Filmstills „Ich klage an“ (1941)


Filmstills Ich klage an (1941)[1]

Szene 1: Bernhard behandelt Hanna

Szene 2: Bernhard bei Trude in der Anstalt

Szene 3: Bernhard untersucht Hanna und diagnostiziert Multiple Sklerose

Szene 4: Hannas Blick in den Spiegel

Szene 5: Hannas befähigter Körper

Szene 6: Hausmusik auf der Berufungsfeier





[1] Filmstills aus „Ich klage an“, Deutschland 1941, Regie: Wolfgang Liebeneiner (117‘). Die digitale Fassung des Films ist einsehbar auf der Webseite archive.org, URL: <https://archive.org/details/IchKlageAn1941_839> (04.07.2017).

Zugehöriger Essay: Die Verschränkung von Geschlecht und Dis/Ability. Das Blickregime des Propagandaspielfilms „Ich klage an“ im Kontext der NS-„Euthanasie“

Essay

Die Verschränkung von Geschlecht und dis/ability. Das Blickregime des Propagandaspielfilms Ich klage an im Kontext der NS-„Euthanasie“[1]

Von Stefan Offermann

Die sogenannte Aktion T4 war die erste systematisch durchgeführte Massenvernichtungsaktion des „Dritten Reiches“. Zwischen Januar 1940 und August 1941 wurden mindestens 70.000 Menschen mit psychischer Erkrankung oder geistiger Behinderung in Gaskammern getötet.[2] Der Selektionsprozess und damit die Frage, was genau in den Augen des Anstaltspersonals und der Gutachter „lebensunwertes Leben“ eigentlich ausmachte, stellen einen zentralen Gegenstand der historischen Forschung zur NS-„Euthanasie“ dar.[3] Diese Frage soll im vorliegenden Beitrag an den Spielfilm Ich klage an gerichtet werden.[4] Ziel der historisch kontextualisierenden Filmanalyse ist es dabei nicht, die einzelnen Kriterien „lebensunwerten Lebens“, die im Selektionsprozess angewendet wurden, im Film ausfindig zu machen. Vielmehr geht es darum, grundlegende und hinter den einzelnen Kriterien stehende Normen und Dispositionen mithilfe des Films sichtbar zu machen. Die Stärke des Spielfilms als Quelle besteht darin, dass sich wirkmächtige Imaginationen dieser Normen in die Gestaltung seiner Bilder eingeschrieben haben und sie so der historischen Forschung noch immer zugänglich sind. Durch eine detaillierte Analyse des Blickregimes ausgewählter Szenen möchte ich zeigen, wie die Filmbilder simultan entlang der Kategorien Geschlecht und dis/ability strukturiert wurden. Die spezifische Organisation von Imaginationen im Jahre 1941, die auf diese Weise rekonstruierbar ist, stellte – so die These – einen notwendigen Baustein für die Herstellung „lebensunwerter“ Subjekte bereit und ist somit von großer Relevanz für die Geschichte der NS-„Euthanasie“.[5]

Ein solcher Ansatz geht über eine instrumentelle Sicht auf den Film hinaus, durch die sich die Forschungen von Karl Ludwig Rost und Karl Heinz Roth auszeichneten, die auf breiter Quellenbasis detailliert die Entstehungsgeschichte des Films rekonstruierten.[6] In dieser Perspektive wird die Frage nach der Sinnstruktur des Films stets ausgehend von den Wirkungsintentionen der Urheber_innen gestellt.[7] Auf diese Weise geraten jedoch subtextuelle und auf der Ebene von Diskursen und Imaginationen angesiedelte Bedeutungsschichten, die nicht in von Filmschaffenden oder Rezipient_innen in Parallelquellen artikulierten Deutungen aufgehen, schwerlich in den Blick. „Man muß [sic] vom Bild ausgehen und es nicht nur als Illustration, Bestätigung oder Dementi einer anderen Art von Wissen, der der schriftlichen Tradition, auffassen“[8], so die nach wie vor aktuelle Forderung des französischen Sozialhistorikers Marc Ferro. Diesen Weg beschritt insbesondere die Film- und Medienwissenschaftlerin Ursula von Keitz, die zudem eine geschlechtergeschichtliche Perspektive verfolgte.[9] Mit einem vielschichtigen narratologischen Zugriff nahm sie die Konstruktionsmechanismen „lebensunwerten Lebens“ in den Blick.[10] Dabei illustriert ihr Beitrag, wie fruchtbar dezidiert filmwissenschaftliche Ansätze für eine historische Analyse filmischer Quellen sein können, gerade dann, wenn die Untersuchung auf die genannten Bedeutungsschichten abzielt.[11] Die Funktion des Blickregimes für die Konstruktion „lebensunwerter“ Subjekte bleibt jedoch auch bei ihr unberücksichtigt. Die Forschungen zum Entstehungsprozess sind insofern für die Argumentation dieses Beitrags unerlässlich, als sie es gestatten, den Erkenntniswert von Ich klage an für die vorliegende Fragestellung präzise einzuschätzen. Denn ein Blick auf den Produktionsprozess ermöglicht es, die Position der filmischen Darstellungen „lebensunwerten Lebens“ im Archiv der Imaginationen und Diskurse der nationalsozialistischen Gesellschaft zum Zeitpunkt der Aktion T4 genauer zu verorten.

Diesem Argumentationsschritt ist eine kurze Inhaltsangabe vorangestellt. Anschließend werden die wichtigsten Ergebnisse der neuesten Forschungen zu den Selektionskriterien vorgestellt, um zum einen die Bedeutung von Geschlecht und dis/ability zu belegen. Zum anderen ist dieser Schritt notwendig, um am Ende des Beitrags Überlegungen anzustellen hinsichtlich einer Zusammenführung der bisher getrennten Forschungen zu Ich klage an einerseits und zum T4-Selektionsprozess andererseits. Um schließlich das Blickregime untersuchen zu können, sind der Filmanalyse einige (film)theoretische Erläuterungen vorangestellt. Diese sollen zum einen die Bedeutung von Blickweisen für die Entstehung und Evidenz von Wissen und Imaginationen herausarbeiten, zum anderen sollen sie darlegen, auf welche Weise die verschiedenen Blickrelationen des Mediums Film zusammenhängen und interagieren.

Ich klage an erzählt die Geschichte der jungen Hanna Heyt, die mit dem Medizinprofessor Thomas in glücklicher Ehe lebt. Als Hanna an Multipler Sklerose erkrankt, versucht Thomas vergeblich, ein Heilmittel zu finden. Schließlich wird Hanna auf eigenen Wunsch hin von ihrem Mann „erlöst“, der im Anschluss verhaftet und angeklagt wird. Bernhard Lang, ein Freund des Ehepaars und Hannas behandelnder Arzt, verurteilt zunächst Thomas’ Tat. Doch die Konfrontation mit der kleinen Trude Günther, deren Hirnhautentzündung er erfolglos behandelte und die als „lebensunwertes Leben“ nun in einer Anstalt „dahinvegetiert“, ändert seine Überzeugung und er sagt bei Gericht zugunsten von Thomas aus.

Bereits in der Phase des Aufbaus der T4-Infrastruktur seit Ende 1939 wurde von führenden Organisatoren wie Viktor Brack, Leiter des Hauptamtes II der Kanzlei des Führers, oder Paul Nitsche, T4-Obergutachter und ärztlicher Leiter der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein, ein Filmprojekt zur propagandistischen Wegbereitung der „Euthanasie“ ins Auge gefasst.[12] Zunächst war ein Dokumentar- und Kulturfilm geplant, der en détail den institutionellen Ablauf der Aktion T4 darstellen und letztlich jene Argumente für die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ liefern sollte, die auch die T4-Organisatoren antrieben. Hintergrund dieser Pläne war die Einschätzung, dass das Publikum der „Euthanasie“ überwiegend aufgeschlossen gegenüberstünde und es lediglich weiterer argumentativer Aufklärung bedürfe, um es von der Notwendigkeit und Legitimität der Tötungen zu überzeugen. Diese Pläne wurden im Dezember 1940 zugunsten eines – so die Überlegung – indirekter und subtiler verfahrenden Spielfilmprojektes auf Eis gelegt. Grund dafür war die misslungene Geheimhaltung der Tötungen, die seit Herbst 1940 zu ersten Protesten führten – oft in unmittelbarer Nähe der Tötungsanstalten. Mit der Hinwendung zum populären Unterhaltungsfilm wurde das „lebensunwerte Leben“ im Alltag von Kleinfamilie und Paarbeziehung verortet und schien somit wesentlich anschlussfähiger an die Lebenswelt des Publikums zu sein. Zugleich vollzog sich mit der Umorientierung hin zum Spielfilm eine Professionalisierung der Stoffentwicklung, an der nun die Tobis-Filmgesellschaft sowie der erfahrene und bekannte Regisseur Wolfgang Liebeneiner maßgeblich beteiligt waren.

