Mit dem roten Keil schlage die Weißen. El Lissitzkys Propagandaplakat aus dem Russischen Bürgerkrieg von 1919/1920 und der Kampf um die Tragweite der kommunistischen Revolution[1]
Von Gabriel Montua
Ein roter Keil penetriert von links oben einen weißen Kreis. Seine Spitze hat den Mittelpunkt des Kreises bereits erreicht. Dies ist die Hauptaussage des Propagandaplakates, das der russische Avantgardekünstler El (kurz für Lazar) Markovic Lissitzky 1919 oder 1920 im Auftrag der Bolschewiki entwarf, als der in Petrograd und Moskau siegreiche Kommunismus besonders im Südwesten des Landes von einer anti-bolschewistischen Koalition bekämpft wurde, deren Armeen sich „die Weißen“ nannten. Im Plakat sind noch weitere grafische Elemente zu finden, etwa die diagonal und im rechten Winkel zur Mittelachse des Keils verlaufende Teilung des Hintergrundes in der Bildmitte, welche als farblicher Kontrastraum die beiden zentralen Elemente besser in Szene setzt: Der rote Keil erscheint vor weißem Hintergrund, der weiße Kreis ist von Schwarz umfasst. Eine Reihe von kleineren geometrischen Elementen, Strichen, Vierecken, langgezogenen Dreiecken als Miniaturformate des zentralen Keils scheinen sich wie Funken oder Splitter von der Stelle nach oben und nach unten zu entfernen, an welcher der große rote Keil den weißen Kreis erstmals gerammt hat. Sie sind in denselben Farben gehalten wie der Rest des Plakates, rot, weiß, schwarz und, da die Materialknappheit nicht mehr als drei Druckfarben vorsah, eine Alternierung von schwarz und weiß, welche grau suggerieren soll. Schließlich finden sich noch vier Wörter in serifenloser und dadurch modern wirkender kyrillischer Druckschrift auf dem Plakat. Oben links, als drückten sie den Keil, „Klinom krasnym“, unten rechts, als würden sie bereits aus dem angegriffenen weißen Kreis fliehen, „bey belych“: „Mit dem roten Keil schlage die Weißen“.
Die erste Bedeutungsebene ist schnell erfasst: Im russischen Bürgerkrieg hatte Leo Trotzky die bolschewistischen Truppen in eine „rote Armee“ organisiert, deren Name der seit dem 19. Jahrhundert mit Arbeiterbewegung, Sozialismus und Revolution konnotierten Farbe Rot entliehen wurde. Dieser roten Armee gegenüber stand, wie schon gesagt, die weiße Armee, eine nach der Farbe der zaristischen Offiziersuniformen benannte Koalition, deren kleinster gemeinsamer Nenner die Bekämpfung der das ganze russische Reich beanspruchenden Bolschewiki war, ganz gleich ob sie final für die Wiederherstellung des Zarentums, für eine Demokratie oder für die Unabhängigkeit ihrer eigenen Territorien von Russland eintraten. Das Plakat kann von seiner visuellen Aufmachung her auch an eine militärische Generalstabskarte erinnern.[2] Lissitzkys Plakat forderte seine Betrachter zunächst auf, sich physisch, ideologisch oder auf welche Art auch immer für den Sieg der roten Bolschewiki gegen ihre Feinde, die Weißen, einzusetzen.
Vergegenwärtigt man sich den geringen Platz, welchen Lissitzky dem in Buchstaben formulierten Appell gegenüber den grafisch durchkomponierten Elementen beigemessen hat, erscheint es umso deutlicher, dass die Botschaft dieses Plakates visuell und nicht verbal kommuniziert werden sollte. Um die weitere Kommunikationsabsicht dieses Plakates zu erfassen, sollte man sich fragen, wieso der Künstler nicht eine verbale Botschaft mit einer klar lesbaren visuellen Begleitillustration wählte, also nicht etwa schrieb: „Die rote Armee schlägt die Weißen“ und dazu ein Bild von siegreichen Rotarmisten und geschlagenen Soldaten in weißer Uniform zeigte. Der gerade erst beendete Erste Weltkrieg war, auch in Russland, begleitet gewesen von einer Fülle von Plakaten, in welchen eine verbal formulierte Aussage von gegenständlich gehaltenen Bildern begleitet wurde. Sollte der Feind diskreditiert werden, zeigte man ihn als brutales Monster, das durch charakteristische Wiedererkennungsmerkmale personifiziert wurde, im Falle der Deutschen setzte man dem marodierenden Ungetüm eine preußische Pickelhaube auf. Sollte die eigene Bevölkerung gewonnen werden, Kriegsanleihen zu zeichnen, zeigte man Kampfszenen, in welchen die heroische Pose der eigenen Soldaten die Härte der bereits errungenen und zukünftigen Siege andeutete und bei den Betrachtern einen empathischen Griff ins Portemonnaie auslösen sollte. In ihrer Gesamtheit folgten die Plakate beider Konfliktparteien aus dem russischen Bürgerkrieg diesem Schema.[3] Um also zu verstehen, warum Lissitzky die traditionelle Plakatgestaltung dermaßen veränderte und nicht nur dem visuellen Plakatgehalt, sondern sogar einem rein geometrisch gefassten Inhalt den meisten Platz einräumte, lohnt sich eine Betrachtung der politischen Haltung vieler Avantgardekünstlerinnen und -künstler in Russland und Europa um 1918. Die alten Kaiserreiche brachen zusammen, und Demokratien, häufig begleitet vom Frauenwahlrecht, verliehen dem alten Kontinent das berauschende Gefühl eines fundamentalen Neuanfangs auf den Trümmern der physischen und moralischen Verwüstung.
