feiertage in den römischen Generalkalender aufnahm.

Auch in Russland wurden die Jubiläen der Jahre 1863, 1869 und 1885 von meist panslawisch ausgerichteten Gelehrten in immer aufwendiger organisierten Feiern und Prozessionen begangen. Insgesamt wurden bis zu 350.000 gedruckte Viten der Brüder unter der Bevölkerung verteilt, um den Kreis der Verehrung auszuweiten.

Im entstehenden nationalen bulgarischen Diskurs veränderte sich die bis ins 19. Jahrhundert weitgehend in Vergessenheit geratene, kirchlich geprägte Erinnerung an Kyrill und Method um 1850 gleichfalls nachhaltig. Mit den Anfängen einer nach deutschem und italienischem Vorbild imaginierten „Wiedergeburt“ der bulgarischen Nation machten einige Lehrer der neuen Volksschulen und ihre Mäzene die Brüder zu Schutzheiligen bulgarischer Schulen. Der im Sinne des Historismus für das Mittelalter beobachtete Beitrag der Brüder zur „Nationalgeschichte“ wurde zum Spiegel- und Vorbild des zeitgenössischen säkularen „Erwachens“. Die Brüder wurden 1885 in bulgarischen Ansprachen zwar auch als „Slawische Apostel“ transnational, oder mit Bezug auf die „slawische Nation“ verehrt, aber der bulgarisch-nationale Zusammenhang stand bereits stark im Vordergrund. Die Feiern um Kyrill und Method 1885 sollten die ersten sein, die über regionale Identitäten und Erinnerungspraktiken hinaus mit Nachdruck eine einheitliche Nation inszenierten, und dabei von einer breiteren sozialen und institutionellen Trägerschaft getragen wurden: Nur sechs Jahre später wurde 1891 in Sofia eine „Gesellschaft ‘heilige Kyrill und Method’“ ins Leben gerufen, die unter dem Schutz des bulgarischen Fürsten „die Nationalität, den Glauben und die Aufklärung unter allen Bulgaren begünstigen [sollte], die außerhalb der Grenzen des Fürstentums leben“. Die Gesellschaft ist mithin als Antwort auf eine parallele Entwicklung in Belgrad zu verstehen: 1886 hatten Wortführer der serbisch orientierten Elite dort die „Heilig-Sava-Gesellschaft“ gegründet, um serbisches Nationalbewusstsein in und außerhalb des kurz zuvor vom Osmanischen Reich unabhängig gewordenen serbischen Staates zu fördern. Zwischen bulgarischen wie serbischen Wortführern der sich nach und nach diametral widersprechenden nationalen Diskurse begann sich im ausgehenden 19. Jahrhundert im Rahmen der Deutung Kyrills und Methods eine zunehmend polemische Auseinandersetzung zu entfalten, die in den Balkankriegen um Makedonien und im Ersten Weltkrieg eskalierte.

Kyrill und Method im 20. Jahrhundert: Erbauer des Sozialismus und Kopatrone Europas

In der Zwischenkriegszeit wurden die beiden Brüder zu Beginn der 1930er-Jahre zum Medium einer teilweise religiös gedeuteten jugoslawischen Identität, wobei diese mitunter auch das bulgarische Volk als Teil einer imaginierten „Rasse“ einschließen sollte.

In Bulgarien wurden die Brüder nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg von Kirche und Staat als ein wichtiger Faktor einer geistigen Konsolidierung des Volkes dargestellt. Ganz im Kontext mit der politischen Entwicklung in Bulgarien und großen Teilen Europas veränderte sich in den Jahren des Autoritarismus unter Boris III. auch die Erinnerung an die Brüder. Kyrill und Method wurden zu Beginn der 1940er-Jahre zum Kristallisationspunkt eines entstehenden messianistischen bulgarischen Nationalismus, ja zu „Erlösern“ der Nation der Bulgaren stilisiert. Im Frühjahr 1941 besetzte die bulgarische Armee Vardar-Makedonien mit deutscher Hilfe. Das Handeln der Brüder wurde in diesem Kontext des Zweiten Weltkriegs zur „Waffe“ in einem „Kampf“ des bulgarischen Volkes um seine „Existenz“ umgedeutet und die Brüder selbst zu „Führern“ ernannt.