Die von Rost und Roth ausführlich untersuchte Phase der Vorproduktion lässt sich als ein kontinuierlicher Aushandlungs- und Übersetzungsprozess beschreiben, in dem die professionellen Filmemacher die expliziten Propagandaintentionen der T4-Akteure immer wieder in Narrative und Bilder transformierten, die sie meinten einem primär auf Unterhaltung ausgerichtetem Publikum präsentieren zu können. Dieses Schema scheint sich während der Phase der Dreharbeiten und der Postproduktion, mit der sich Rost und Roth leider nur sehr knapp beschäftigen, fortgesetzt zu haben. Darüber hinaus zeichnet sich laut Siegfried Kracauer, einem Pionier der historischen Filmanalyse, ein auf die breite Masse abzielender Spielfilm dadurch aus, dass er das Produkt eines Kollektivs sei. Daraus folgert er, dass die Dynamik der arbeitsteiligen Teamarbeit tendenziell die „willkürliche Handhabung des Filmmaterials“ ausschließt und „individuelle Eigenheiten zugunsten jener [unterdrückt], die vielen Leuten gemeinsam sind.“[13]

Die erste Schnittfassung dieses kollektiven Produkts war wohl Anfang Mai 1941 fertiggestellt und passierte Mitte Juli die Zensur. Doch vor seiner Premiere am 29. August sollte Ich klage an ein zweites Mal die Zensur durchlaufen. Denn am 3. August 1941 hielt der Münsteraner Erzbischof Graf von Galen eine Predigt, die erstmals deutlich und öffentlich die „Euthanasie“ verurteilte. Ihre beunruhigende Wirkung auf die NS-Führung konnten Galens Worte vor allem deshalb entfalten, weil sie als Kopie in vielen katholischen Gemeinden im Reich verbreitet wurden. Diese Form des kommunikativen Widerstandes war möglich, weil sich die katholische Kirche innerhalb der Herrschaftsordnung des nationalsozialistischen Staates eine relativ autonome Teilöffentlichkeit bewahren konnte.[14] Im Kontext einer innenpolitischen Situation, die aufgrund des Verlaufs des Russlandfeldzuges und des verschärften Bombenkrieges bereits angespannt war, entschied sich Hitler für einen taktischen Rückzug.[15] Dies bedeutete nicht nur, dass die Vergasungen einstweilen gestoppt wurden, sondern auch, dass Ich klage an ein weiteres Mal überarbeitet werden musste. Es wurden alle Szenen und Dialogpassagen aus dem Film entfernt, die man glaubte dem Publikum nicht mehr zumuten zu können: das Gespräch auf Thomas’ Berufungsfeier über einen Patienten, der nach einem Schädelbasisbruch leider nicht gestorben sei und nun „ganz sinnlos“ lebe; ein Dialog zwischen Thomas und Professor Schlüter, in dem Thomas’ Tat von der moralischen Instanz des weisen Mentors zwar abgelehnt, aber durch das höhere Gut der medizinischen Forschung – der Suche nach einem Heilmittel gegen Multiple Sklerose – relativiert wird; und schließlich die offen ökonomisch-utilitaristische Argumentation für den „Gnadentod“ von Seiten einzelner Geschworener bei Thomas’ Gerichtsverhandlung.

Die Widerstände gegen die „Euthanasie“ verschoben Schritt für Schritt die Grenzen des öffentlich Sag- und Zeigbaren. Dieser Prozess wurde von den Urhebern des Films aufmerksam registriert und führte dazu, dass ideologische Spitzen in der Darstellung „lebensunwerten Lebens“, die in anderen Formen der Propaganda noch deutlich hervorstachen, abgeschliffen wurden. Diese Entwicklung sowie die Eigenlogiken der Produktionspraktiken eines populären Spielfilms bewirkten, dass die Darstellungsweise zunehmend subtiler und das Dargestellte sukzessive entschärft wurde. Doch diese Dynamik ging nur genau so weit, wie die Filmschaffenden und T4-Akteure annehmen konnten, dass der Film weiterhin ihre spezifische propagandistische Botschaft würde vermitteln können. Das heißt, der Film inszenierte in seiner finalen Form genau jene Grundlagen, auf die man nicht verzichten konnte, wenn man der Subjektform des „lebensunwerten Lebens“ eine minimale Evidenz und Überzeugungskraft verleihen wollte. Demnach setzte der Film die Grunddispositionen bzw. den kleinsten gemeinsamen Nenner dessen, was als „lebensunwertes Leben“ imaginiert wurde, ins Bild.

Den kleinsten gemeinsamen Nenner der explizit und bewusst angewendeten Selektionskriterien versuchte ein bis 2006 laufendes Forschungsprojekt um Gerrit Hohendorf, Maike Rotzoll und Petra Fuchs zu finden.[16] Mithilfe statistischer Methoden wurde überprüft, welche Kriterien der Patient_innen tatsächlich signifikante Bedeutung hatten für eine Kategorisierung als „lebensunwert“.[17] Als Quellengrundlage nutzten die Historiker_innen des Projekts eine repräsentative Stichprobe aus den circa 30.000 Krankenakten von Opfern, die Anfang der 1990er-Jahre im Archiv des Ministeriums für Staatssicherheit wiederentdeckt wurden.[18] Die Befunde dieser Akten wurden mit einer repräsentativen Stichprobe von Krankenakten von T4-Überlebenden verglichen. Auf diese Weise konnte die von der älteren Forschung bereits vermutete Bedeutung der Arbeitsunfähigkeit als primäres Kriterium bestätigt werden.[19] Des Weiteren konnte nachgewiesen werden, dass bei allen Opfern die Einstufung der jeweiligen Erkrankung als „unheilbar“ notwendig war, damit die Arbeitsunfähigkeit als Selektionskriterium wirksam werden konnte. Geschlechtliche Differenzierungen zeigten sich darin, dass die ausnahmslos männlichen Gutachter der Arbeit von Frauen einen grundsätzlich geringeren Wert zuschrieben als der von Männern. Dies belegt der signifikant höhere Anteil an Frauen, deren Arbeitsleistung zwar als „produktiv“ eingeschätzt wurde, die jedoch trotzdem getötet wurden. Zudem wirkte sich mittelbar auf die Selektion aus, dass bestimmte Arbeiten entweder als primär männliche oder weibliche Tätigkeiten angesehen wurden. Geschlechtliche Zuschreibungen führten dazu, dass Männer verstärkt in der anstaltseigenen Landwirtschaft oder in den Werkstätten eingesetzt wurden, wohingegen Frauen besonders häufig mit Wasch-, Bügel- und Näharbeiten beschäftigt wurden. Den männlich markierten Tätigkeitsbereichen wurde vom Anstaltspersonal und von den T4-Gutachtern – auch bei mitunter geringer eingeschätzter Arbeitsleistung – eine höhere Wertigkeit zugeschrieben, was sich signifikant auf die Überlebenschancen der Patienten auswirkte. Eine als produktiv eingeschätzte Arbeitsleistung konnte bei Männern und Frauen durch einen als übermäßig wahrgenommenen Pflegeaufwand oder ein als störend angesehenes Verhalten relativiert werden. Doch wurde nachgewiesen, dass sich Begriffe wie „störend“, „gefährlich“ oder „unruhig“ wesentlich häufiger in den Akten von getöteten Frauen finden. Davon ausgehend, dass dieses Ungleichgewicht keine Abbildung tatsächlich existierender geschlechtlich differenzierter Verhaltensweisen darstellt, verweist es auf eine psychiatrisch-institutionelle Ordnung, die für Frauen rigidere Verhaltensregeln vorsah als für Männer. Da Frauen entsprechend der hegemonialen bürgerlichen Geschlechterstereotype normativ auf Eigenschaften wie Passivität, Freundlichkeit und Anpassung festgelegt waren, wurden aktive, „unruhige“ Handlungen, die eben keine Anpassung an die Regeln anzeigten, bei Frauen stärker als „störend“ oder „gefährlich“ wahrgenommen als bei Männern.[20] Dabei wurde das auf diese Weise diskursivierte Verhalten immer auch vom disziplinierenden Anstaltsraum selbst produziert, denn das, was „störende“ Patient_innen störten, war die institutionelle Ordnung der Anstalt.