Die fortschrittlichen bildenden Künstlerinnen und Künstler, die aufgrund der Erprobung neuer Formensprachen seit dem 19. Jahrhundert mit einem dem Militärwesen entliehenen Terminus als Avantgarde bezeichnet wurden, befanden sich in zunehmendem Konfrontationskurs zu den bisherigen Stützen der alten Gesellschaftsordnung. Am Ende des Ersten Weltkriegs hatten sie bereits einen jahrzehntelangen Prozess der Emanzipation von den Institutionen und Normen hinter sich, welche nicht nur ästhetisch, sondern auch organisatorisch und materiell über die Art und Weise der Fertigung ihrer Werke entschieden. In den meisten europäischen Ländern wurden Kunstakademien unter den absolutistischen Monarchien gegründet oder wie in Russland von Katharina der Großen 1764 zur kaiserlichen Akademie erhoben (und 1918 von den Bolschewiki aufgelöst, bevor sie 1947 als Akademie der Künste der UdSSR neu gegründet wurde). Diese Akademien organisierten jährliche Ausstellungen, die dem Pariser Vorbild folgend häufig Salons genannt wurden, in welchen die neuesten Kunstproduktionen ausgestellt und bewertet wurden. Zwar hatten sich diese Akademien von der fürstlichen Macht entfernt und waren, wie im Frankreich der III. Republik, eine politisch vordergründig unabhängige Einrichtung. Dessen ungeachtet wogen Staatsankäufe bei Salonausstellungen als Indikator für guten Geschmack natürlich immer noch mehr als jede enthusiastische Kritik in den Zeitungen. Diese Salons waren nämlich auch eine kommerzielle Galerieschau, in welcher das betuchte Publikum ein Gemälde für das Bureau oder für das Wohnzimmer erwerben konnte. Wenn man die Neuakquisition stolz seinen Gästen präsentieren wollte, war es wichtig, was für eine Geschichte man dazu erzählen konnte. Vorsichtig war es also allemal, sich den Standards anzuschließen, die die ehrwürdigen Akademien setzten: Geschätzt wurden technische Meisterschaft in der handwerklichen Ausführung, ein Gemälde mit Zentralperspektive, realistische Farben, anatomisch plausibel und vorteilhaft geformte Menschen, ein Bild, dessen Anblick die Illusion erwecken sollte, man schaue durch den Bilderrahmen wie durch ein Fenster auf eine wirkliche Szene. Auch die Sujets waren mehr oder minder vorgeschrieben; man bevorzugte Illustrationen der antiken oder nationalen Mythologie oder Geschichte, religiöse Sujets, Porträts, Landschaftsbilder, Stillleben oder Genreszenen. Gemälde sollten die positiven Instinkte ihrer Betrachter wecken und zur Tugend inspirieren.