Seit dem Zweiten Weltkrieg spielt die Referenz auf Kyrill und Method in der jugoslawischen Teilrepublik Makedonien im Prozess der Festigung eines makedonischen Nationalbewusstseins eine wesentliche Rolle. Die Konsolidierung des makedonischen Staates, der Vorstellung der Nation, der Sprache und einer eigenen kirchlicher Organisation war und ist eng mit der Argumentation der beiden Brüder und ihrem Schüler Kliment von Ohrid verbunden. Als Papst Johannes Paul II. die Brüder 1980 und erneut 1985 zu Kopatronen Europas erklärte, wurde dies nicht nur von katholischen Polen, Tschechen und Mähren, sondern auch seitens der makedonischen orthodoxen Kirche sehr dankbar aufgenommen.[6] Im Rahmen sowjetischer Vorgaben bewerteten aber auch bulgarische Historiker von 1950 bis 1989 den Einsatz des Gedenkens Kyrills und Methods durch die Wortführer der Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts positiv. Die Brüder wurden nun zu Medien der „Freundschaft von Völkern, die geeint sind durch die großen Ideen des Sozialismus“.[7] Nach der Wende von 1989 dienen Kyrill und Method zur Stabilisierung und „Europäisierung“ der bulgarischen nationalen Identität. Während somit in Bulgarien, Makedonien und aus römisch-katholischer Sicht seit 1980 bis heute eine starke europäische Dimension der Verehrung der Brüder deutlich wird, dient sie in Russland seit dem Untergang der Sowjetunion der Führung der russisch-orthodoxen Kirche vermehrt zur Verteidigung der kyrillischen Schrift gegen die lateinische und insgesamt gegen westlichen Einfluss. Unter diesen Vorzeichen wurde der Tag Kyrills und Methods 1991 auch hier zu einem kirchlichen und staatlichen Feiertag der slawischen Schrift und Kultur erklärt. In Moskau und mehreren anderen Städten Russlands wurden neue Denkmäler zu ihren Ehren errichtet.[8] Ein Film wie „Kyrill und Method – Apostel der Slawen“ (tsch. „Cyril a Metoděj – Apoštolové Slovanů“, koproduziert 2015 von Tschechien, der Slowakei, Russland und Slowenien[9]), der in Deutschland unter dem konfrontativen Titel „Der Kampf der Konfessionen: Kyrill und Method“ vertrieben wird, erklärt sich nur bis zu einem gewissen Grad mit neuer Solidarität gegenüber Putins Russland in Tschechien und anderorts, bezeugt jedenfalls aber die weiterhin bestehende Attraktivität des apostolischen Ursprungsnarrativs. Allerdings verträgt sich eine Verstärkung des Verweises auf die frühmittelalterlichen Brüder nicht mit dem vergleichsweise kruden „Fomenkoismus“, laut dem die etablierte, „westliche“ Historiografie mehrere Jahrhunderte erfunden habe: Gemäß dem Mathematiker Anatolij Fomenko lebten Christus und Maria im 12. Jahrhundert [traditioneller Rechnung] auf der Krim. Der durch den Präsidenten der Russländischen Föderation Putin kürzlich behauptete Status der Halbinsel als russischer „Tempelberg“ kann sich hierauf beziehen,[10] aber auch auf die Legenden der Skythenmission des Apostels Andreas, die der Chazarenmission durch Kyrill und Method um 860 sowie, drittens, auf die der Taufe des Fürsten der Rus’ Vladimir (ukr. Volodymyr) um 988 in Chersones,[11] das heute im Weichbild Sewastopols liegt.