Ohne das Reale der Krankheiten verleugnen zu wollen[21], belegen diese Ergebnisse, dass das Anstaltspersonal sowie die T4-Gutachter die Patient_innen nicht nur an der biopolitischen Norm der ability[22], der geistigen und körperlichen Befähigung, ausrichteten, sondern auch an normativen bürgerlich-patriarchalen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit.[23] Der Entscheidung, ob jemand als „lebenswert“ oder „lebensunwert“ kategorisiert wurde, lagen somit spezifische Blickweisen auf Anstaltspatient_innen zugrunde, die bestimmte diskursive Wahrheiten und imaginäre Bilder von diesen generierten.

Im Anschluss an Michel Foucault untersuchen die Disability Studies die Macht des klinischen Blicks, der ‚Behinderung‘ zuallererst hervorbringt. Laut Anne Waldschmidt, einer Wegbereiterin der Disability Studies in Deutschland, verweist der Begriff auf die grundsätzliche „Bedeutung des Sehens für die Konstruktion von ‚Behinderung‘, [auf] den Stellenwert von Visibilität und [der] Wahrnehmbarkeit von Merkmalen, die zumeist erst dann, wenn sie dem Auge des Betrachters zugänglich gemacht werden, als Zeichen einer Behinderung gedeutet werden können.“[24] Somit stellt der Blick keine rein visuelle Operation dar, sondern bezeichnet im umfassenden Sinne den epistemischen Zugriff von Ärzt_innen auf Patient_innen. Der institutionell gerahmte klinische Blick konstituiert seinen Gegenstrand, indem er ihn signifiziert, ihm eine Bedeutung zuweist und ihn dadurch als Subjekt kulturell verständlich macht. Der klinische Blick benötigt bzw. generiert demnach zwei komplementäre Subjektpositionen, denen ein grundverschiedenes Maß an agency zukommt. Binär und daher vereinfacht ausgedrückt besteht diese Konstellation aus einem aktiv blickenden Subjekt und einem passiv angeschauten.

Diese hierarchische Blickkonstellation war nicht nur für die Praktik der Selektion unabdingbar, sondern hat sich – so die These – im Verlauf des Produktionsprozesses auch in die Blickführung des Films eingeschrieben. Eine mit der subjektivierenden Funktion des klinischen Blicks korrespondierende Blickordnung war ein Kernelement jener Grunddispositionen, auf die letztlich nicht verzichtet werden konnte, wenn „lebensunwertes Leben“ dargestellt werden sollte. Der Film lässt sich folglich als eine audiovisuelle Quelle begreifen, die das über Leben und Tod (mit)entscheidende Blickregime selbst sichtbar und so für die historische Forschung beobachtbar macht. Eine Filmanalyse kann die subjektkonstituierende Funktion von Sehen und Angesehen-Werden in den Blick nehmen. Im Unterschied zur Fotografie besteht ein Film aus einer sequentiellen Abfolge von Einzelbildern, wodurch er es gestattet, die Anordnung von Blicken in ihrer Dynamik zu untersuchen. Zudem entsteht aus der kontinuierlichen Abfolge von Bildern die filmische Narration, welche die Figurenentwicklung organisiert. Diese wiederum lässt sich als Prozess der Subjektkonstitution und -neukonstitution interpretieren.

Die Filmtheorie unterscheidet drei Blickrelationen, die bei jedem (Kino-)Film zum Tragen kommen: erstens den Blick der Figuren untereinander oder auf Objekte innerhalb der filmischen Welt (Diegese), zweitens den Blick der Kamera auf die Figuren und die Handlung sowie drittens den Blick der Zuschauer_innen auf die Kinoleinwand.[25] Die einzelnen Blickrelationen und deren Verhältnis zueinander können auf sehr unterschiedliche Art und Weise gestaltet werden. Mit dem zuerst in Hollywood etablierten Continuity-System entwickelte sich eine filmische Form, die weltweit zur Norm des klassischen Kinos avancierte und der auch Ich klage an unterlag und folgte.[26] Dieses zielte auf die räumliche und temporale Kontinuität und Abgeschlossenheit der Diegese. Um diese zu bewerkstelligen, musste das Continuity-System die Anwesenheit der Kamera bei der Aufnahme sowie die Ausrichtung des Films auf ein Publikum verleugnen. Besonders augenscheinlich wird dies anhand des zu vermeidenden Blicks der Figuren in die Kamera. Dieser würde das Gefühl, angesehen zu werden, bei den Zuschauer_innen evozieren und so auf den Apparat – die Kamera – und die dispositive Anordnung als Publikum im Kino aufmerksam machen. Stattdessen wurden die Kameraeinstellungen und -bewegungen sowie die Montage – die Verknüpfung der einzelnen Einstellungen – so gestaltet, als würden sie sich neutral und automatisch – genau wie die vermeintlich natürliche Bewegung des menschlichen Auges – an den Blickrichtungen und Bewegungen der Figuren orientieren. Die Filmtheorie spricht daher von der „motivierten Kamera“ und vom durch die Figuren motivierten und damit „unsichtbaren Schnitt“.

Diese filmische Form soll anhand einer zunächst harmlos erscheinenden Szene verdeutlicht werden.[27] Zu sehen ist Bernhard, wie er das Medikament für Hanna in ein Glas tropft. Als establishing shot, der die Sequenz eröffnet, zeigt diese Einstellung den Raum und die darin agierenden Figuren. Nun bewegt sich Bernhard im Raum auf die sitzende Hanna zu, um ihr das Glas zu reichen, und gibt so den Blick auf sie frei. Die Kamera behält die Einstellung bei, die gesamte Szenerie ist jetzt etabliert und die konventionalisierte Abfolge der Einstellungen sieht vor, dass die Kamera nun näher an die Figuren heranrückt. Der folgende Dialog wird im für das Continuity-System typischen Schuss/Gegenschuss-Verfahren aufgelöst. Nachdem zunächst beide sich unterhaltenden Figuren zu sehen sind, wird auf eine nahe Einstellung umgeschnitten, die nur die jetzt sprechende Hanna zeigt. Sie stellt Bernhard eine Frage und schaut ihn dabei an. Virtuell ihrer Blickachse folgend, wird nun auf ihn gegengeschnitten, damit man sieht, wie er antwortet.

Die psychoanalytisch orientierte Filmtheorie hat die Metapher der suture, der Naht, verwendet, um die spezifische Anordnung von Film und Publikum zu beschreiben, die durch das Continuity-System hergestellt wird.[28] Vereinfacht besagt dieser Ansatz, dass das kontinuierliche Zerschneiden des Raumes durch den Schnitt immer wieder durch das gleichsam kontinuierliche Aneinanderfügen räumlich konsistenter Einstellungen in der Montage vernäht wird. Dabei wird der Blick der Zuschauer_innen, der den Blicken der Figuren durch den filmischen Raum folgt, in ebendiesen hineingenäht. Die erste Einstellung einer Schuss/Gegenschuss-Konstellation eröffnet durch die Blick- und Handlungsrichtung einer Figur ins filmische Off hinein – den Raum außerhalb des aktuell zu sehenden Bildes – eine Leerstelle, die als Mangel wahrgenommen wird: Die Zuschauer_innen wollen sehen, wie die angespielte Figur reagiert oder wer oder was überhaupt angeblickt und angespielt wird, um (wieder) das befriedigende Gefühl der Kohärenz zu erfahren. Somit bedient das Continuity-System das für die Psychoanalyse charakteristische Zusammenspiel von Mangel und Begehren und kann auf diese Weise eine Sogwirkung entfalten, die das Publikum in die Bildfolge hineinzieht. Für radikale Vertreter_innen des suture-Ansatzes konstituiert ein dem Continuity-System folgender Film ein zuschauendes Subjekt mit einer grundsätzlich affirmativen Haltung. „By the means of suture, the film-discourse presents itself as a product without a producer, a discourse without an origin. It speaks. Who speaks? Things speak for themselves and of course, they tell the truth.“[29]