Seit dem 19. Jahrhundert jedoch hatten vereinzelte Künstler immer wieder auf offiziellen Ausstellungen die Besucher mit monumentalen Darstellungen von höchster Banalität oder gar von schierer Entmenschlichung konfrontiert: Théodore Géricault stellte im Salon von 1819 sein heute als Das Floß der Medusa bekanntes Bild von fünf mal sieben Metern Größe aus, das ein Floß mit Schiffbrüchigen zeigt. Schnell wurde den Betrachtern jedoch klar, dass damit der 1816 erfolgte Untergang des französischen Segelschiffes La Méduse gemeint war, bei welchem sich die Besatzung auf einem selbstgebauten Floß rettete und zum Überleben auch vor Kannibalismus nicht Halt gemacht hatte. Gustave Courbets im Salon von 1850 ausgestelltes Gemälde Ein Begräbnis in Ornans stellte auf drei mal sechseinhalb Metern die Beisetzung einer ungenannten Person in der tiefsten französischen Provinz dar. Die Pariser Weltausstellung von 1878 präsentierte die Pinturas negras, die heute im Prado aufbewahrten Fresken, die Francisco de Goya ursprünglich an die Wände seines Wohnhauses gemalt hatte und auf denen blutrünstige Gewalt und entstellte Fratzen zu sehen sind, aus denen der Wahnsinn zu brüllen scheint. Die meisten Kritiker erkannten zwar die technischen Innovationen in der Bildgestaltung, doch in ihrer Mehrzahl werteten sie solche Bildwerke als unerhörte Verschwendung von Materialien und Energie. Ein Bruch leitete sich ein zwischen Künstlern und dem gutbürgerlichen, institutionsnahen Publikum, das Kunst als Ausdruck der Größe des Menschen und des ihn umgebenden Vaterlandes wertete. Was war die Verwendung solcher Bilder? Sollten sie in einem Rathaus oder in den Repräsentationsräumen einer Privatwohnung die Gäste begrüßen? Und was sollte der Hausherr den Gästen dazu erklären? Der Impressionismus und nach ihm der Neo-Impressionismus hatten sich von der glatten, wie ein Fenster oder neuerdings wie eine Fotografie wirkenden Oberfläche des Bildes entfernt und den Farbauftrag sichtbar werden lassen, somit die Illusion eines direkten Abbildes der Realität zerstörend und die Spuren der Malerarbeit für den Betrachter erfahrbar werden lassend. Bei den Fauvisten und den Expressionisten nahmen die Gegenstände und Personen Farben an, welche ihnen die Natur nie verliehen hatte. Mit dem Futurismus und dem Kubismus kurz vor dem Ersten Weltkrieg schließlich brach auch die letzte Bindung an die jahrhundertealte Konvention. In ihren Bildern zerlegten diese Künstlerinnen und Künstler die Sujets in geometrische Formen oder in simultane Abfolgen von Bewegungen, als ob man den abgebildeten Gegenstand in Bewegung erleben würde, so dass er auf den ersten Blick kaum mehr erkennbar war. Die Kubisten hatten es zudem gewagt, mit dem Verfahren der Collage auf der Straße gefundene Alltagsgegenstände wie Zeitungsseiten oder Etiketten von Konsumprodukten in ihre Leinwände zu integrieren. Das Kunstwerk, ursprünglich dem sakralen Gebrauch in Kirchen zugeordnet, war bisher immer noch fest im Bereich der Hochkultur verortet gewesen und drohte nun buchstäblich in die Gosse gezogen zu werden.
Parallel mit dem Ersten Weltkrieg erreichte die Kunst einen neuen Höhepunkt der Entfremdung: Es entstanden Bilder, die vorsätzlich auf ein Sujet verzichteten und nur noch aus Form und Farbe bestanden. Diese neue, sujetlose Kunst entfaltete sich besonders gut in Russland, angeregt durch einen regen Austausch der russischen Künstlerinnen und Künstler mit ihren ähnlich arbeitenden Kollegen im übrigen Europa. In Moskau konnten Avantgardekünstler etwa die Privatsammlung des Industriellen Sergei Iwanowitsch Schtschukin besuchen, die bis 1914 durch Ankäufe kubistischer Werke von Pablo Picasso oder Georges Braques bereichert wurde. In diesen Werken waren die Sujets (z.B. Porträts, Stillleben) auf geometrisch-elementare Grundformen reduziert und nur noch in fragmentierter Darstellung, häufig aber auch gar nicht mehr zu erkennen. In St. Petersburg gastierte der Gründer des italienischen Futurismus, Filippo Tommaso Marinetti, 1912 mit seiner futuristischen Wanderausstellung, die viele Bilder präsentierte, in denen sich die Sujets in Geschwindigkeit und Bewegung auflösten. Diese Ausstellung trug somit zur Entstehung des sogenannten Kubofuturismus in Russland bei (die Bezeichnung suggeriert eine Mischung aus Kubismus und Futurismus). Im Winter 1915/16 nahm die Kunstwelt mit der Ausstellung 0,10 in der Petersburger Galerie Dobytschina nachhaltig Notiz vom Suprematismus, der das Supremat der Form über das Sujet postulierte. Zu den Exponaten gehörte etwa das heute weltberühmte, ausschließlich aus einem schwarzen Quadrat auf weißem Grund bestehenden Gemälde von Kasimir Malewitsch.