Romantische Imaginationen der Nationen seit dem 19. Jahrhundert

Auch die in der Quelle sodann genannten Thesen des in der Tat bedeutenden Sprachwissenschaftlers Oleskandr Potebnja sind, anders als in dem vorgelegten Text, nicht affirmativ zu übernehmen, sondern zu dekonstruieren: Die Vorstellung vom Volkskörper, dem die Volkssprache als „lebenspendendes Blut“ dient, war im romantischen Kontext selbstverständlich, sie sollte jedoch heute als Element des Ethnonationalismus nicht mehr unterstützt werden. Insgesamt ist die in der Quelle letztlich dekonstruierte Vorstellung einer ukrainischen „Wiedergeburt“ wie die deutsche oder die bulgarische und die italienische „Wiederauferstehung (Risorgimento)“ als klassischer nationalromantischer Mobilisierungsdiskurs zu deuten. Es handelte sich dabei um eine gesamteuropäische Verflechtungsgeschichte: In einem solchen Zusammenhang ist das Zitat des ins Jahr 1845 datierten Gedichts von Ševčenko zu deuten, das ganz ähnlich argumentiert wie ein Gedicht des slowakischen Panslavisten Ján Kollár „Die Tochter der Slava (Slávy dcera )“ aus dem Jahr 1824: Beide beziehen sich offenbar auf Herder. Auch im ukrainischen Fall ist die Entwicklung nationaler Diskurse aber gerade nicht einfach und nur gegen ein Imperium gerichtet zu interpretieren. Die Ironie ihrer Geschichte liegt darin, dass sie gerade während der sowjetischen Einwurzelungspolitik („Korenizacija“) der frühen Zwischenkriegszeit ihre entscheidende Festigung erfuhren. Erst die Shoa und die übrigen mit dem Zweiten Weltkrieg verbundenen ethnischen Säuberungen brachten weitgehend einheitlich ostslawische bzw. ukrainische Siedlungsgebiete hervor. Allerdings war der formal transnationale sowjetische Entwurf der Ukraine stets im russisch dominierten Zusammenhang der Union verortet. Die Bindung wie die Ablösung vom Imperium wird bis heute mit Metaphern des Kolonialismus beschrieben, wie auch die Quelle zeigt, wo sie lokale ukrainische „Aborigines-Akteure“ im Sinne von Erfüllungsgehilfen der Imperialisten erwähnt. Aber beispielsweise die geschichtswissenschaftliche Analyse des Verhältnisses Russland zur Ukraine durch die russischsprachige Forschung als das einer „inneren Kolonisierung“ Russlands wird als eine „zweite Kolonisierung“ abgelehnt.[12]

Stattdessen wird eine konstruktivistische Herangehensweise an Konzepte ukrainischer Staatsbürgerschaft unterstützt: Die am Ende des Quellentextes vorgenommene Bezugnahme auf Ernest Renan verweist auf ein Verständnis der Staatsbevölkerung als politische, nicht ethnische, Nation, das gerade im Fall der Ukraine, aber auch in allen anderen Fällen – einschließlich des russischen und des deutschen – von entscheidender Bedeutung für den Aufbau und die Konsolidierung inklusiver Staatsgesellschaften bleibt.