Zu Recht wiesen Filmwissenschaftler_innen darauf hin, dass der Kamerablick den Blick der Zuschauer_innen und damit deren Wahrnehmung keineswegs vollends vor-sehen und determinieren kann.[30] Vielmehr eröffnet ein Film stets vielfältige Rezeptionsmöglichkeiten. Ich klage an bot den Zuschauer_innen die Gelegenheit, einmal ganz konkret den (Alb-)Traum eines „lebensunwerten Lebens“ zu träumen; eine Möglichkeit, die bis zum Ende des „Dritten Reiches“ circa 18 Millionen Menschen nutzten.[31] Dabei brachten sie eigene und ganz unterschiedliche Erfahrungen und Imaginationen mit ins Kino, die sich mit den Bildern auf der Leinwand amalgamierten. Das Leben der Zuschauer_innen verlieh den Bildern Sinn und die Bilder dem Leben. Wir verfügen über unterschiedliche Quellen, die Hinweise liefern auf die Rezeptionsaktivitäten des Publikums.[32] Doch können diese Quellen für die weitere Argumentation keine Rolle spielen. Zunächst würde deren systematische Berücksichtigung eine umfangreiche Quellenkritik erfordern, da sie die Reaktionen des Publikums mitnichten einfach abbilden. Vielmehr waren die Quellen jeweils in spezifische kommunikative Zusammenhänge eingebunden und deren Autor_innen verfolgten in der Regel ganz eigene Interessen.[33] In der Hauptsache jedoch soll es an dieser Stelle nicht darum gehen, in irgendeiner Weise die Wirkung des Films abzuschätzen oder seine genauen Sinngehalte über die Reaktionen einzelner Zuschauer_innen zu rekonstruieren. Vielmehr verstehe ich den Film – wie die Untersuchung des Entstehungsprozesses gezeigt hat – selbst als eine Reaktion auf spezifische Diskurse und Imaginationen, die er aufgriff und denen er eine bestimmte Form gab. Und zwar dadurch, dass er sie durch eine besondere Blickordnung strukturierte, die für die Wahrnehmung und Anschlusskommunikation der Rezipient_innen ausgewählte Sehweisen vor-sah und privilegierte, andere jedoch auszuschließen versuchte.

Gerade die Strategie des Ausschlusses zeigt sich deutlich in jener Szene, in der Bernhard die kleine Trude Günther in der Anstalt besucht, in der ihre Eltern sie angesichts der Verschlechterung ihrer Symptome untergebracht haben.[34] Im Gespräch mit dem Anstaltsleiter macht Bernhard deutlich, dass seine Einstellung zur Tötung Hannas und darüber hinaus sein ärztliches Selbstverständnis als „Diener des Lebens“[35] von seinem Blick auf Trude und der damit einhergehenden Begutachtung und Bewertung ihres „Lebenswertes“ abhängt. Zuvor bereits hat der Film auf Dialogebene eine Analogie zwischen beiden Fällen hergestellt. Hanna hat mit den Begriffen „taub, blind und idiotisch“[36] jenen „lebensunwerten“ Zustand beschrieben, auf den sie niemals herabsinken wollte. Trude ist von ihrem Vater unmittelbar vor Bernhards Besuch in der Anstalt auf die gleiche Weise beschrieben worden: „Sie ist blind, kann nichts hören und ist ganz idiotisch.“[37] Damit wird auf bestimmte Kernelemente der damaligen Vorstellung von „lebensunwertem Leben“ abgehoben. Als diese galten ein vermeintlich mangelndes oder fehlendes Bewusstsein der eigenen Person sowie die auf dieser Grundlage zugeschriebene Unfähigkeit, rational und (selbst)kontrolliert zu denken, zu handeln und die Welt wahrzunehmen.[38] Genau diese Vorstellung eines grundsätzlich nicht-befähigten Subjekts inszeniert der Film auch durch die Form seiner Blickführung in dieser Szene.

Als Bernhard den Raum, in dem sich Trude befindet, betreten hat, schließt sich die Tür hinter ihm und der Blick der Kamera verweilt für zwölf Sekunden auf der Tür mit der Aufschrift „Kinder-Abteilung“. Als Bernhard den Raum wieder verlässt, fährt die Kamera ohne Schnitt zurück und schaut auf seinen entsetzten Blick, der seinen Sinneswandel anzeigt. Er wird nun direkt zum Gericht fahren, um bei der parallel stattfindenden Verhandlung zu Thomas‘ Gunsten auszusagen. Die Einstellung auf die Tür verweigert dem Publikum den Blick auf Trude. Dadurch wird sowohl ein Mangel als auch zugleich das Begehren konstituiert, diesen auszugleichen. So imaginieren die Zuschauer_innen mit dem Blick Bernhards, der sich hinter der Tür befindet und daher in der Lage ist, das entstandene Begehren zu befriedigen, das Objekt seines Blickes. Da die Zuschauer_innen dabei auf die Tür blicken, wird diese zur Projektionsfläche ihrer Imaginationen „lebensunwerten Lebens“.

Regisseur Wolfgang Liebeneiner gab während des Nürnberger Ärzteprozesses 1946/47, bei dem mit Karl Brandt und Viktor Brack auch zwei der Hauptorganisatoren der Aktion T4 zum Tode verurteilt wurden, als Zeuge zu Protokoll, dass Brack ihm vorgeschlagen habe, an dieser Stelle dokumentarische Aufnahmen von „zutiefst erschütternden mißgeborenen [sic] Kindern“ hineinzuschneiden. Liebeneiner habe entgegnet, dass dadurch der „Stil des Kunstwerks“[39] durchbrochen würde, und konnte sich mit diesem Argument offenbar durchsetzen. Auch wenn Liebeneiner dies in der Absicht aussagte, sich selbst zu verteidigen, indem er sich als Filmkünstler inszenierte, der sich gegen den Einfluss Bracks zur Wehr setzte, so scheint diese Episode doch zu bestätigen, worauf die vorgetragene Darstellung des Produktionsprozesses abzielte. Die Expert_innen der Filmbranche sorgten für eine kontinuierliche Übersetzung der Propagandaintentionen der T4-Akteure in die Darstellungslogiken populärer Spielfilme und auf diese Weise für eine subtile und zurückgenommene Inszenierung „lebensunwerten Lebens“. Dabei konnte zwar auf explizite Bilder von „zutiefst erschütternden mißgeborenen [sic] Kindern“ verzichtet werden, nicht jedoch auf eine spezifische Form der Blickführung. Diese bediente sich zugleich indirekt der von Brack vorgeschlagenen Bilder, denn diese zirkulierten 1941 bereits in großem Umfang in der visuellen Kultur des Nationalsozialismus und konnten daher die Phantasie des Publikums in dieser Szene anregen.[40] Doch um die visuelle Leerstelle wirklich zu vernähen, den Mangel an Sichtbarkeit zu beheben, bedurften die Zuschauer_innen des Gegenschusses auf Bernhards Blick. Sein Gesichtsausdruck muss ihre Imaginationen des ‚Monströsen‘ bestätigen, damit sie wieder Kohärenz herstellen können.

Diese Konstellation hat einen weiteren Effekt. Die feministische Filmwissenschaftlerin Laura Mulvey hat zwei Formen der Schaulust unterschieden, durch die sich die Richtung des Einnähens des Blicks der Zuschauer_innen in die intradiegetischen Blicke der Figuren und damit deren Positionierung genauer bestimmen lässt.[41] Einerseits können sich Zuschauer_innen in Figuren in idealisierter Form wiedererkennen und sich so mit ihnen identifizieren. Andererseits können die Blicke der Zuschauer_innen Figuren formieren, objektivieren, kontrollieren und imaginär von ihnen Besitz ergreifen. Die beschriebene Blickinszenierung zielt darauf ab, es dem Publikum unmöglich zu machen, sich mit Trude zu identifizieren, da es sie niemals sieht, nie sieht, wie sie zurückblickt. Der Film verweigert Trude die agency des aktiven Blickens, spricht ihr so eine eigene Perspektive auf die Welt (des Films) und damit symbolisch ein eigenes rationales Bewusstsein ab. Zugleich sieht die Blickinszenierung eine Identifizierung mit Bernhard vor, wodurch und indem sich die Zuschauer_innen seinen objektivierenden ärztlich-klinischen Blick auf Trude zu eigen machen.