Diese Neuerungen in der Produktion der Kunstwerke betrafen also nicht nur den Stil, der sich immer schon gewandelt hatte und für den die im 19. Jahrhundert als universitäre Disziplin entstandene Kunstgeschichte Namen und Perioden gefunden hatte, mit der sie beispielsweise die Übergänge von der Renaissance zum Barock identifizieren konnte. Die jüngsten Innovationen hingegen betrafen die viel grundsätzlichere Art, die ich Repräsentationsweise nennen möchte und die neben der gegenständlichen, das heißt mimetischen, figurativen oder „nach der Natur“ gehaltenen Art der Malerei eine neue Form einführte, die abstrakt war und bewusst auf den Wiedererkennungswert bekannter Objekte verzichtete. Für viele Maler war die Abstraktion zwar mitnichten ein Versuch, sich von der Natur zu entfernen, sondern sich ihr besser zu nähern. Die Kubisten, Futuristen, oder die holländische Künstlerbewegung De Stijl um Piet Mondrian etwa führten den Weg weiter fort, den Paul Cézanne gewiesen hatte, als er die durch das Auge erfassten Eindrücke aus der Natur auf die ihr zugrunde liegenden elementar-geometrischen Formen reduzierte. Aber das Publikum, abgesehen von einer Minderheit, die die neue Kunst unterstützte und auch ankaufte, ignorierte die häufig komplex ausgearbeiteten Theorien, welche die neuen Bildproduktionen begleiteten, und lehnte diese Neuerungen in der Kunst en bloc als Zeugnisse der Barbarei ab. Diese Ablehnung war eine unmittelbare Reaktion darauf, dass die neue Malerei die Aneignungs- und Gebrauchsprivilegien der Bourgeoisie aufkündigte. Über Jahrhunderte hinweg hatte die höhere Gesellschaft ihre soziale Stellung gegenüber den niederen Schichten ausdrücken wollen, und dies, wie unter anderem Pierre Bourdieu feststellte, auch über ihren exklusiven Zugang zur Kunst. Peter Bürger identifizierte mit Jürgen Habermas den bürgerlichen Kunstkonsum als die Befriedigung „residualer Bedürfnisse“.[4]
Ein gemeinsamer geografischer Ursprungspunkt von politischer und künstlerischer Revolution, ausgerechnet im politisch durchweg stabilen und reichen Zürich, ist mehr als frappierend. Hugo Ball, einer der Betreiber des Cabaret Voltaire und der Galerie Dada, Wiege des Dadaismus und somit der ersten Künstlergruppe, die den radikalen Kampf gegen die hergebrachte Kunst zu ihrem Programm erhob, notierte am 7. Juni 1917: „Seltsame Begegnisse: Während wir in Zürich, Spiegelgasse 1, das Kabarett hatten, wohnte uns gegenüber, in derselben Spiegelgasse, Nr. 6, wenn ich nicht irre, Herr Ulinow-Lenin. Er mußte jeden Abend unsere Musiken und Tiraden hören, ich weiß nicht, ob mit Lust und Gewinn. Und während wir in der Bahnhofstraße die Galerie eröffneten, reisten die Russen nach Petersburg, um die Revolution auf die Beine zu stellen.“[5]
Nachdem Lenin von Zürich aus im teilweise verplombten Zug Deutschland passieren durfte und mit seinen Mitstreitern in Petrograd die Revolution erfolgreich durchgeführt hatte, hatte er versprochen, eine neue Gesellschaft zu errichten. Basierend auf den Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels sollten die Produktionsbedingungen im ganzen Land umverteilt werden, das Privateigentum in die Hände des Proletariats überführt werden. Alle Fabrikbesitzer, die der Kollektivierung ihres Eigentums nicht zustimmten, wurden enteignet, bedroht, zur Emigration aufgefordert, getötet. Die Revolution machte Ernst mit der Errichtung einer neuen Gesellschaft. Zur Erreichung ihres Ziels setzte sie Gewalt gegen ihre Gegner ein. Dieser Augenblick erschien den Künstlerinnen und Künstlern ausgesprochen günstig für die Durchsetzung ihrer eigenen Theorien, wie Kunst fortan gemacht und konsumiert werden sollte. Gerade in Russland sahen sie die Prämissen für eine neue Kunst