Religiöse Erinnerungsorte und Nation im europäischen Wettstreit

Das hier vorgestellte Beispiel eines ukrainischen Verweises auf Kyrill und Method ist, wie einleitend festgehalten, nicht als Ausnahme zu verstehen: Religiöse Erinnerungsfiguren stellen einen zentralen Bestandteil der Imagination zahlreicher nationaler Narrative dar.[13] Im 19. Jahrhundert entstanden teilweise gleichzeitig im Wettkampf der sich festigenden nationalen Selbstüberhöhungen nicht nur die Vorstellung von Polen als „Messias der Völker“, eine sakrale nationale Bedeutungsaufladung der Johanna von Orléans oder neue, nationalisierte Deutungen des heiligen Georgs in England. Auch religiöse Verklärungen der Niederlage von Vercingetorix in Alesia, die Deutung der Schlacht im Teutoburger Wald im Zusammenhang mit dem Gallier- bzw. Germanenmythos und die Entstehung völkischer Religionskonzepte sind in diesen Kontext einzuordnen: Wenn bald Siegfried angeblich Christus ersetzen konnte, waren in der Folge im 20. Jahrhundert auch Vid oder Sava als serbische Gottheiten denkbar. Auch wenn sich die Konzepte „Deutscher Christen“, der „Deutschen Glaubensbewegung“ oder Alfred Rosenbergs nicht durchsetzten, ist die Weiterentwicklung des Amselfeldmythos bzw. des Svetosavlje zur Religion und expliziten „Ideologie“ im 20. Jahrhundert mit ihnen vergleichbar und in einen gemeinsamen Kontext zu stellen. Nicht nur moderne deutsche Geschichte wurde im Rahmen der biblischen Figuren des Opfers, des Märtyrertums und der Auferstehung entworfen. Während die evangelischen und reformierten Kirchen ohnehin staatlich oder staatsnah waren und in diesem Rahmen wie in der Orthodoxie im 19. Jahrhundert leicht zur Nation, ja in Schweden die „Nation zur höchsten Form der Kirche“[14] werden konnte, schützte auch die übernationale Struktur der römisch-katholischen Kirche diese nicht vor der Indienstnahme zur Sakralisierung der Nation: Etwa behauptete Kardinal Erzbischof Paul Cullen, nur Irland könnte sich „Märtyrernation Christi“ nennen. Die „Sakralisierung der Nation im Krieg“[15] beschränkte sich im 20. Jahrhundert nicht auf Frankreich, Serbien, Bulgarien oder Deutschland. Neben der Rede vom „deutschen Gott“ (Ernst Moritz Arndt, erstmals 1813) festigten sich später in gesamteuropäischer und regionaler Konkurrenz beispielsweise die vom „serbischen Gott“ (1895), vom „bulgarischen Gott“ (1913) und vom „makedonischen Gott“ (1925). Die Beschwörung der „gekreuzigten Nation“ und ihrer „Auferstehung“ war zumindest bis 1945 in weiten Teilen Europas immer wieder Allgemeingut.[16] Entsprechend ist die gegen persönliche Herrschaft von Zaren und Fürsten gerichtete, messianisch entworfene Auferstehung der Ukraine und die ihrem Ruf folgende Wiedererweckung des gesamten Slawentums in den „Büchern des Seins der Ukrainer“ einzuordnen.



[1] Essay zur Quelle: Andrij Šestakov: Das ukrainische Salz des Slawentums. Der 24. Mai – Tag der apostelgleichen heiligen Kyrill und Method (24. Mai 2005). Die Quelle ist online abrufbar unter der URL: <http://www.umoloda.kiev.ua/number/433/213/> (14.02.2017).

[2] Beispielsweise: Geyer, Michael; Lehmann, Hartmut (Hgg.), Religion und Nation. Nation und Religion. Beiträge zu einer unbewältigten Geschichte, Göttingen 2004.

[3] Vgl. die zu diesem Essay mit veröffentlichte Quelle Šestakov, Andrij, Ukrajins’ka sil’ slov”janstva. 24 travnja – Den’ rivnoapostol’nych svjatych Kyryla i Mefodija [Das ukrainische Salz des Slawentums. Der 24. Mai – Tag der apostelgleichen heiligen Kyrill und Method], in: Ukrajina moloda [Junge Ukraine] 93 (24.05.2005), URL: <http://www.umoloda.kiev.ua/number/433/213/> (14.02.2017). Im Folgenden stammen alle Zitate, sofern nicht anders ausgewiesen, aus der hier mit veröffentlichten Quelle.

[4] Die Absätze zu Kyrill und Method geben stark gekürzt wieder: Rohdewald, Stefan; Beham, Peter, Kyrill und Method, in: Bahlcke, Joachim; Rohdewald, Stefan; Wünsch, Thomas, (Hgg.) in Verbindung mit Meinolf Arens, Katrin Boeckh, Márta Fata, Norbert Kersken, Stefan Samerski, Daniel Ursprung und Evelin Wetter, Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Konstitution und Konkurrenz im nationen- und epochenübergreifenden Zugriff, Berlin 2013, S. 473–493. Ausführlich zu den Brüdern im südslawischen Verflechtungskontext: Rohdewald, Stefan, Götter der Nationen. Religiöse Erinnerungsfiguren in Serbien, Bulgarien und Makedonien bis 1944 (Visuelle Geschichtskultur; 14), Wien u.a. 2014.

[5] Mehr zu diesem und anderen Texten aus dem Umfeld der Bruderschaft: Brüning, Alfons, Religion and Nation: The Idea of the „Chosen People“ in Writings of the Kievan Kyrill-and-Method Society in its European Historical Context, in: Dmitriev, Mikhail V.; Tollet, Daniel (Hgg.), Confessiones et nationes. Discours identitaires nationaux dans les cultures chrétiennes. Moyen Age – XXe siècle, Paris 2014, S. 239–263.