Die Vernähung in das Blickregime dieser Szene erfolgt also maßgeblich über den Blick eines befähigten männlichen Arztes auf ein Mädchen mit geistiger Behinderung. Die Bedeutung der Vergeschlechtlichung des Blicks wird auf Dialogebene zudem expliziert, als sich beide Männer über die Perspektive der Krankenschwester auf Trude unterhalten. Der Anstaltsleiter argumentiert, dass diese – im Unterschied zu Bernhard – den Anblick von Trude nur deshalb immer wieder ertragen könne, da sie eine Frau sei.[42] Der weibliche Blick auf das Mädchen ist Gegenstand eines Gesprächs unter Männern, aber gerät nicht selbst ins Blickfeld der Kamera und kann so auch keine Möglichkeit der Identifikation herstellen. Der Blick der Kamera sowie die Blicke und Bewegungen der Figuren produzieren also ein Machtverhältnis, das simultan durch die Kategorien Geschlecht und dis/ability strukturiert wird. Die Verfahren des Continuity-Systems zielen darauf ab, den Kamerablick so erscheinen zu lassen, als würde er neutral und natürlich dem Geschehen folgen. Nur so kann er unsichtbar gemacht und die Vernähung des Publikums in den Film sichergestellt werden. Doch folgen nicht nur die Blicke und Bewegungen der Figuren den machtvollen Logiken der Kategorien dis/ability und Geschlecht. Auch die Perspektivierung dieser Handlungen durch die Kamera ist durch diese Logiken bestimmt. Daraus ergibt sich, dass die Erzeugung filmischer Kohärenz und die Vernähung des Publikums im Falle von Ich klage an augenscheinlich ein bestimmtes Blickregime benötigte; zugleich betrieben die Verfahren des Continuity-Systems eine Naturalisierung dieses Regimes und der damit verbundenen Subjektkonstellation.

Diese heteronormativ-patriarchale und zugleich ableistische Macht- und Blickkonstellation findet sich ebenfalls in anderen wichtigen Szenen des Films. So ist es im Verlauf der Szene in Bernhards Arztpraxis sein diagnostischer Blick, der Hanna für die Zuschauer_innen als krankes Subjekt konstituiert.[43] Sie selbst bleibt von diesem Blick und dem damit verbundenen Wissen ausgeschlossen. Dabei verfolgt der Film eine doppelte Strategie. In drei Einstellungen – davon zweimal in Großaufnahme – präsentiert die Kamera dem Publikum Bernhards bestürzten und damit vielsagenden Gesichtsausdruck. Einerseits wird dieser Blick durch die Kameraführung vor Hanna verborgen, denn in einer Einstellung befindet sie sich hinter Bernhard, in einer anderen schaut sie an ihm vorbei. Doch während der Augenspiegelung andererseits, der ersten und längsten Einstellung auf Bernhards erkennenden und schockierten Blick, sitzen sich beide gegenüber und Hanna schaut Bernhard direkt an. Sie hat also die Möglichkeit, seinen Blick zu deuten, doch sie übersieht oder verkennt ihn. Lustvoll ironisiert sie Bernhards visuelle Diagnose noch als „Blick in den Abgrund“ und fragt, ob er denn „etwas Schönes“ gesehen habe. Hanna denkt, sie sei endlich schwanger, und erklärt sich damit ihre körperlichen Ausfallerscheinungen. Mit dieser verfehlten Selbstwahrnehmung – so die Inszenierung des Films – geht ihre Unfähigkeit einher, Bernhards Gesichtsausdruck als Hinweis auf eine Erkrankung zu deuten. Demnach verschränkt der Film die Unfähigkeit zum erkennenden Blick mit einer dysfunktionalen bürgerlichen Weiblichkeit. Hanna zeigt zwar jene Begehrensstrukturen, die dieser Norm entsprechen, doch verfügt sie nicht über die Befähigung, diese auch zu verwirklichen. Mit ihrem starken Wunsch, endlich Mutter zu werden, strebt Hanna danach, sich als ein dieser Ordnung entsprechendes Subjekt zu konstituieren. Doch genauso wie sie bei diesem Vorhaben scheitert, scheitert sie auch dabei, Bernhards Blick richtig zu lesen. Das Publikum jedoch wird durch die Kameraführung dazu befähigt und aufgefordert, genau dies zu tun. Erneut lädt die Kamera- und Blickführung die Zuschauer_innen dazu ein, sich Bernhards Blick zu eigen zu machen. Anstatt sich primär mit Hanna und ihrer verfehlten Freude zu identifizieren, sieht der Film vor, sie mit Bernhards Augen schockiert und bedauernd anzuschauen. Dabei verstärkt das Erkennen von Hannas lustvollem Verkennen letztlich die signifizierende Macht von Bernhards Blick. Gerade dieser Kontrast verleiht der Szene ihre besondere Tragik.

Später beschließen Bernhard, Thomas und der hinzugerufene Experte Professor Werther in paternalistischem Gestus, Hanna den Zugang zum Wissen über ihre Krankheit auch weiterhin zu verweigern – eine Form der filmischen Informationsverteilung, die ebenfalls eine Identifikation mit den männlichen Ärzten und ihrem Blick auf Hanna begünstigt.[44] Angesichts dieser Situation versucht sie, den erkennenden und signifizierenden Blick des Arztes auf sich nachzuahmen.[45] Zunächst blickt Hanna in einen großen Kommodenspiegel, dann in einen Handspiegel, um zu sehen, was Bernhard sah. Sie sucht nach (Selbst-)Erkenntnis im Medium des auf sie gerichteten Blicks des männlichen Arztes. Da in dieser Szene lediglich Hanna zu sehen ist und zugleich die Blicke einer anderen Figur nur imaginär präsent sind, lädt der Film zu einer Identifizierung mit Hanna ein. Doch ist es eine Form der Identifikation, die eine Verinnerlichung fremder und zwar ärztlich-klinischer Blicke auf das Selbst einschließt.

Die Asymmetrie eines Blickregimes wurde von der feministischen Filmwissenschaft nicht nur anhand einer Analyse der zwei unterschiedlichen Formen der Schaulust rekonstruiert, sondern auch anhand der ungleichen Beweglichkeit der Figuren und dem damit verbundenen Verhältnis zur Kamera.[46] Dieser Zusammenhang zeigt sich in der bereits beschriebenen Szene, in der Bernhard Hanna ihre Medizin verabreicht. Hier findet sich nicht nur eine Asymmetrie aufgrund der vertikalen Blickachse – Bernhard setzt sich nie hin und blickt daher stets auf Hanna herab –, es ist zudem erneut Bernhards Körper, der als Träger des Kamerablicks fungiert. Erst als er sich bewegt, kann die Kamera auch Hanna erblicken. Erst diese Bewegung lässt die erste Einstellung der Szene wirklich zu einem establishing shot werden. Erst durch seine Bewegung wird der Weg frei für den konventionellen Fluss der nun näher an die Figuren heranrückenden Einstellungen. Und nicht zuletzt ist es Bernhard, der die Kamera zu einer leichten Neigungsbewegung zwingt, als er zu Hanna tritt. Es ist also ein männlicher Körper, welcher der Kamera ihre Bewegungen vorgibt und den Rhythmus der Montage bestimmt. Und es ist der Körper der kranken Frau, der das starre Bezugsobjekt der aktiven Bewegungen des männlichen Arztes durch den Raum darstellt.

Doch wurde Hannas Körper erst im Verlauf des Films mit den fortschreitenden Symptomen der Multiplen Sklerose stillgestellt und kontrastiert mit ihren dynamischen Bewegungen zu Beginn des Filmes. Direkt in seiner ersten Sequenz inszeniert der Film Hanna als ein Subjekt, das mit einem gesunden und sehr gut funktionierenden Körper ausgestattet ist.[47] Sie geht zum Gartentor des von ihr, Thomas und der Haushälterin Berta bewohnten Hauses, um die Post entgegenzunehmen. Nachdem sie erkannt hat, dass der Brief von der Universität München stammt und daher wahrscheinlich das Berufungsschreiben für Thomas enthält, rennt Hanna wieder in Richtung Haustüre, um mit Berta den Brief zu öffnen. Nach einem kurzen Gegenschuss auf den Postboten läuft Hanna aus dem Bildausschnitt heraus ins Off und wird von der Kamera im Flur des Hauses empfangen. In der folgenden Einstellung, die fast vierzig Sekunden lang ist, hat die Kamera einen festen Standpunkt. Hannas Körper bewegt sich in drei Achsen dynamisch durchs Bild: nach links und die Treppe hoch zu Berta, nach rechts zur Haustür und schließlich von der Kamera weg ins Wohnzimmer. Dabei wird sie von der Kamera in schnellen Schwenk- und Neigungsbewegungen verfolgt. Ihre Bewegungen sind dermaßen dynamisch, dass die Kamera sie zweimal teilweise und einmal komplett aus dem Blick verliert. In dieser Szene ist es eine gesunde Frau, die der Kamera ihre Bewegungen vorgibt und so zur Trägerin des Blickes der Zuschauer_innen werden kann.