gegeben, welche sie mit derselben Verve durchsetzen wollten wie die politischen Revolutionäre. Auf das „Dekret Nr. 1 vom 28. Oktober 1917“, in welchem die Gründung des ersten exekutiven Organs des neuen Staates, der Rat der Volkskommissare unter dem Vorsitz Lenins, bekanntgegeben wurde, antworteten sie wenige Monate später mit einem analog betitelten „Dekret Nr. 1 über die Demokratisierung der Künste“, in welchem sie die Befreiung der Kunst aus den „Abstellkammern der menschlichen Schöpferkraft“ und ihre demokratische Rückführung auf „Häuserwände, Zäune, Dächer, […] Automobile, Equipagen und Straßenbahnen“ verkündeten.[6] Die Kunst sollte nun von allen kreativen Menschen für die Gemeinschaft produziert werden, finanziert durch den Staat, und in aller Öffentlichkeit zur Entfaltung gelangen. Die berühmten Massenchoreografien der jungen Sowjetunion, die von allen für alle gemacht wurden und nichts darstellten außer variierenden Anordnungen von Form und Farbe im öffentlichen Raum, waren die Einlösung dieser Art von Kunst. Die Künstler wollten weg vom privaten Kunstmarkt und den Klassenunterschiede aufrechterhaltenden Präsentationsorten, die etwa die Museen darstellten, weg von einer gegenständlichen Kunst, deren scheinheilige Sujets nur den bisherigen Nutznießern der alten Sozialordnung zugutekamen. Diese Forderungen artikulierten die europäischen Avantgardisten in einer Vielzahl von Manifesten und Traktaten. Wenige Monate nach Lissitzkys Plakat etwa, um nur eine weitere dieser Schriften zu zitieren, formulierten die deutschen Dadaisten George Grosz und John Hartfield, zu jener Zeit Mitglieder der KPD, die politische Nutzlosigkeit der alten Kunst in einem Aufruf an die Dresdener Arbeiterschaft folgendermaßen: Ein gegenständliches Bild von einem schönen Wald im Abendsonnenschein sei Propaganda zur Aufrechterhaltung der Besitzverhältnisse, da es verschleiere, dass dieser Wald Eigentum eines Privatbesitzers sei, „der ihn abholzt, wenn sein Geldschlot es erfordert, ihn aber umzäunt, damit Frierende darin sich kein Holz holen können“. Sie schlossen mit der Feststellung, es lasse sich „kaum annehmen, daß diese Bilder die Notwendigkeit der Vernichtung der alten und den Aufbau einer gerechten Welt predigen.“[7]
Lissitzky hatte ab 1910 Architektur in Darmstadt studiert, dabei Deutschland, Frankreich und Italien bereist. Als ihn der Kriegsausbruch 1914 zur Rückkehr nach Russland zwang, war sein Schaffen, das er zunächst in seiner Arbeit in Architekturbüros auslebte, ganz der neuen Kunst verpflichtet. Nachdem er sich am Ende des Krieges auf die Übersetzung der traditionellen jüdischen Kultur in eine zeitgenössische Formensprache konzentriert hatte und besonders jiddische Kinderbücher gestaltete, siedelte er im Mai 1919 ins heute weißrussische Vitebsk über, wo er die Sektion für Architektur, Grafik und Druck der von Marc Chagall gegründeten Volkskunstschule übernahm und seinen Vornamen von Lazar zu El änderte. Nachdem Lissitzky Kasimir Malewitsch eingeladen hatte, gründeten sie mit ihren Studierenden die Avantgardegruppe UNOVIS (Utverditeli Novogo Iskusstva / Die Befürworter neuer Kunst). Diese Gruppe, deren Mitglieder sich ein schwarzes Quadrat wie ein militärisches Corpsabzeichen auf ihre Ärmel nähten, fertigte in ihren Arbeiten Entwürfe für fast alle Aspekte des neuen Lebens, von Lebensmittelkarten über Kinderspielzeug und Haushaltsgegenständen bis zu Theateraufführungen, erfüllte aber auch Propagandaaufträge, mit denen die Künstler ihre Kunst- und Lebensauffassung der neuen Regierung empfehlen wollten.[8] In diesem Kontext, geografisch nahe den Fronten des russischen Bürgerkriegs gelegen, entstand auch das Propagandaplakat Mit dem rotem Keil schlage die Weißen.