[6] Vgl. Rohdewald, Stefan, Osmanische Schulheilige, jugoslawische „Klammer der Unkulturen“, „Waffe“ und Arm der Europapolitik: Makedonische Funktionen Kyrills und Methods seit 1800, in: Kahl, Thede; Salamurović; Aleksandra (Hgg.), Das Erbe der Slawenapostel im 21. Jahrhundert. Nationale und europäische Perspektiven/The Legacy of the Apostles of the Slavs in the 21st Century. National and European Perspectives (Symbolae Slavicae; 31), Frankfurt am Main u. a. 2015, S. 131–150.

[7] Beham; Rohdewald, Kyrill und Method, S. 490.

[8] Mit einem Schwerpunkt auf Russland: Bennett, Brian P., The Myth of Cyril and Methodius and Competing Maps of Europe, in: Journal of Religion in Europe 4 (2011), H. 2, S. 245–272.

[9] Der Kampf der Konfessionen – Kyrill und Method, in: Filmstarts, URL: <http://www.filmstarts.de/kritiken/237568.html> (14.02.2017).

[10] Vgl. Ingold, Felix Philipp, Ein Mythos für Russland. Die Krim wird zur „heiligen Erde“ stilisiert, in: Neue Zürcher Zeitung, 30.11.2016.

[11] Vgl. Jobst, Kerstin, Chersones, in: Bahlcke, Rohdewald, Wünsch (Hgg.), Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa, S. 3–12.

[12] Gundorova, Tamara, „Vnutrišna kolonizacija“ – povtorna kolonizacija, in: Krytyka 15 (2011), H. 9–10, S. 23–26, URL: <https://krytyka.com/ua/articles/vnutrishnya-kolonizatsiya-povtorna-kolonizatsiya> (14.02.2017). Vgl. auch Yekelchyk, Serhy, Stalin’s Empire of Memory. Russian-Ukrainian Relations in the Soviet Historical Imagination, Toronto u.a. 2004.

[13] Das Folgende beruht auf: Rohdewald, Götter der Nationen, S. 836–842.

[14] Blückert, Kjell, The Church as Nation. A Study in Ecclesiology and Nationhood (European University Studies; Ser. 23, Theology; 697), Frankfurt am Main u. a 2000.

[15] Leonhard, Jörn, Bellizismus und Nation. Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750–1914 (Ordnungssysteme; 25), München 2008.

[16] Davies, Alan, The Crucified Nation. A Motif in Modern Nationalism, Brighton u.a. 22010.



Literaturhinweise

  • Bahlcke, Joachim; Rohdewald, Stefan; Wünsch, Thomas (Hgg.) in Verbindung mit Meinolf Arens, Katrin Boeckh, Márta Fata, Norbert Kersken, Stefan Samerski, Daniel Ursprung und Evelin Wetter, Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Konstitution und Konkurrenz im nationen- und epochenübergreifenden Zugriff, Berlin 2013.
  • Davies, Alan, The Crucified Nation. A Motif in Modern Nationalism, Brighton Portland, Oregon 22010.
  • Kenneweg, Anne Cornelia; Troebst, Stefan (Hgg.), Marienkult, Cyrillo-Methodiana und Antemurale. Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa vor und nach 1989. Themenheft der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 59 (2008), H. 3.
  • Rohdewald, Stefan, Götter der Nationen. Religiöse Erinnerungsfiguren in Serbien, Bulgarien und Makedonien bis 1944 (Visuelle Geschichtskultur; 14), Wien u.a. 2014.
  • Samerski, Stefan (Hg.), Die Renaissance der Nationalpatrone in Ostmitteleuropa im 20./21. Jahrhundert, Köln u.a. 2007.
  • Smith, Antony, Chosen Peoples. Sacred Sources of National Identity, Oxford 2004.

Quelle zum Essay
Kyrill und Method: Religiöse Erinnerungsfiguren im östlichen Europa zwischen (Trans)Nationalität und Religion
( 2017 )
Citation
Andrij Šestakov: Das ukrainische Salz des Slawentums. Der 24. Mai – Tag der apostelgleichen heiligen Kyrill und Method (24. Mai 2005), in: Themenportal Europäische Geschichte, 2017, <www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-28560>.
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