Diese Befähigung und die damit verbundene agency der gesunden Hanna hegt der Film jedoch zugleich in grundsätzlicher Weise ein, indem er ihren Bewegungsradius symbolisch am Gartenzaun enden lässt.[48] Hanna ist entsprechend der herrschenden bürgerlich-patriarchalen Geschlechterordnung auf den häuslichen Raum mitsamt der dazugehörenden Hausarbeit und Mutterschaft festgelegt. Doch innerhalb dieses Raumes stellt Hanna auch im direkten Verhältnis zu den beiden Männern und Ärzten zunächst die maßgebliche Figur dar. In der Hausmusikszene auf der Berufungsfeier spielt Hanna Klavier, und es sind wiederholt ihre Blicke, die Thomas und Bernhard den Moment ihres Einsatzes signalisieren.[49] Doch lässt der Film genau dieses Blickregime jäh zusammenbrechen, als die Dysfunktion der linken Hand Hannas Spiel beendet. Direkt im Anschluss kehrt sich die Blickformation um. Nun stellen die dysfunktionale Hanna und ihre Hand die Objekte der begutachtenden Blicke der Ärzte dar.

Die vorgetragene Filmanalyse hat gezeigt, dass Ich klage an das Werden eines „lebensunwerten“ Subjekts auch über die formale Anordnung der Blicke inszeniert. Der aktive, machtvolle und signifizierende Blick symbolisiert das befähigte „lebenswerte“ Subjekt. Hannas sukzessiver Verlust ihrer ability, ihrer Gesundheit geht mit einer Verschiebung ihrer Position im Blickregime des Films einher. Sie wird zunehmend zum stillgestellten Objekt des dreifachen Blicks von Ärzten, Kamera und Publikum. Die nicht sichtbare Trude repräsentiert den Fluchtpunkt dieser Entwicklung. Die geschlechtliche Verteilung der Rollen belegt eine spezifische Ausrichtung des klinischen Blicks, der ‚Behinderung‘ zuallererst hervorbringt, zur Zeit der Aktion T4. Während Befähigung insbesondere mit einer hegemonialen Form von Männlichkeit verbunden war, artikulierte sich der Verlust von ability in erster Linie über eine dysfunktionale bürgerliche Weiblichkeit. In einem populären Spielfilm, der nur noch die grundlegenden Imaginationen „lebensunwerten Lebens“ ins Bild setzte, konnte demnach allein eine weibliche Figur diese Subjektform verkörpern. Die analysierten Szenen zeigen, wie sehr dis/ability und Geschlecht sich gegenseitig hervorbrachten. Es handelte sich also weniger um zwei distinkte Differenzkategorien, die sich an ihren Kreuzungspunkten gegenseitig verstärkten. Vielmehr bedingten sie sich gegenseitig und drückten sich übereinander aus.[50]

Daraus kann sich eine Neuperspektivierung der institutionellen Praxis des T4-Selektionsprozesses ergeben. Geschlecht sollte weniger als Leitdifferenz innerhalb der einzelnen Selektionskriterien in den Blick geraten. Vielmehr gilt es, Geschlecht als eine Kategorie zu perspektiveren, die sich mit den in den Kriterien zum Vorschein kommenden Formen der dis/ability in einem komplexen und wirkmächtigen gegenseitigen Konstitutionsverhältnis befand. Im Hinblick auf einen solchen Zugang ist es äußerst fruchtbar, Diskursivierungen und Imaginationen „lebensunwerten Lebens“ enger zusammenzudenken. Die sozialgeschichtlichen Forschungen zu den Akteur_innen und zum organisatorischen Ablauf der Selektion sowie die diskursgeschichtlichen Forschungen zum Konzept „lebensunwerten Lebens“ sollten stärker mit Forschungen zur visuellen Kultur der „Euthanasie“ zusammengeführt werden. Die Gutachter trafen ihre Selektionsentscheidung auf der Grundlage der diskursiven Beschreibungen der Patient_innen in den Meldebögen, sie nahmen sie nicht selbst in Augenschein. Nichtdestotrotz visualisierten, ja imaginierten sie die von ihnen begutachteten Subjekte. Die Art und Weise, wie dies vonstattengehen konnte, versuchte dieser Beitrag anhand einer Analyse des Blickregimes von Ich klage an zu skizzieren. Doch gilt es weiter zu erforschen, welche Bilder und Blickkonstellationen, in denen sich Gutachter und Anstaltspersonal selbst als Subjekte verorteten, der Imagination zur Verfügung standen – und welche nicht. Und es gilt zu fragen, wie diese Dimension die Entscheidung über Leben und Tod beeinflusste.



[1] Essay zur Quelle: Filmstills aus „Ich klage an“ (1941).

[2] Für einen Forschungsüberblick vgl. Schmuhl, Hans-Walter, „Euthanasie“ und Krankenmord, in: Jütte, Robert et al. (Hgg.), Medizin im Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2011, S. 214–255; als einschlägige sowie neueste Literatur sei genannt: Hohendorf, Gerrit, Der Tod als Erlösung vom Leiden. Geschichte und Ethik der Sterbehilfe seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland, Göttingen 2013; Rotzoll, Maike et al. (Hgg.), Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Aktion „T4“ und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn 2010; Süß, Winfried, Der Volkskörper im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939–1945 (Studien zur Zeitgeschichte; 65), München u.a. 2003; Burleigh, Michael, Tod und Erlösung. Euthanasie in Deutschland 1900–1945, Zürich u.a. 2002 [1995]; Friedlander, Henry, Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997 [1995].

[3] Für die Selektion waren jeweils drei Gutachter verantwortlich. Ihre Entscheidung trafen sie auf der Grundlage eines einseitigen Fragebogens. Dieser „Meldebogen“ wurde bezugnehmend auf die Krankenakte vom Personal in den psychiatrischen Anstalten ausgefüllt und in die Organisationszentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4 – daher der Name T4 – geschickt; vgl. Lilienthal, Georg, Wie die T4-Aktion organisiert wurde. Zur Bürokratie eines Massenmordes, in: Hamm, Margret (Hg.), Lebensunwert – zerstörte Leben. Zwangssterilisationen und „Euthanasie“, Frankfurt am Main 2005, S. 143–157; Harms, Ingo, Die Meldebogen und ihre Gutachter, in: Rotzoll, „Euthanasie“, S. 259–271.

[4] Vgl. die zu diesem Essay mit abgedruckte Quelle, die Filmstills aus „Ich klage an“, Deutschland 1941, Regie: Wolfgang Liebeneiner (117‘). Die digitale Fassung des Films ist einsehbar auf der Webseite archive.org, URL: <https://archive.org/details/IchKlageAn1941_839> (04.07.2017).

[5] Vgl. zum Ansatz der Subjektanalyse Reckwitz, Andreas, Subjekt, Bielefeld 32012; Wiede, Wiebke, Subjekt und Subjektivierung, in: Docupedia-Zeitgeschichte. Begriffe, Methoden und Debatten der zeithistorischen Forschung, URL: <https://docupedia.de/zg/Subjekt_und_Subjektivierung> (04.07.2017); Hayward, Susan, subject/subjectivity, in: dies, Cinema Studies – The Key Concepts (Routledge Key Guides), London u.a. 22000, S. 375–377.

[6] Vgl. Rost, Karl Ludwig: Sterilisation und Euthanasie im Film des „Dritten Reiches“. Nationalsozialistische Propaganda in ihrer Beziehung zu rassenhygienischen Maßnahmen des NS-Staates, Husum 1987, S. 85–218; Roth, Karl Heinz, Filmpropaganda für die Vernichtung der Geisteskranken und Behinderten im „Dritten Reich“, in: Aly, Götz et al. (Hgg.), Reform und Gewissen. „Euthanasie“ im Dienst des Fortschritts (Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik; 2), Berlin 1985, S. 125–193.

[7] Dieser Perspektive folgte ebenfalls Sybille Hachmeisters Dissertation von 1992. Ihre Analyse des Films stellte insofern eine wichtige Erweiterung der bisherigen Forschungen dar, als sie die propagandistische Instrumentalisierung von „Ich klage an“ auf der Grundlage einer detaillierten Rekonstruktion der rhetorischen Argumentationsverfahren des Films nachwies. Auf diese Weise bediente sie sich jedoch eines am Medium der Sprache entwickelten Ansatzes, was dazu führte, dass sie sich vor allem mit der Dialogebene auseinandersetzte und andere, medienspezifische Verfahren der Sinnproduktion kaum in den Blick gerieten; vgl. Hachmeister, Sybille, Kinopropaganda gegen Kranke – Die Instrumentalisierung des Spielfilms ‚Ich klage an’ für das nationalsozialistische „Euthanasieprogramm“ (Nomos Universitätsschriften: Kulturwissenschaften; 2), Baden-Baden 1992, insbes. S. 121–201.