Hier ist der passende Ort, um kurz über den Umgang mit einem Bild als Quelle für Historikerinnen und Historiker hinzuweisen. Wir wissen aus dem bisher Gesagten, dass Lissitzkys Plakat die Bolschewisten politisch unterstützen wollte, müssten diesen Umstand aber noch genau in der Quelle identifizieren. Dafür ist es wichtig, aufmerksam hinzuschauen. Was genau stellen die geometrischen Elemente auf dem Plakat dar? Auch wenn alle Formen eindeutig auf dem Plakat erkennbar sind, lohnt es sich, das Gesehene in Worte zu fassen. Der Keil ist dynamisch (sicher auch phallisch, aber dies wäre eine andere Untersuchung), der Kreis behäbig und träge wie ein von zu viel Wohlstand genährter Wanst. Folgt man dem roten Keil in seiner Bewegung, denn der Appell des Plakates ist unmissverständlich der Aufruf, sich in die Reihen der „Roten“ einzugliedern, sie größer und mächtiger werden zu lassen und damit den Keil weiter fortzutreiben, wird er in kurzer Zeit über den Mittelpunkt des Kreises hinaus bis an seine Grenze stoßen.[9] Was passiert dann in dieser „Erzählung“? Der weiße Kreis wird somit nicht mehr als eigenständiges geometrisches Element zu erkennen sein. In einem weiteren Schritt gilt es nun, eine Interpretation zu finden, bei der man das Visuelle wie eine Metapher in Worte fasst: Die reaktionären Teile der Gesellschaft, für welche die Weißen stehen, müssen in ihrer elementarsten Form zerstört werden, sie sollen nicht mehr erkennbar sein. Das Verschwinden ihrer geometrischen Form im Plakat soll die Tilgung ihrer sozialen Form als Klasse in der Gesellschaft bedeuten. Damit dies passiert, muss der neue Staat nicht nur die Klassenfeinde beseitigen, sondern mit ihnen auch ihre Kunst und die mit ihr verbundenen Aneignungsprivilegien auslöschen, damit von der Zivilisation der Bourgeoisie keine Spur mehr bleibt. Somit sollte klar werden, an wen sich der Aufruf des Plakats letztendlich richtete: Er galt zwar vordergründig der einfachen Bevölkerung, die sich freiwillig als Rotarmisten melden sollte, aber gerade im ländlichen Russland war Analphabetismus weit verbreitet und die Bevölkerung erst recht unerfahren mit der Lektüre von Bildern, die sie außerhalb der Kirchen und Wirtshäuser kaum zu Gesicht bekam, so dass kaum anzunehmen ist, sie würde Lissitzkys abstrakt formulierte visuelle Botschaft auf Anhieb verstehen. Das Plakat war vielmehr ein Aufruf an die Parteiführung, die alte, mit gegenständlichen Sujets arbeitende Kunst zu bekämpfen und die Errichtung der neuen Gesellschaft nicht mit der Umverteilung der Produktionsmittel aufhören zu lassen. Nein, es müsse eine neue visuelle Kultur, eine neue Zivilisation mit derselben Gewalt wie die Penetration und Zerstörung des weißen Kreises durchgesetzt werden, welche die neue, auf geometrischen Formen basierende Kunst in aller Öffentlichkeit und für die Gemeinschaft verbindlich werden lassen würde. Um es zusammenzufassen: Der neue Mensch braucht neue Augen. Das alte visuelle Kulturerbe muss einer neuen Formensprache weichen, nur dann kann der Neuanfang glücken, nur dann die Revolution vollständig gelingen.
Lissitzkys Plakat hatte keinen Erfolg und die mit ihm verbundenen Hoffnungen der russischen Avantgardekünstler erfüllten sich nicht. Wenig ist bekannt über die Aushängung des Plakates in der Öffentlichkeit, aber es liegt nahe, dass es nur selten eingesetzt wurde.[10] Der Parteiführung ging die Forderung der Avantgarde zu weit. Sie sah diese Anweisungen als ideologische Verfehlung (die Revolution sollte sich laut Marx und Engels an der Basis der Gesellschaft, nicht in ihrem Überbau vollziehen, zu dem die Kunst gehörte) und vermisste die Eindeutigkeit, welche die gegenständliche Illustration von Propagandalosungen für die Parteikontrolleure besser nachvollziehbar machte. Künstlerassoziationen, die sich der gegenständlichen Repräsentationsweise verpflichtet fühlten, um „den größten Augenblick der Geschichte in seinem revolutionären Elan künstlerisch-dokumentarisch festzuhalten […] in den monumentalen Formen und Stilen eines heroischen Realismus“[11], setzten sich bald aufgrund ihrer steigenden Mitgliederzahlen und des ästhetischen Unverständnisses der Parteifunktionäre für die neue Formsprache durch. Zudem ließen die immer aggressiver formulierten Forderungen der russischen Avantgarde die Künstler letztendlich bei der Parteiführung zu unliebsamen Subjekten werden. Der erste Absolventenjahrgang der Kunsthochschule in Vitebsk im Jahr 1922 sollte auch ihr einziger blieben. Enttäuscht von mangelnden finanziellen Subventionen verließen die Lehrenden die Stadt, die Gruppe UNOVIS löste sich auf, Lissitzky etwa ging nach Berlin. Bereits 1923 zeigte Lissitzky seinen Prounen-Raum, die erste abstrakte Installation der Kunstgeschichte, auf der Großen Internationalen Kunstausstellung in Berlin, nicht in der Sowjetunion, auch wenn er dort als einer der wenigen abstrakt arbeitenden Künstler selbst noch unter Stalin gelegentlich als Organisator von Ausstellungen (ohne abstrakte Kunst, versteht sich) geschätzt wurde. Im gleichen Jahr 1923 wurde auch im europäischen Ausland klar, wohin die ästhetische Reise in der Sowjetunion führte: zum sozialistischen Realismus. Ein Manifest von mehreren internationalen Künstlern der anti-gegenständlich arbeitenden Kunstbewegungen De Stijl und Dada resümierte: „So banal es an sich klingt, ist es im Grunde dasselbe, ob jemand ein rotes Heer mit Trotzky an der Spitze oder ein kaiserliches Heer mit Napoleon an der Spitze malt. Für den Wert des Bildes als Kunstwerk ist es aber gleichgültig, ob proletarische Instinkte oder patriotische Gefühle erweckt werden sollen. Das eine wie das andere ist, vom Standpunkt der Kunst aus betrachtet, Schwindel.“[12] Nach Stalins Machtergreifung setzte sich die schrittweise Abseitsstellung und Eliminierung der Avantgarden weiter fort und mündete 1934 in der Proklamation des sozialistischen Realismus als einzige Kunst auf dem Boden der UdSSR und in den Parteizentralen der ausländischen Kommunistischen Parteien. Mitte der 1930er-Jahre schöpften Künstler und Intellektuelle noch einmal kurz Hoffnung im Zuge des parteiübergreifenden, antifaschistischen Bündnisses der Volksfront. Zur Gewinnung von nicht-kommunistischen Mitstreitern tolerierten die KPs außerhalb der Sowjetunion die Abstraktion aus taktischen Gründen, ohne sie jedoch nachhaltig zu unterstützen. Der Traum von einer Zusammenführung von neuer Sozialordnung und neuer Formensprache aber war längst geplatzt, wie sich spätestens 1939 mit dem unerwarteten Ende der Volksfront offenbarte: Die Angleichung der UdSSR und des Deutschen Reiches in einem plumpen heroischen Realismus als einzig erlaubte Kunstform um 1934 nahm den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 ästhetisch bereits vorweg.
Was von den anfänglichen Visionen der Avantgardekünstler blieb, ist der Wille zur totalen Durchdringung der Gesellschaft, zu ihrer gewaltsamen Umerziehung. Boris Groys zieht in seinem Buch Gesamtkunstwerk Stalin von 1988 eine direkte Parallele vom Anspruch der Avantgarden auf die totale Gestaltung der Gesellschaft zum Totalitarismus der Stalin-Diktatur, wenn auch unter entgegengesetzten ästhetischen Vorzeichen. Lissitzkys Plakat mit seinem visuellen statt verbalen Appell, der sich mehr an die Parteiführung als an die Bevölkerung richtete, ist Zeugnis für eine weitere Utopie, die zu einer bestimmten Zeit mit dem Kommunismus verbunden war, und wirkt heute wie ein Kenotaph für die Möglichkeit, welche Art von Gesellschaft hätte entstehen können. Gemessen an den unzähligen Opfern von Stalins Regierung scheint die Absage an die Abstraktion als Staatskunst der UdSSR ein eher harmloses Detail. Aber dieser Sachverhalt ist ein nicht unerheblicher Indikator dafür, worum es den Politikern eigentlich ging und worum nicht. Natürlich war es ein Experiment mit ungewissem Ausgang, das die russischen Künstlerinnen und Künstler wie etwa Wladimir Tatlin, Alexander Rodschenko oder Warwara Stepanova unter dem Beifall ihrer europäischen Avantgarde-Genossen vorschlugen, als sie die Beseitigung des gegenständlichen Bildes zugunsten einer abstrakten Formensprache in allen Teilen des weiten Russlands forderten: Alle Menschen sollten die Chance erhalten, vom selben Nenner aus zu starten, wenn alle vom Menschen gemachten Bildwerke auf in der Natur vorkommenden geometrischen Elementen basieren würden. Niemand wäre seinem Nachbarn durch Vorwissen überlegen, wie eine Szene zu deuten wäre. Affekte sollten nicht mehr manipulierend eingesetzt werden, nur noch Form und Farbe für alle. Ob dies eine bessere Welt geworden wäre, kann man nicht wissen. Es erscheint so jedoch umso deutlicher, dass die kommunistischen Parteifunktionäre nach der Festigung ihrer Macht nur noch wenig Interesse daran hatten, den Versuch für eine bessere Welt überhaupt zu wagen.