[8] Ferro, Marc, Der Film als „Gegenanalyse“ der Gesellschaft, in: Bloch, Marc et al. (Hgg.), Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, Frankfurt a. M. 1977 [1976], S. 247–271, hier S. 254.

[9] Vgl. von Keitz, Ursula, Vom weiblichen Crimen zur kranken Frau. Narration und Argumentation zu „Abtreibung“ und „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ im Film der Weimarer Republik und der NS-Zeit, in: Linder, Joachim; Ort, Claus-Michael (Hgg.), Verbrechen – Justiz – Medien. Konstellationen in Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; 70), Tübingen 1999, S. 357–386, insbes. S. 374–381. Als weitere anregende geschlechtergeschichtliche Lektüre des Films vgl.: Traudisch, Dora, Mutterschaft mit Zuckerguß? Frauenfeindliche Propaganda im NS-Spielfilm (Frauen in Geschichte und Gesellschaft; 23), Pfaffenweiler 1993, S. 101–131.

[10] An von Keitz‘ Perspektive einer Analyse der narrativen Verfahren – insbesondere der Funktion narrativer Räume für die Figurenentwicklung – schloss ich an anderer Stelle an. Dabei habe ich unter anderem herausgearbeitet, wie sich in die Figur Hanna eugenische Konzepte von „minderwertigem Erbgut“ eingeschrieben haben, die eine wichtige Grundlage darstellten für die Vorstellung von „lebensunwertem Leben“; vgl. Offermann, Stefan, Die biopolitische Produktion „lebensunwerter” Subjekte im Rahmen der „Aktion T4“. Eine Re-Lektüre von Ich klage an, in: Sudhoffs Archiv – Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte 97 (2013), H. 1, S. 57–80.

[11] In diesem Zusammenhang ebenfalls lesenswert ist die kurze Analyse des Filmwissenschaftlers Karsten Witte; vgl. Witte, Karsten, Die Wirkgewalt der Bilder – Zum Beispiel Wolfgang Liebeneiner, in: Filme – Neues und Altes vom Kino 8 (1981), S. 24–32.

[12] Vgl. zu den Filmplänen von T4 und zur Entstehungsgeschichte von „Ich klage an“ Rost, Euthanasie im Film, S. 121–190; Roth, Filmpropaganda, S. 129–166.

[13] Kracauer, Siegfried, Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films, Frankfurt a. M. 1979 [1947], S. 11.

[14] Vgl. Kuchler, Christian, Bischöflicher Protest gegen nationalsozialistische „Euthanasie“-Propaganda im Kino: „Ich klage an“, in: Historisches Jahrbuch 126 (2006), S. 269–294.

[15] Die momentan detaillierteste und überzeugendste Rekonstruktion des Entscheidungsprozesses findet sich bei Süß, Volkskörper im Krieg, S. 127–150

[16] Darüber hinaus zielte das von der DFG geförderte und an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg angesiedelte Projekt auf eine weitere Differenzierung der zeitlichen, räumlichen und bürokratischen Abläufe der Aktion T4 sowie auf eine Stärkung der Patient_innenperspektive durch die Rekonstruktion einer Kollektivbiografie und die Erstellung individueller Kurzbiografien. Die perspektivische Akzentuierung und Stärkung der agency der Opfer stellt meines Erachtens nicht nur eine fruchtbare Erweiterung der bisherigen Forschungen dar, sondern bedeutet auch eine äußerst wichtige Intervention in aktuelle, immer noch stark ableistische Repräsentationen von Menschen mit psychischer Erkrankung oder geistiger Behinderung; vgl. Rotzoll, Maike; Hohendorf, Gerrit; Fuchs, Petra, Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Aktion T4 und ihre Opfer. Von den historischen Bedingungen bis zu den Konsequenzen für die Ethik in der Gegenwart. Eine Einführung, in: Rotzoll, „Euthanasie“, S. 13–22, hier S. 17f.

[17] Statistische Methoden zielen auf den Nachweis von Wahrscheinlichkeiten. Ein Zusammenhang zwischen zwei Variablen ist dann signifikant, wenn die Irrtumswahrscheinlichkeit, dass es sich um einen zufälligen Zusammenhang handelt, unter fünf Prozent liegt.

[18] Vgl. zur Überlieferungsgeschichte Sander, Peter, Schlüsseldokumente zur Überlieferungsgeschichte der NS-„Euthanasie“-Akten gefunden, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 51 (2003), S. 285–290.

[19] Vgl. zu den Ergebnissen Hohendorf, Gerrit, Die Selektion der Opfer zwischen rassenhygienischer „Ausmerze“, ökonomischer Brauchbarkeit und medizinischem Erlösungsideal, in: Rotzoll, „Euthanasie“, S. 310–324; Rauh, Philipp, Medizinische Selektionskriterien versus ökonomisch-utilitaristische Verwaltungsinteressen. Ergebnisse der Meldebogenauswertung, in: Rotzoll, „Euthanasie“, S. 297–309; Rotzoll, Maike, Wahnsinn und Kalkül. Einige kollektivbiographische Charakteristika erwachsener Opfer der „Aktion T4“, in: dies., „Euthanasie“, S. 272–286; Rotzoll, Maike et al., Frauenbild und Frauenschicksal. Weiblichkeit im Spiegel psychiatrischer Krankengeschichten zwischen 1900 und 1940, in: Brand-Claussen, Bettina; Michely, Viola (Hgg.), Irre ist weiblich. Künstlerische Interventionen von Frauen in der Psychiatrie um 1900, Heidelberg 2004, S. 45–52.

[20] Vgl. Meier, Marietta; Bernet, Brigitta, Grenzen der Selbstgestaltung. Zur „Produktion“ der Kategorie Geschlecht in der psychiatrischen Anstalt, in: Brand-Claussen; Michely, Irre ist weiblich, S. 37–44.

[21] Der Historiker Philipp Sarasin verwendet Jaques Lacans Konzept des Realen, wenn er argumentiert, dass sich körperliche (und psychische) Erfahrungen – und damit auch Krankheiten und Behinderungen – nicht vollständig in Diskursen und Repräsentationen auflösen lassen; Sarasin, Philipp, „Mapping the body“. Körpergeschichte zwischen Konstruktivismus, Politik und „Erfahrung“, in: ders., Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a. M. 2003, S. 100–121, insbes. S. 114–121.

[22] Die Disability Studies perspektivieren ‚Behinderung‘ (als umfassenden Begriff, der auch psychische Erkrankungen einschließt) nicht als zu bearbeitendes Problem oder Krankheit im medizinischen Sinne, sondern als konstruierte Abweichung von einer machtvollen soziokulturellen Norm. Die Critical Ability Studies gehen einen Schritt weiter und untersuchen die grundsätzliche Bedeutung von ability/Befähigung für Selbst- und Fremdverhältnisse sowie für die Ordnung moderner Gesellschaften; vgl. Mackert, Nina, „I want to be a fat man / and with the fat men stand“. U.S.-amerikanische Fat Men’s Clubs und die Bedeutungen von Körperfett in den Dekaden um 1900“, in: Body Politics – Zeitschrift für Körpergeschichte 2 (2014), H. 3, S. 215–243; McRuer, Robert, Compulsory Able-Bodiedness and Queer/Disabled Existence, in: Garland-Thompson, Rosemarie (Hg.), Disability Studies. Enabling the Humanities, New York 2002, S. 88–99.

[23] Vgl. zur theoretischen Fundierung des Intersektionalitätsansatzes in den Disability Studies Raab, Heike, Intersektionalität in den Disability Studies. Zur Interdependenz von Disability, Heteronormativität und Gender, in: Schneider, Werner; Waldschmidt, Anne (Hgg.), Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld (Disability Studies; 1), Bielefeld 2007, S. 127–148.

[24] Waldschmidt, Anne, Macht – Wissen – Körper. Anschlüsse an Michel Foucault in den Disability Studies, in: dies.; Schneider, Disability Studies, S. 55–77, hier S. 64. Die Verknüpfung von Disability Studies einerseits und Visual Studies, Medien- und Filmgeschichte andererseits ist in der deutschsprachigen Forschung noch weniger ausgeprägt als im angloamerikanischen Kontext; vgl. Ochsner, Beate; Grebe, Anna (Hgg.), Andere Bilder. Zur Produktion von Behinderung in der visuellen Kultur (Disability Studies; 8), Bielefeld 2013; Garland-Thomson, Rosemarie, Extraordinary Bodies. Figuring Physical Disability in American Culture and Liturature, New York 1997.

[25] Vgl. Elsaesser, Thomas; Hagener, Malte, Filmtheorie zur Einführung, Hamburg 2007, S. 118.