[1] Essay zur Quelle: El Lissitzky: Mit dem roten Keil schlage die Weißen (1919/1920). Dieser auf die Quelle bezogene Essay basiert auf Ergebnissen aus meinem Buch, Dalís 20. Jahrhundert. Die westliche Kunst zwischen Politik, Markt und Medien, Berlin 2015, in dem der Zusammenhang von Kunst und Politik in größerer Komplexität und Bandbreite vorgestellt und analysiert wird.
[2] So gesehen von Glukhova, Sofiya, „El Lissitzky. Frappe les Blancs avec le coin rouge“, in: Lampe, Angela (Hg.), Chagall, Lissitzky, Malévitch, l'avant-garde russe à Vitebsk, 1918–1922, Ausst.-Kat. Centre Pompidou, Paris 2018, S. 96f.
[3] Zahlreiche Beispiele finden sich etwa bei Kämpfer, Franz, „Der rote Keil“. Das politische Plakat – Theorie und Geschichte, Berlin 1985.
[4] Bürger, Peter, Theorie der Avantgarde, Frankfurt am Main 1974, S. 33, greift eine Formulierung von Jürgen Habermas auf.
[5] Ball, Hugo, Die Flucht aus der Zeit [1927 erschienen], zit. in: Scholz, Dieter, Pinsel und Dolch. Anarchistische Ideen in Kunst und Kunsttheorie 1840–1920, Berlin 1998, S. 318. Ball war jedoch anarchistischer Gesinnung und formulierte im selben Dokument einen Parallelismus, in dem die Bolschewiken und Dada sich als Antipoden gegenüberstanden wie ihre Vorreiter Karl Marx und Michail Bakunin.
[6] Majakowski, Wladimir; Burljuk, Dawid; Kamenski, Wassili, Dekret Nr. 1 über die Demokratisierung der Künste [1918], zit. in: Montua, Gabriel, Dalís 20. Jahrhundert, S. 45.
[7] Heartfield, John; Grosz, George, Der Kunstlump [1920], zit. in: Montua, Dalís 20. Jahrhundert, S. 33.
[8] Shatskikh, Aleksandra, Vitebsk. The Life of Art, New Haven 2007, S. 57–68. Lampe, Angela (Hg.), Chagall, Lissitzky, Malévitch.
[9] Siehe die etwas knappere Beschreibung bei Stöppel, Daniela, Visuelle Zeichensysteme der Avantgarden 1910 bis 1950, München 2008, S. 158f.
[10] Ein Ausstellungskatalog zu einer El Lissitzky-Retrospektive beschreibt das ephemere Dasein dieses Plakates, das sehr schnell verschwand. Auch der Künstler besaß keine Ausführungen davon und stieß 1925 zufällig auf ein beschädigtes Exemplar. Ferner heißt es: „There is some doubt as to whether any original has survived, with the probable exception of the copy in the Lenin Library“, der heutigen Russischen Staatsbibliothek in Moskau. Hier wird das Plakat auf Sommer 1920 datiert. Nisbet, Peter, El Lissitzky 1890–1941, in: Harvard Busch-Reiniger Museum; Sprengel Museum Hannover; Staatliche Galerie Moritzburg (Hgg.), Ausst.-Kat., Halle 1987, S. 182.
[11] Aus den Statuten der Assoziation der Künstler des revolutionären Russlands (AChRR), zit. in: Drengenberg, Hans-Jürgen, Die sowjetische Politik auf dem Gebiet der bildenden Künste von 1917 bis 1934 (Historische Veröffentlichungen des Osteuropa-Instituts an der Freien Universität), Berlin 1972, S. 40.
[12] Van Doesburg, Theo et al., Manifest Proletkunst [6. März 1923], in: Montua, Dalís 20. Jahrhundert, S. 57.
Literaturhinweise
Drengenberg, Hans-Jürgen, Die sowjetische Politik auf dem Gebiet der bildenden Künste von 1917 bis 1934 (Historische Veröffentlichungen des Osteuropa-Instituts an der Freien Universität Berlin), Berlin 1972.
Groys, Boris, Gesamtkunstwerk Stalin. Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion, München 1988.
Lampe, Angela (Hg.), Chagall, Lissitzky, Malévitch, l'avant-garde russe à Vitebsk, 1918-1922, Ausst.-Kat. Centre Pompidou, Paris 2018
Montua, Gabriel, Dalís 20. Jahrhundert. Die westliche Kunst zwischen Politik, Markt und Medien, Berlin 2015.
Shatskikh, Aleksandra, Vitebsk. The Life of Art, New Haven 2007.
Stöppel, Daniela, Visuelle Zeichensysteme der Avantgarden 1910 bis 1950, München 2008.