[26] Vgl. zum Continuity-System Bordwell, David; Thompson, Kristin, Film Art. An Introduction, New York 82008, S. 231-251.

[27] Timecode (TC) 0:46:08–0:48:20; vgl. Quelle, Szene 1: Bernhard behandelt Hanna.

[28] Vgl. Hayward, Suture, in: dies, Cinema Studies, S. 378–385; Silverman, Kaja, The Subject of Semiotics, Oxford 1983, S. 194–236; Winkler, Hartmut, Der filmische Raum und der Zuschauer. ‚Apparatus‘ – Semantik – ‚Ideology‘ (Reihe Siegen, Beiträge zur Literatur-, Sprach- und Medienwissenschaft; 110), Heidelberg 1992, S. 54–62.

[29] Dayan, Daniel, The Tutor-Code of Classical Cinema, in: Nichols, Bill (Hg.), Movies and Methods. Bd. I, Berkley u.a. 1976, S. 438–451, hier S. 451.

[30] Vgl. Anm. 27 sowie Koch, Getrud, Was ich erbeute, sind Bilder. Zum Diskurs der Geschlechter im Film, Basel u.a. 1989, S. 15–21.

[31] Damit war „Ich klage an“ einer der meistgesehenen Filme des Nationalsozialismus; vgl. Kuchler, Bischöflicher Protest, S. 276.

[32] Filmkritiken sind unter den diktatorischen Herrschaftsbedingungen des Nationalsozialismus von sehr begrenzter Aussagekraft, da das Propagandaministerium dem Wortlaut sehr klare und enge Grenzen gesetzt hatte. Darüber hinaus existieren Berichte über Publikumsreaktionen des Sicherheitsdienstes der SS sowie der NSDAP-Gaustellen. Des Weiteren sind katholische Predigten und Hirtenbriefe sowie interne Dokumente erhalten, die zeigen, dass die katholische Kirche nicht nur gegen die Tötungen Widerstand leistete, sondern auch gegen „Ich klage an“. Insgesamt belegen die Quellen, dass die propagandistische Absicht erkannt wurde. Tendenziell konstatieren die Berichte, dass die Haltung des Films – außer in stark katholisch geprägten Gegenden – hinnehmende bis zustimmende Reaktionen hervorrief. Die ablehnenden Reaktionen in katholischen Gegenden und Milieus werden in der Forschung auch auf die kontinuierlichen Warnungen der Gläubigen durch katholische Geistliche vor der suggestiven Kraft des Films zurückgeführt; vgl. Kuchler, Bischöflicher Protest, S. 276–278 und 282-294; Rost, Euthanasie im Film, S. 208–219; Roth, Filmpropaganda, S. 167–170.

[33] So war der Sicherheitsdienst der SS selbst tief in die Aktion T4 verstrickt. Die Darstellungen der Publikumsreaktionen, in denen eine Zustimmung zur staatlichen „Euthanasie“ oft an bestimmte Bedingungen hinsichtlich der konkreten Durchführung geknüpft war, lassen sich daher auch als eigene, mit dem Publikumswillen legitimierbare Forderungen lesen; vgl. Roth, Filmpropaganda, S. 169f.; weniger zurückhaltend: Rost, Euthanasie im Film, S. 211.

[34] TC 1:37:24–1:39:50; vgl. Quelle, Szene 2: Bernhard bei Trude in der Anstalt.

[35] TC 0:54:12–0:54:15; so bezeichnet sich Bernhard, als Hanna ihren Wunsch nach Sterbehilfe äußert.

[36] TC 0:58:13–0:58:17.

[37] TC 1:36:19–1:36:25.

[38] Vgl. Roelcke, Volker, Sterbebegleitung – Leidminderung – Tötung. Zur Entwicklung des Begriffs der Euthanasie, ca. 1880 bis 1939, in: Kumbier, Ekkehardt; Teipel, Stefan J.; Herpertz, Sabine C. (Hgg.), Ethik und Erinnerung. Zur Verantwortung der Psychiatrie in der Vergangenheit und der Gegenwart, Lengerich 2009, S. 15–28.

[39] Liebeneiner, Wolfgang, Eidesstaatliche Versicherung vom 28.4.1947, Nürnberger Ärzteprozess, Nachtrag III, Brack Dokument Nr. 46, zit. nach: Roth, Filmpropaganda, S. 165.

[40] Dieses ‚Angebot‘ hatten vor allem die Sterilisationspropagandafilme geschaffen; vgl. Rost, Euthanasie im Film, S. 59-84; Roth, Filmpropaganda, S. 129–132.

[41] Vgl. Mulvey, Laura, Visuelle Lust und narratives Kino [1973], in: Albersmeier, Franz-Josef, Texte zur Theorie des Films, Stuttgart 52003, S. 389–408, hier S. 393–396; Mulvey wurde von anderen feministischen Filmwissenschaftler_innen u.a. dafür kritisiert, dass sie die Macht des „männlichen Blicks“, den weiblichen Körper auf der Leinwand zu signifizieren und zu objektivieren, verabsolutiere und zugleich die Möglichkeiten – auch subversiver – weiblicher Schaulust und Identifikation unterschätze; vgl. zur Diskussion im Anschluss an Mulvey de Lauretis, Teresa, Ödipus interruptus, in: Frauen und Film, 48 (1990), S. 5–29.

[42] TC 1:39:28–1:39:38; Bernhard: „Sagen Sie! Wie hält die Schwester das aus?“ – Anstaltsleiter: „Die Schwester? Tja. Sehen Sie, das ist eben eine Frau. Die liebt alles, was hilflos ist.“

[43] TC 0:24:57–0:30:47; vgl. Quelle, Szene 3: Bernhard untersucht Hanna und diagnostiziert Multiple Sklerose.

[44] TC 0:37:20–0:37:50.

[45] TC 0:35:34–0:36:13; vgl. Quelle, Szene 4: Hannas Blick in den Spiegel.

[46] Vgl. Mulvey, Visuelle Lust, S. 397–399; Perinelli, Massimo, Fluchtlinien des Neorealismus. Der organlose Körper der italienischen Nachkriegszeit 1943–1949 (Histoire; 6), Bielefeld 2009, S. 98–103.

[47] TC 0:01:50–0:02:52; vgl. Quelle, Szene 5: Hannas befähigter Körper.

[48] Vgl. von Keitz, Vom weiblichen Crimen, S. 378.

[49] TC 0:16:52–0:20:20; vgl. Quelle, Szene 6: Hausmusik auf der Berufungsfeier.

[50] Für ein solches Verständnis von Intersektionalität vgl. Bell, Vikki, On Speech, Race and Melancholia. An Interview with Judith Butler, in: Theory, Culture & Society 16 (1999), H. 2, S. 163–174, hier S. 167f.; Raab, Heike, Intersektionalität und Behinderung. Perspektiven der Disability Studies, in: portal-intersektionalität, URL: <http://portal-intersektionalitaet.de/theoriebildung/schluesseltexte/raab/> (04.07.2017).Vgl. zudem die aktuelle und programmatische Re-Lektüre eines der Gründungstexte einer intersektionalen Analyseperspektive Mackert, Nina, Kimberlé Crenshaw: Mapping the Margins (1991) Oder: Die umkämpfte Kreuzung, in: Stieglitz, Olaf; Martschukat, Jürgen (Hgg.), race & sex: Eine Geschichte der Neuzeit – 49 Schlüsseltexte aus vier Jahrhunderten neu gelesen, Berlin 2016, S. 50–55.



Literaturhinweise

  • Creed, Barbara, Film and psychoanalysis, in: Hill, John; Church Gibson, Pamela (Hgg.), The Oxford Guide to Film Studies, Oxford 2002, S. 77–90.
  • Roth, Karl Heinz, Filmpropaganda für die Vernichtung der Geisteskranken und Behinderten im „Dritten Reich“, in: Aly, Götz u.a. (Hgg.), Reform und Gewissen. „Euthanasie“ im Dienst des Fortschritts (Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik; 2), Berlin 1985, S. 125–193.
  • Rotzoll, Maike u.a. (Hgg.), Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Aktion „T4“ und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn 2010.
  • von Keitz, Ursula, Vom weiblichen Crimen zur kranken Frau. Narration und Argumentation zu „Abtreibung“ und „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ im Film der Weimarer Republik und der NS-Zeit, in: Linder, Joachim; Ort, Claus-Michael (Hgg.), Verbrechen – Justiz – Medien. Konstellationen in Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; 70), Tübingen 1999, S. 357–386.